„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“*

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Dr. Johann Weusmann
Hans-Böckler-Straße 7, 40476 Düsseldorf

Diese Worte soll Martin Luther im Jahr 1521 vor dem Reichstag in Worms gesagt haben. „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Ob Luther das wirklich so gesagt hat, ist nicht erwiesen. Franz Etzin zitiert in seinem Buch „Martin Luther – Sein Leben und sein Werk“, das zum 400. Reformationsjubiläum erschienen ist, aus den Verhandlungen vom 17. und 18. April 1521 in Worms. Danach formulierte Luther so: „deshalb kann und werde ich nichts widerrufen, weil es nicht ratsam ist, etwas wider das Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen!“ [1]

Wie Luther seine Position nun genau formuliert haben mag, kann dahinstehen. Jedenfalls sind seine damaligen Standpunkte der Grund, warum wir im Themenjahr „Reformation und Politik“ auf das Verhältnis von Kirche und Staat, Obrigkeit und Mündigkeit, Glaube und Macht, Gewissensfreiheit und Menschenrechte blicken.

Luthers Disput vor dem Reichstag in Worms steht für diese Wortpaare des beginnenden Themenjahrs. In Worms kamen damals weltliche und kirchliche Herrscher zusammen, um zu erreichen, dass Martinus Luther sich von seinen Schriften distanziert. Denn seine reformatorischen Erkenntnisse waren geeignet, ihre Macht zu untergraben. Zu den Schriften, von denen Luther sich 1521 distanzieren sollte, gehörte u.a. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Aus 1. Korinther 9 und Römer 13 folgerte Luther „1. Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. 2. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Luther hielt Vorlesungen über die Briefe an die Römer und über die Psalmen. Dabei widerlegte er die von der Kirche vertretene Lehre, dass sich die Menschen die Vergebung der Sünden durch ihre eigenen Werke verdienen könnten. Und jetzt sollte er in Worms widerrufen. Das konnte Luther mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Er wollte sich deshalb nur beugen, wenn er „durch Zeugnis der Schrift überwunden werde“.

Das war damals revolutionär. Und in der Tat veränderte die maßgeblich von Luther, Calvin, Zwingli und Melanchthon mit unterschiedlichen Akzenten vorangetriebene Reformation das geistige Leben. Historisch gesehen stellt sie den Wendepunkt zur modernen Gesellschaft der Neuzeit dar. Sie hatte tiefgreifende Auswirkungen auf alle Gebiete des Lebens: Ehe und Familie, Schule und Hochschule, Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst, Musik, Literatur, Malerei – aber ganz besonders eben auch auf Staat und Gesellschaft.

Wie hätte sich die Geschichte in der Folgezeit entwickelt, wenn es die Reformation nicht gegeben hätte? Gäbe es heute diese Trennung von Staat und Kirche? Wäre das Bildungswesen auf wenige Privilegierte beschränkt geblieben? Hätten Meinungs- und Gewissensfreiheit die ihnen heute zugeschriebene Bedeutung erlangt? Wäre die Unantastbarkeit der Menschenwürde zur Grundnorm der Menschenrechte geworden? Hatte sich das Sozialstaatsprinzip so entwickelt wie wir es heute kennen? Gäbe es die Grundsätze der Demokratie und der Subsidiarität in ihrer heutigen Gestalt?

Die Reformatoren haben sich im Vertrauen auf Gott und im Wissen, dass auch Papst und Konzilien sich irren können, auf ihre Erkenntnisse aus der Heiligen Schrift verlassen. Martin Luthers 95 Thesen – ob er sie nun eigenhändig an die Schlosskirche geschlagen hat oder nicht – sind ein eindrucksvoller Beleg dafür. Es war aber auch Luthers Anliegen, dass jedes Gemeindeglied in der Lage sein sollte, die Bibel selbst zu lesen. Hier hat das „Priestertum aller Gläubigen“ seinen Ursprung.

Die Reformation ist im 16. Jahrhundert nicht zu Ende gekommen. Vielmehr zeigt die Kirchengeschichte, dass es immer wieder Situationen gibt, in der sich die Kirche herausgefordert sieht, Stellung zu beziehen, um ein richtungweisendes Zeichen zu geben. Das gilt mit Blick auf die Kirche selbst: „Ecclesia semper reformanda“. Das gilt aber auch mit Blick auf ihr Zeugnis in Staat und Gesellschaft.

In diesem Zusammenhang kommen mir zwei kirchengeschichtlich bedeutsame Ereignisse in den Sinn, die im kommenden Jahr ein Jubiläum feiern. Sie haben jeweils zu thesenartigen Erklärungen seitens der Kirche geführt. Und sie gehören für mich aufgrund ihrer Inhalte beide eng zum Themenkomplex „Reformation und Politik“.

Die erste Erklärung stammt von der ersten ökumenischen Versammlung, die sich 1989 in Basel unter dem Motto „Frieden in Gerechtigkeit“ traf. Für die Entwicklung des Konziliaren Prozesses, also des gemeinsamen Lernweges christlicher Kirchen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, war das ein herausragender Meilenstein.

Erstmals kam in Basel eine gesamtchristliche Versammlung aus Orthodoxen, Anglikanern, Lutheranern, Reformierten, Freikirchen und Friedenskirchen sowie des europäischen Rates der römisch-katholischen Bischofskonferenzen zusammen. Ausgangspunkt dieses Ereignisses war das Jahr 1983, als die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver die Stationierung von Massenvernichtungswaffen diskutierte und als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnete. In einer entscheidenden gesellschaftlichen Debatte traten die Kirchen in ökumenischer Verbundenheit für Frieden und Gerechtigkeit ein und meldeten sich gemeinsam vernehmlich zu Wort.

Ich erinnere mich noch gut an die lebhaften Debatten zur Frage des Status Confessionis, die in Deutschland vor allem durch den Reformierten Bund befördert wurde. Seine Erklärung mit dem Titel „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche“ sorgte für leidenschaftliche Diskussionen und innerkirchliche Kontroversen. In der Kirche wurde der Frieden zur Bekenntnisfrage. Und auf den Straßen gab es nach dem sogenannten „Nato-Doppelbeschluss“ die größten Demonstrationen, die die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit je erlebt hatte.

Wie stark der Frieden 1983 bedroht war und für wie groß die Gefahr eines neuen Weltkriegs mit Massenvernichtungswaffen tatsächlich gehalten wurde, belegt ein kürzlich in England veröffentlichtes Dokument. Es ist der Entwurf einer nie gehaltenen Rede der Königin von England, datiert auf den 4. März 1983. Mit dieser Rede sollte die Queen die Nation auf einen bevorstehenden neuen Krieg in Europa vorbereiten.

Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver und die europäische Ökumenische Versammlung mündeten damals in die globale ökumenische Weltversammlung des Jahres 1990 in Seoul. Unter Beteiligung aller christlichen Konfessionsfamilien wurden dort zehn Grundüberzeugungen verabschiedet, die zusammenfassen, was Christinnen und Christen denken und sagen. Diese zehn Grundüberzeugungen will ich kurz aufzählen. Sie handeln davon, dass

1. alle Ausübung von Macht vor Gott verantwortet werden muss,

2. Gott auf der Seite der Armen steht und Armut ein Skandal und ein Verbrechen ist,

3. alle Rassen und Völker gleichwertig sind,

4. Mann und Frau nach dem Bilde Gottes geschaffen sind,

5. Wahrheit zur Grundlage einer Gemeinschaft freier Menschen gehört,

6. Gerechtigkeit die einzig mögliche Grundlage für einen dauerhaften Frieden ist,

7. Gott die Schöpfung liebt, 

8. die Erde Gott gehört,

9. die Würde und das Engagement der jüngeren Generation zu achten sind und

10. Menschenrechte von Gott gegeben sind.

Die Christenheit sprach in Seoul gemeinsam. Und die Grundüberzeugungen, die sie dort formulierte, haben aus meiner Sicht an Aktualität und Relevanz nichts verloren. Sie haben sowohl für uns Kirchen, aber auch für die Gesellschaft, und damit auch für Staat und Politik eine große Bedeutung. Es geht um die schlichte Erkenntnis, dass wir – wie es der Heidelberger Katechismus in Frage 1 formuliert – nicht uns selbst, sondern unserem Heiland Jesus Christus gehören.

Mich hat bei meinem ersten Besuch im Saarland sehr beeindruckt, dass es im Kabinettsaal ein Kreuz gibt. Der Wunsch dazu war damals von Politikerinnen und Politikern geäußert worden. Er wurde von den Evangelischen Kirchen erfüllt. Die Übergabe fand am 8. August 2011 statt. Der damals regierende Ministerpräsident Peter Müller hob hervor, „sich bei Entscheidungen vom christlichen Menschenbild leiten zu lassen und sich dabei zugleich der Begrenztheit menschlichen Handelns bewusst zu sein.“[2]  Meine Damen und Herren, wer aus dieser Überzeugung handelt, wird vor Entscheidungen zurückschrecken, die man im Nachhinein als vermessen bezeichnen muss.

Die zweite Erklärung, auf die ich mich beziehen möchte, ist die Barmer Theologische Erklärung, deren Verabschiedung sich im Mai 2014 zum 80. Mal jähren wird. In der Gemarker Kirche in Wuppertal-Barmen, widersetzten sich Vertreter evangelischer Kirchen der Gleichschaltung durch die nationalsozialistische Diktatur. Ein eigenes Verständnis von Kirchenrecht und Kirchenleitung wurde in Barmen formuliert. Orientierung fanden die Synodalen in der Konzentration auf das Evangelium von Jesus Christus.

Die Barmer Theologische Erklärung richtete sich gegen den totalitären deutschen Staat, aber auch gegen diejenigen Mitglieder der evangelischen Kirche, sie sich begeistert den NS-konformen Deutschen Christen angeschlossen hatten. Die Erklärung wurde zum Ausgangspunkt der Bekennenden Kirche und nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur zu einem Gründungsdokument unserer Landeskirche. Für Presbyterinnen und Presbyter, für Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Landeskirche ist sie auch heute noch Richtschnur. Und sie wirkt über das Rheinland hinaus. Dass unsere westfälische Geschwisterkirche, die räumlich Barmen recht nahe liegt und deren Verfassung unserer ähnelt, sich auch auf die Barmer Theologische Erklärung bezieht ist naheliegend, zumal sich dort im Landeskirchenamt auch das Originaldokument befindet. Aber auch die neu gegründete Evangelisch-lutherische Kirche in Norddeutschland spricht in der Präambel ihrer Verfassung von der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen. Und die farbige reformierte Kirche in Südafrika hat in Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung das Bekenntnis von Belhar formuliert, das sich eindrucksvoll gegen die menschenverachtende Politik der Apartheid richtet. In vielen presbyterianischen und reformierten Kirchen in der weltweiten Ökumene hat die Barmer Theologische Erklärung Bekenntnisrang. Die Erklärung der Barmer Synode von 1934 ist – das wird man ohne Übertreibung sagen dürfen – ein Jahrhundertereignis der Kirchengeschichte.

Ihre fünfte These handelt von den Aufgaben des Staates und vom Verhältnis von Kirche und Staat und steht unter einem Text aus 1. Petrus 2, 17: „Fürchtet Gott, ehret den König“: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“

Diese beiden historischen Ereignisse, die ökumenische Weltversammlung in Seoul und die Barmer Theologische Erklärung von 1934, sind Beispiele für ein kritisches Gegenüber im Verhältnis zwischen Staat und Kirche.

Das Thema des Jahres „Reformation und Politik“ soll aber nicht nur zu einer historischen Betrachtung führen, sondern auch die Brücke in die Gegenwart schlagen. Die Frage des Gegenüber – der Trennung von Staat und Kirche – beginnt zwar in der Reformation in Luthers so genannter Zwei-Regimenter-Lehre. Ganz massiv stellt sich heute aber die Frage, welche Rolle die Kirchen in Staat und Gesellschaft haben oder zugespitzt, wofür sie in der heutigen Gesellschaft überhaupt noch gebraucht werden. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht in irgendeiner Talkshow über die angeblichen Privilegien der Kirchen diskutiert wird, über das kirchliche Arbeitsrecht, über die Zuschüsse für den Betrieb von Kindertagesstätten oder Krankenhäuser und – angesichts der Ereignisse in Limburg – insbesondere über Staatsleistungen und deren Ablösung. Der Chef vom Dienst der Berliner Lokalredaktion der TAZ titelte am 17. September 2013: „Nehmt den Kirchen ihre Pfründe!“ Aus seiner Sicht gehen die unterschiedlich ausgeprägten Privilegien der Kirchen komplett an der Realität vorbei. Wir Kirchen sind in der öffentlichen Diskussion in der Tat in die Defensive geraten, und wir sehen uns einer zunehmend aggressiven antikirchlichen Stimmung ausgesetzt. Sie findet nicht zuletzt in den sozialen Netzwerken im Internet ihren Niederschlag.

Natürlich muss man selbstkritisch feststellen, dass nicht alles, was die Kirche in Angriff nimmt, auch gelingt. Und es gibt, das möchte ich auch nicht ausblenden, im politischen Raum auch kirchenkritische Töne. Es gibt Stimmen, denen die heute gelebte Trennung von Staat und Kirche nicht weit genug geht. Sie stellen die bisherigen staatskirchenrechtlichen Regelungen in Frage oder fordern gar deren Aufhebung. Manche, die für eine stärkere Trennung von Staat und Kirche eintreten, wünschen sich einen „laizistischen Staat“. Wenn sie damit den Grundsatz der „laicité“ aus Frankreich meinen, so möchte ich dem deutlich widersprechen. Die von unserem Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit geht gerade nicht von einer strikten Trennung von Staat und Religion aus. Vielmehr wirkt der Staat mit den Religionsgemeinschaften zusammen, etwa um den religiösen Bekenntnisunterricht in den staatlichen Schulen zu organisieren. Und dies sollte so bleiben. Würde die Religiosität aus dem öffentlichen Leben verdrängt, so wären unser Land und unsere Wertegesellschaft ein großes Stück ärmer.

Wir sollten diesen Entwicklungen entgegenwirken mit vielen Veranstaltungs- und Medienprojekten – auch in den sozialen Netzwerken. Wir müssen uns engagiert zu Wort melden und dabei auch mögliche Konfrontationen nicht scheuen. Von daher wird neben der Verkündigung des Wortes Gottes, das sogenannte „Themensetting“ in unserer Öffentlichkeitsarbeit immer wichtiger. Wir müssen den Beitrag der Kirche für unsere Gesellschaft deutlicher nach außen tragen. Es gilt das Motto: „Tue Gutes und rede darüber.“

Im direkten Gespräch mit Vertretern aus Politik und Gesellschaft erlebe ich oft viel Ermutigung. Das Engagement der Kirchen wird hoch geschätzt, sei es durch den Betrieb von sozialen Einrichtungen in Kirche und Diakonie oder durch öffentliche ggf. auch kritische Äußerungen zu gesellschaftsrelevanten Themen. Dem Landtag in Nordrhein-Westfalen liegt zum Beispiel ein Antrag der CDU-Fraktion vor mit dem Titel: „Die Kirchen als Diener am Gemeinwohl: Gesellschaftliches Engagement von Caritas und Diakonie anerkennen und unterstützen.“ In der Tat ist der Staat auf die Arbeit der Kirchen angewiesen.

Orientierung mag uns insoweit ein Satz des Verfassungsrechtlers und ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde geben. Das so genannte Böckenförde-Diktum lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Nach Böckenförde kann ein freiheitlicher Staat nur dann bestehen, wenn sich die Freiheit von innen her reguliert, nämlich aus der moralischen Instanz des einzelnen und einer gewissen Homogenität der Gesellschaft.

Auch der Geschichtsprofessor Paul Nolte, der sich intensiv mit dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft befasst hat, kommt zu diesem Schluss. Er hat kürzlich unterstrichen, dass der Staat ganz eindeutig davon profitiert, den Kirchen und Religionsgemeinschaften Gelegenheit zur Entfaltung ihrer zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten zu bieten und sie zu fördern. Religion könne nicht anders sein als öffentlich, so Nolte. Sie sei ein Gegenentwurf zur staatlichen Ordnung und zu bestehenden Realitäten. Sie finde sich nicht ab mit dem Gegebenen. Die Zivilgesellschaft in Deutschland, so Nolte weiter, wurzele in religiösen Impulsen und kirchlicher Einbettung. Kirchen stellten ein Netzwerk sozialer und kultureller Leistungen zur Verfügung, das nicht ohne weiteres durch andere Träger ersetzbar sei. [3]

Die Kirchen – so meine ich – haben genau an diesem Punkt eine ganz wichtige Funktion. Auch sie schaffen Voraussetzungen, die der Staat nicht schaffen kann! Für diese Feststellung lassen sich unzählige Beispiele aus dem sozialen und kulturellen Bereich finden: Ich denke etwa an Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wie Kindertagesstätten oder evangelische Schulen, an den Religionsunterricht an staatlichen Schulen, an Beratungsstellen, evangelische Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, aber auch an die Kirchenmusik oder die kirchliche Denkmalpflege. Und der sonntägliche Gottesdienst – die Gelegenheit zur „seelischen Erhebung“ – wie es das Grundgesetz unter Rückgriff auf die Weimarer Reichsverfassung formuliert, gehört auch dazu.

Wir wirken in vielfältiger Weise mit und gestützt auf ein großes in weiten Teilen auch ehrenamtliches Engagement. Ich möchte es an dem Beispiel der Evangelischen Kindertagesstätten verdeutlichen. Es ist unbestritten, dass der Staat einen großen Teil der Kosten finanziert, die durch den Betrieb einer Kindertagesstätte entstehen. Das ist auch richtig so, denn unsere Kindertagesstätten stehen nicht nur Mitgliedern offen, sondern können von Kindern unterschiedlicher Religion und Konfession besucht werden. Im Übrigen gehört die KITA-Arbeit zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Was unsere Kindertageseinrichtungen aber einzigartig macht, ist die Vermittlung christlicher Werte. Dies ist unaufgebbarer Bestandteil unserer Arbeit in den Kirchengemeinden und Diakonischen Einrichtungen. Und genau diese Wertevermittlung ist es, für die unsere Kindergärten so geschätzt werden und die unsere Gesellschaft so bitter nötig hat.

Auch für den politischen und gesellschaftlichen Diskurs, der in der Öffentlichkeit oder manchmal abseits der Öffentlichkeit stattfindet, sind die Kirchen nach meiner Auffassung unverzichtbar. Wo stünde der Sonntagsschutz vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute, wenn Kirchen sich nicht immer wieder gegen eine Aushöhlung der Sonn- und Feiertagsruhe ausgesprochen hätten? „Leben ist mehr als Arbeit, Produktion und Geld verdienen“, so steht es über der Gründungserklärung vom 10. Juli 2009 der „Allianz für den Freien Sonntag im Saarland“. Die Allianz, deren Träger u.a. der Beauftragte der Evangelischen Kirche für das Saarland ist, tritt für die Einhaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes und die Begrenzung der Ladenöffnungszeiten im Saarland ein.

Hier weiß ich im Saarland aber auch die Politik an unserer Seite. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine große Koalition, wenn evangelische Kirche und römisch-katholische Kirche, die Synagogengemeinde, beide Regierungsparteien, Gewerkschaften, Kulturschaffende und andere prominente Bürgerinnen und Bürger des Landes öffentlich für den Sonntagsschutz eintreten.

Wir Kirchen melden uns in sozialen Fragen, in der Arbeitsmarktpolitik, in friedensethischen Debatten oder wenn es um die Bewahrung der Schöpfung geht, klar und deutlich zu Wort. Wir treten ein für Frieden und Gerechtigkeit. Manchmal könnten wir das allerdings noch ein wenig lauter und zugespitzter tun.

Es gibt Situationen, da prallen Dinge aufeinander, die uns in besonderer Weise fordern. Ich denke dabei an das Ende des Bergbaus im Saarland. Die Erdbeben-ähnlichen schweren Erschütterungen im Jahr 2008 brachten Ängste zu Tage. Der Bergbau bedrohte mit seinen Auswirkungen in der Umwelt den Lebensraum der Menschen in dieser Region. Die Frage, ob Bergbau unter diesen Voraussetzungen noch vertretbar ist, stand plötzlich im Raum. Gleichzeitig ging es um viele Arbeitsplätze in der Region und damit um die wirtschaftliche Existenz von vielen Menschen. Ein Ringen von Bergbaubefürwortenden und Bergbaugegnern, von Regierung, Unternehmen und Kirchen. An zwei Mettenschichten muss man in diesem Zusammenhang erinnern. Die eine 2008 wenige Tage nach den Erdstößen unter Beteiligung von Präses Schneider und Bischof Ackermann. Und dann die zweite am 30. Juni 2012, dem Tag, an dem die Geschichte des saarländischen Bergbaus zu Ende ging. Unter den Eindrücken der Erschütterungen hatte man noch 2008 das Ende des Bergbaus beschlossen, weil er wegen der Gefahr für Leib und Leben der Menschen nicht mehr verantwortet werden konnte. Bei der Mettenschicht 2012 predigte Oberkirchenrätin Barbara Rudolph. Und wenn ich ihre Predigt über Hiob von damals heute lese, so wird hier eine weitere wichtige Rolle der Kirche an den Wendepunkten des Lebens deutlich: nah bei den Menschen zu sein, ihre Sorgen aufnehmend, tröstend, biblisch fundiert.

Schließlich besteht der prophetische Auftrag der Kirche auch darin, auf Missstände hinzuweisen, die um Gottes Willen nicht sein dürfen. Die Flüchtlingssituation im Mittelmeer erinnert mich an eine gemeinsame Erklärung der reformierten Kirchen in Südafrika und Deutschland, die vor drei Jahren verabschiedet wurde und an deren Entstehung ich, damals noch als Vizepräsident der Evangelisch-reformierten Kirche, mitwirken durfte. Es ist eine Erklärung, die zwei Kirchen aus Nord und Süd in unsere globalisierte Welt hineinrufen. Dort heißt es in Anknüpfung an die Barmer Bekenntnistradition, der sich beide Kirchen verpflichtet fühlen, wie folgt:

„Wir erinnern uns an unsere Mütter und Väter, die die falsche Lehre verwarfen, es gäbe Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären; es gäbe Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften. Wir rufen uns ihr Glaubenszeugnis in Erinnerung, das sie angesichts der Umstände und des Geistes ihrer Zeit, angesichts der herrenlosen Gewalten und Ideologien ihrer Tage und angesichts der Herausforderungen und Versuchungen der geschichtlichen Ereignisse formulierten.

Wir bekennen mit ihnen, dass Gott sich selbst als der Eine geoffenbart hat, der Gerechtigkeit und wahren Frieden auf Erden herbeiführen will. Wir bekennen mit ihnen, dass Gott in einer Welt voller Ungerechtigkeit und Feindschaft sich in besonderer Weise den Notleidenden, Armen und Entrechteten zuwendet, und dass er seine Kirche aufruft, ihm darin zu folgen. Wir bekennen mit ihnen, dass Gott den Unterdrückten Recht schafft und den Hungrigen Brot gibt; dass er die Gefangenen befreit und die Blinden sehend macht; dass er die Bedrängten unterstützt; dass er die Fremden beschützt; dass er den Witwen und Waisen hilft und den Weg der Gottlosen versperrt; dass reiner und unbefleckter Gottesdienst für ihn heißt, den Witwen und Waisen in ihrem Leid beizustehen; dass er sein Volk anleiten will, Gutes zu tun und nach Recht zu streben.

Mit ihnen sind wir überzeugt, dass die Kirche leidenden und bedürftigen Menschen beistehen muss und darum auch gegen jede Form von Ungerechtigkeit Zeugnis ablegen und streiten soll, damit das Recht ströme wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Strom; dass die Kirche als Eigentum Gottes dort stehen muss, wo Gott selbst steht, nämlich an der Seite der Entrechteten gegen alle Formen der Ungerechtigkeit.“

Wir stehen vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Dabei sollen wir uns – ob nun in Kirche oder Politik – wie Martin Luther 1521 von unserem Gewissen leiten lassen. Wir sollen bereit sein zu Veränderung und Umkehr. Wir wollen eine Kirche der Freiheit sein und treten im Sinne des Gebots der Nächstenliebe für ein solidarisches Miteinander, für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in unserer Gesellschaft ein.

Dafür steht die Evangelische Kirche! Sie kann nicht anders! Gott helfe ihr!

Rede bei der Zentralen Reformationsfeier im Saarland in der Ludwigskirche Saarbrücken am 31.10.2013. Dr. Johann Weusmann ist als Leitender Jurist Vizepräsident der Evangelischen Kirche im Rheinland und als solcher zuständig für die Arbeit des Evangelischen Büros Saarland, das die zentrale Reformationsfeier mit vorbereitet und gestaltet hat. Zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.

[1]              Bericht über die Verhandlungen in Worms am 17. und 18. April 1521, in: Franz Etzin, Martin Luther. Sein Leben und sein Werk, Gotha 1917, S. 67ff. 

[2]              EKiR Pressemitteilung Nr. 78/2011 und Humanistischer Pressedienst Nr. 11805 vom 9. August 2011.

[3]              Zit. nach: Unsere Kirche (UK), 31. März 2013.

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