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Prof. Dr. Gerald Kretzschmar

Ev.-theol. Fakultät, Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen

Vorbemerkung: Was ich gleich über Bildung im Allgemeinen und religiöse Bildung im Speziellen sagen werde, kann ich auf diese Weise nur sagen, weil mich die Mitarbeit in der kleinen Projektgruppe zum Thema Bildung hier in der evangelischen Kirche der Pfalz hinsichtlich des Bildungsthemas auf vielfältige Weise angeregt hat. Die Arbeit in der Arbeitsgruppe hat in mir in gewisser Weise so etwas wie einen Bildungsprozess in Sachen Bildung angeregt. Ich freue mich, heute mit Ihnen über das Bildungsthema ins Gespräch zu kommen und mit Ihnen gemeinsam ein Stück Weg beim Nachdenken über Bildung zu gehen. Lange Rede, kurzer Sinn: Was ich Ihnen gleich präsentiere, ist eine – hoffentlich anregende – Mischung aus unserer gemeinsamen Arbeit in der Gruppe und meinen eigenen Überlegungen.

Mein Impuls gliedert sich in zwei Teile: Teil I befasst sich mit dem Thema Bildung im Allgemeinen, Teil II mit religiöser Bildung im Speziellen.

Was ist Bildung?

Bildung ist ein großer Begriff, hinter dem ein komplexer Sachverhalt steht. Auf dieser Basis haben wir in der Arbeitsgruppe versucht, uns der Weite des Bildungsbegriffs anzunähern. Wollte man versuchen, den Begriff Bildung und die dahinterstehenden vielfältigen Dimensionen und Phänomene vollständig zu erfassen, wäre das wohl unmöglich. Um dennoch über Bildung reden, nachdenken und gestalterisch tätig sein zu können, ist es aus meiner Sicht hilfreich, Bildung als diskursiven Sachverhalt zu verstehen.

Als diskursiver Sachverhalt ist damit Bildung im Allgemeinen, aber auch religiöse Bildung, von denjenigen, die in einen spezifischen Bildungskontext involviert sind, je eigens zu erschließen. Das heißt, nicht nur Organisationen, Institutionen, Behörden und die von ihnen verantworteten Bildungsaktivitäten sind als bildungsrelevanten Größen zu verstehen. Nein, berücksichtigt werden müssen alle Personen, Organisationen, Einrichtungen und so weiter, die explizit oder potenziell in einen spezifischen Bildungskontext involviert sind, wie zum Beispiel in unser gemeinsames Nachdenken über Bildung in der evangelischen Kirche der Pfalz. Damit sind neben Bildungsorganisationen und -einrichtungen innerhalb und außerhalb der Kirche auch alle Menschen mit eingeschlossen, auf die sich das Bildungshandeln von Organisationen und Einrichtungen beziehen soll.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund Bildung als diskursiven Sachverhalt, können Bildungsprozesse im Gefüge von Bildungsanbietern und Bildungsrezipienten unter keinen Umständen anhand des Modells des sogenannten Nürnberger Trichters organisiert werden. Diesem Modell liegt ein Bildungsverständnis zugrunde, das Menschen als zu bildende Objekte betrachtet, die sich von außen vorgegebene Inhalte und Fertigkeiten unter Absehung der eigenen Kompetenzen und der je eigenen lebensweltlichen Bezugspunkte aneignen sollen. Ein diskursives Bildungsverständnis basiert nicht auf einem hierarchischen Subjekt-Objekt-Gefälle in dem schlichten Sinn, dass auf der eine Seite Lehrende und auf der anderen Seite Belehrte stehen. Vielmehr begreift es alle in den Diskurs über Bildung Involvierten als Akteurinnen und Akteure auf Augenhöhe.

In Bezug auf die Frage nach Orten und Gelegenheiten, an und bei denen sich Bildung ereignet, hat das zunächst zur Konsequenz, dass diese Orte und Gelegenheiten in der Lebenswelt der Einzelnen beziehungsweise des Einzelnen sowie deren sozialen Kontexten platziert sind. Hier werden alle in einen Bildungsprozess Involvierten ihrer eigenen Bildungskompetenzen gewahr und bringen diese in ihre lebensweltlichen Bezüge eigenständig ein. Bildung unter Absehung der eigenen Kompetenzen und der je eigenen lebensweltlichen Bezugspunkte derjenigen, die in einen Bildungsprozess involviert sind, ist bei einem diskursiven Bildungsverständnis ausgeschlossen.

Worin kann auf der Grundlage eines diskursiven Bildungsverständnisses das Ziel von Bildung bestehen? In der Arbeitsgruppe sehen wir dieses Ziel in einer inhaltlichen Selbstbestimmung in Sachen Bildung mit dem Ziel einer allseitigen Persönlichkeitsbildung. In diesem Sinn ist Bildung mehr als Wissen. Wird Bildung auf den Erwerb von Wissen reduziert, schränkt sich ihre Funktion darauf ein, das Funktionieren der Subjekte im gesellschaftlichen System sicherzustellen. Bildung im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung wird dadurch eher verhindert, als gefördert. Nur ein mehrdimensionales Bildungsverständnis kann dagegen so etwas wie Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen. Als bildungsrelevante Dimensionen können die soziale, die kognitive, die ethische, die musisch-ästhetische, die emotionale, die religiöse Dimension genannt werde – und vermutlich noch eine Menge weitere Dimensionen.

Bei aller Subjektorientierung und Bezogenheit auf je individuelle Lebenswelten darf jedoch nicht übersehen werden, dass ein diskursives Bildungsverständnis nur dann angemessen zu begreifen ist, wenn man es als sozial konfiguriertes Phänomen betrachtet. Bildung im Sinne eines reflexiven, wechselseitigen Lernens ist nur im Miteinander und im Austausch mit anderen Menschen möglich. Gemeinschaftliches Lernen knüpft an den sozialen Kompetenzen der Subjekte an und bildet diese weiter aus.

Bei einem diskursiven Bildungsverständnis ist es wichtig, dass die Kategorien Subjekt und Gemeinschaft nicht gegeneinander ausgespielt werden. Maßgeblich ist der Ansatz beim Subjekt, bei seiner Lebenswelt, bei seinen Kompetenzen. Erst nach der Wahrnehmung dieser Faktoren kann Bildung gruppenförmig und interaktiv erfolgen. Das Subjekt muss sich wahr- und ernstgenommen fühlen, um sich für andere Subjekte zu öffnen und gegebenenfalls für eine gewisse Dauer in Gemeinschaft mit ihnen zu treten. Gemeinschaftsbildung auf dieser Grundlage ist somit konsequent subjektorientiert und mündet auf dieser Grundlage in – um es mit Friedrich Niebergall zu sagen – eine Gemeinschaft der Persönlichkeiten. Starke Persönlichkeiten sind die Voraussetzung für funktionierende Gemeinschaften, so könnte man die Logik dieses Gedankens zusammenfassen.

Als so etwas wie ein Extrakt des bisher zu einem diskursiven Bildungsverständnis Vorgetragenen kann meines Erachtens eine Notiz in einer Kartensammlung unserer Arbeitsgruppe dienen. Dort wurde festgehalten: „Bildung zielt auf Erkenntnis von und Handlungsfähigkeit in Wirklichkeit und auf die freie, selbsttätige Erkenntnis und Anpassung eines Subjekts an seine ihm bestimmte Wahrheit“. In diesem Sinn kann Bildung als Kunst der Lebensführung verstanden werden. In Bezug auf die Haltung und die Atmosphäre in den Kontexten, in denen Bildungsprozesse in dem bisher geschilderten Sinn stattfinden sollten, kann man ausgehend von diesem Zitat vielleicht gut das Moment der Freude ins Spiel bringen. Wenn Entwicklung durch Bildung als etwas Schönes, weil Befreiendes, wahrgenommen wird, das Freude macht, wäre das doch eine sehr gute Bedingung für das Gelingen von Bildung. Bildung in diesem Sinn sollte allen Menschen gleichermaßen offenstehen und zugänglich sein. Bildungsgerechtigkeit spielt bei einem diskursiven Bildungsverständnis eine tragende Rolle.

Was ist religiöse Bildung?

Einem diskursiven allgemeinen Bildungsverständnis entsprechend ist auch das Feld der religiösen Bildung weit zu fassen. Religiöse Bildung beschränkt sich nicht auf den Erwerb spezifischen religiösen Wissens in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen oder eigens darauf zielenden Praxisformen. Vielmehr ist religiöse Bildung in reformatorisch-protestantischer Perspektive eine Querschnittsdimension, die das gesamte kirchliche Leben und Handeln durchzieht. 

Stellt man die Frage, was das Spezifikum religiöser Bildung sein kann, dann lässt sich diese als christlich perspektivierte religiöse Bildung bestimmen, wie sie sich im Umfeld und in der Verantwortung kirchlicher Organisationen und Akteure ereignet. So gesehen wäre Bildung im kirchlichen Kontext alles, was Menschen in die Lage versetzt, als Christin oder Christ in den je eigenen Lebenszusammenhängen zu leben.

Geht man bei der Konkretion des Spezifikums religiöser Bildung noch einen Schritt weiter, dann kann man meines Erachtens gut den Versuch wagen, im Kontext der Bildungsüberlegungen der Evangelischen Kirche der Pfalz alle Inhalte zu berücksichtigen, die in Übereinstimmung mit dem biblischen Zeugnis auf ein individuelles wie auch gemeinschaftliches Leben zielen, für das die Attribute „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Bewahrung der Schöpfung“ maßgeblich sind.

Religiöse Bildung im kirchlichen Kontext zielt somit nicht auf die Motivation zur Teilnahme an Gottesdiensten oder anderen kirchlichen Veranstaltungen, und auch nicht auf die Konsolidierung der Kirchenmitgliedschaft. Stattdessen geht es um das weite Feld der Persönlichkeitsbildung – im christlichen Sinne.

Legt man dieses weite Verständnis religiöser Bildung im kirchlichen Kontext zugrunde, dann kann sich eine evangelische Landeskirche wie die Evangelische Kirche der Pfalz bildhaft gesprochen als so etwas wie eine Bildungsdienstleisterin verstehen, die, ganz in Sinn von religiöser Bildung als Querschnittsdimension, mit all ihren Formen von Präsenz und Handeln in der Gesellschaft religiöse Bildungsarbeit leistet.

Man kann nun fragen, ob eine solche religiöse Bildungsarbeit in der gegenwärtigen säkular geprägten Gesellschaft überhaupt möglich ist. In Bezug auf diese Frage ist es von entscheidender Bedeutung, dass das kirchliche Handeln in den unterschiedlichsten Kontexten als positive Form der Persönlichkeitsbildung erlebt wird. Ein konkreter Anhaltspunkt, der darauf hindeutet, dass Kirche zumindest in einem bestimmten kirchlichen Praxiskontext tatsächlich auf eine solch positive Weise als bildend wahrgenommen wird, kann in der Situation gesehen werden, dass der evangelische Religionsunterricht in stetig wachsendem Maß auch von konfessionslosen und nichtchristlichen Schülerinnen und Schülern besucht wird. Die Familien trauen der evangelischen Kirche in Sachen Bildung offenbar einiges zu – zunächst einmal unabhängig von einer religiösen oder gar konfessionellen Verortung.

Was können nun kirchliche Organisationen (Einrichtungen, Kirchengemeinden etc.) tun, um religiöse Bildung zu vermitteln? Hier ist zunächst eine Vergewisserung über das Selbstverständnis kirchlicher Organisationen notwendig: Religiöse Bildung, die einem diskursiven Bildungsverständnis folgt, findet dann statt, wenn sich religiöse Organisationen im Zusammenhang mit ihrem Bildungshandeln nicht als starke, sondern als „schwache“ Organisationen betrachten. „Schwach“ meint in diesem Zusammenhang, dass sie sich nicht im Vollbesitz gleichsam perfekter religiöser Bildung begreifen sollten, die sie in möglichst großer Menge unverfälscht an Menschen weitergeben. Das wäre dann eine irrtümlich verstandene Stärke, die im Effekt nicht zu Bildung, sondern zu einer unreflektiert angeeigneten Reproduktion externer Wissensbestände führt, die für das Leben der Menschen mehr oder minder irrelevant sind.

Nein, das Verständnis einer „schwachen“ Organisation meint stattdessen, dass sich die auf Bildung bedachte kirchliche Organisation als Bildungsdienstleisterin mit ihrem Bildungshandeln dezent im Hintergrund hält. Aus einer solchen Position heraus kann sie feinfühlig Bildungsprozesse initiieren, Reize setzen und behutsam flankieren. Das alles in dem Sinn, dass nicht irgendwelches Wissen möglichst umfassend von A nach B transportiert wird – Stichwort: Nürnberger Trichter –, sondern dass die Subjekte ihrer eigenen Bildungskompetenzen gewahr werden und sie diese in ihrer je eigenen Lebenswelt eigenständig nutzen.

Der Diskurs, der Austausch, das eigene Lernen durch Erfahrung und deren Reflexion sind dann die Phänomene und Praxisformate, die für das oben entfaltete Bildungsverständnis stehen. Wenn Bildungskommunikation kein Einbahngeschehen ist, sondern alle an dieser Kommunikation beteiligten Akteure gleichermaßen Sender und Empfänger von Kenntnissen und Erkenntnissen sind, dann wird Bildung zu einem Erlebnis, das allen, die daran beteiligt sind, ziemlich sicher Freude bereitet und positive Lebensperspektiven eröffnet.

Unter Umständen können digital orientierte Kommunikationsformen, bei denen alle Beteiligten Sender und Empfänger zugleich sind, eine solche Bildungskommunikation im kirchlichen Bereich fördern.

Die Organisationsform eines gebildeten Protestantismus wäre meines Erachtens die einer „schwachen“ Organisation, die gerade durch diese Schwäche ihre Stärke erlangt.

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