Eckart Stief
Hermann-Hesse-Straße 50, 67663 Kaiserslautern
Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt, Berlin (Insel TB) 2012 (7. Aufl. 2013), 330 Seiten mit 11 SW-Fotos
Mit wem hätten Sie gerne mal ein Gespräch, einen Gedankenaustausch, bei einem Abendessen vielleicht? – Mir wurde diese Frage nie gestellt und sicher hätte ich mit einer Antwort auch verlegen gezögert. Seit Sommer dieses Jahres weiß ich es.
Leider wird es zu einem solchen Treffen nicht mehr kommen können, denn die Person, um die es geht, ist gestorben als ich gerade mein Studium aufnahm und begann, die Welt zu erkunden. Als junger Student der Politikwissenschaft sind mir ihr Name und ihre Schriften bald begegnet – ohne zu ahnen, welche Persönlichkeit sich dahinter verbirgt.
Johanna Arendt, genannt Hannah, 1906 geboren in Hannover, aufgewachsen in Königsberg, 1975 gestorben in New York – Deutsche und Jüdin, Theologie- und Philosophiestudentin und Doktorandin, Exilantin, Internierte und Flüchtling, Philosophin und Querdenkerin, Amerikanerin und Professorin, Bescholtene und Hochgelobte … Ihre knapp sieben Lebensjahrzehnte bewegen sich vor gewaltiger Kulisse im 20. Jahrhundert. Ein befreundeter Professor sagte mir oft, er lese nichts lieber als Biographien – bislang konnte ich das nicht so recht verstehen, nach der Lektüre dieser eher für junge Menschen geschriebenen Lebensbeschreibung von Alois Prinz, Schriftsteller, Journalist und (privat) „Pfarrmann“ aus Bayern, kann ich es nachvollziehen.
Prinz hat für sein Buch gut recherchiert, er bietet in der Tat eine Darstellung „anschaulich, spannend wie ein Roman“ (Der Tagesspiegel) und stellt unverkrampft und in keiner Weise moralisierend den Weg und das Werden einer überaus faszinierenden Denkerin in den Umbrüchen der Neuzeit dar. Dabei verbindet er persönliches Schicksal mit historischen Ereignissen und bietet Anschauungsunterricht in Sachen Zeitgeschichte.
Sein Bericht beginnt mit der Schilderung eines schweren Autounfalls, den Hannah Arendt 1962 in New York schwer verletzt überlebt. Auf dem Krankenlager lässt er sie Jahrzehnte und Stationen ihres Lebens durchgehen. Dass sie Jüdin ist, säkularisiert wie fast die ganze Familie, erfährt sie erst auf den Königsberger Straßen. Studienjahre in Marburg und Heidelberg, heute bekannt (damals bestens verheimlicht) die Affäre mit ihrem akademischen Lehrer Martin Heidegger, verheiratet und Vater zweier Söhne, Promotion bei Karl Jaspers – Beginn einer lebenslangen Freundschaft.
Exil in Paris, wie so viele andere (besondere Beziehung zu Hans Jonas und Walter Benjamin). Begegnung mit der zionistischen Bewegung, erste Reise als Jugendsekretärin nach Palästina 1935. Doch mit dem zionistischen Ziel eines eigenen jüdischen Staates kann sie sich nicht anfreunden. Rückkehr nach Paris und Kennenlernen des ehemaligen Berliner KPD-Mitglieds und kosmopolitischen Intellektuellen Heinrich Blücher, den sie 1940 kurz vor ihrer Deportation ins französische Internierungslager heiratet, Beginn einer glücklichen Beziehung.
Das „Camp de Gurs“ in der französischen Ortschaft Gurs am Westrand der Pyrenäen war bereits vor dem 2. Weltkrieg das größte französische Internierungslager. Wie insbesondere Pfälzerinnen und Pfälzer wissen, wurde es vom NS-Regime in späteren Jahren als Konzentrationslager genutzt. Prinz berichtet über das Lagerleben, das die Menschen, auch Hannah Arendt, dort durchzustehen haben, beschreibt katastrophale hygienische Zustände, unzureichendes Essen, sinkenden Lebensmut und unbeugsamen Selbstbehauptungswillen. Mit etwa zweihundert Frauen gelingt Hannah Arendt dann auch die Flucht, wenige Monate später der Dampfer von Lissabon nach New York – fast ein Wunder. Ankunft in Amerika mit 50 Dollar in der Tasche.
Nach anfänglicher Armut und (schnellem) Erlernen der englischen Sprache findet sie Arbeit als Lektorin und später als Geschäftsführerin einer jüdischen Kultureinrichtung. Die Enthüllung über das tatsächliche Ausmaß des Holocausts ist für sie ein Schock. Sie beginnt zu schreiben, wird nach langen Jahren der Flucht und Emigration amerikanische Staatsbürgerin. Über vier Jahre arbeitet sie an dem Buch The Origins of Totalitarianism (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1950) – bekannt ihre darin geäußerte Ansicht über das „radikal Böse“, später im Zusammenhang ihrer Berichterstattung über den Eichmann-Prozess in Jerusalem und beeinflusst durch dessen Verlauf modifiziert zur Vorstellung von der „Banalität des Bösen“ (1962), Prinz fasst die sich anschließende Kontroverse zusammen wie auch die Hauptaussagen der Origins (S. 135ff. und 242ff.). Das alles ist auch für Theologinnen und Theologen interessant.
Das Totalitarismusbuch macht sie quasi über Nacht bekannt. Einladungen nach Princeton und Berkeley nimmt sie an, gerne arbeitet sie mit Studentinnen und Studenten. Ab 1963 eine Professur in Chicago. Doch noch wichtiger ist für sie die Zeit zum Schreiben. Von manchen wird ihr 1960 erschienenes Buch „Vita Activa – oder Vom tätigen Leben“ als ihr philosophisches Hauptwerk angesehen, in dem sie darüber nachdenkt, „was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind“. Auch hier gelingt Prinz eine verständliche Zusammenfassung (S. 219ff.).
Merkwürdig und wohl kein Zufall, dass Hannah Arendt, die politisch denkende Existenzphilosophin (so könnten wir sie bezeichnen), in diesen Tagen gewissermaßen neu entdeckt wird. Ihre Schriften, in Deutschland meist bei Piper verlegt, erleben erstaunliche Auflagen. Zuletzt der Spielfilm „Hannah Arendt“ von Margarethe von Trotta, der Anfang des Jahres Premiere in deutschen Kinos hatte. Barbara Sukowa spielt Arendt, Axel Milberg ihren Mann Heinrich Blücher. Dieser Film ist wohl auch der Grund, weshalb die Biographie von Alois Prinz im Insel-Verlag eine Neuausgabe erfahren hat (erstmals ist sie bereits 1998 unter dem Titel „Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt“ erschienen und 2001 mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet worden).
„Hannah Arendt wollte immer ‚ohne Geländer’ denken. Das machte sie für viele ‚unentschuldbar unabhängig’. Und so ist es wirklich nicht leicht zu sagen, wer sie eigentlich war. Eine Dichterin? Eine Philosophin? Sie selbst schreibt in einem Brief: ‚Ich fühle mich als das, was ich nun einmal bin, das Mädchen aus der Fremde’“ (Prinz, S. 12).
Ein Abendessen mit ihr ist nicht mehr möglich. Gleichwohl freue ich mich doch auf eine Begegnung mit ihr und ihren bestechend klaren und aktuellen Gedanken. So plant das ESG-Zentrum Kaiserslautern gegen Ende des Wintersemesters einen Hannah-Arendt-Abend mit Film und einer Diskussionsrunde mit dem Pädagogen und Erwachsenenbildner Prof. Dr. Rolf Arnold.
Dienstag, 28.01. um 20.00 Uhr: „Hannah Arendt oder Denken ohne Geländer“ – Abend der Begegnung mit einer der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts.
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