Dr. Dirk Kutting
Hermann-Ehlers-Straße 10a, 55112 Mainz
Tobias Kaspari, Das Eigene und das Fremde. Phänomenologische Grundlegung evangelischer Religionsdidaktik (AprTh 44), Leipzig (EVA) 2010, 470 S., 68,00 Euro.
Nachdem in Frankreich schon lange phänomenologische Analysen den geisteswissenschaftlichen Diskurs prägen, scheint nun auch in Deutschland – nach langer Dominanz radikalkonstruktivistischer Sozialtheorien – endlich deutlich ein Zurück zu den Sachen selbst artikuliert zu werden. Thomas Fuchs bietet mit seiner phänomenologisch-ökologischen Konzeption in dem Buch „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“ (Stuttgart 2009), den reduktionistischen Gehirnforschern Paroli. Käte Meyer Drawe versucht in ihren Aufsätzen „Diskurse des Lernens“ (München 2008), die Vorherrschaft der Neurowissenschaft in der Pädagogik phänomenologisch zurückzudrängen.
Nun legt Tobias Kaspari mit seiner Mainzer Doktorarbeit einen phänomenologischen Entwurf zur christlichen Religion als Unterricht vor. Darin versucht er zu zeigen, dass christliche Religion als Unterricht phänomenal und lebensweltlich konzipiert sei. Christliche Religion als Unterricht sei religiöse Praxis. Religionsunterricht habe wahrnehmbare Phänomene zu präsentieren. Die Gegebenheit christlicher Religion bildet die Voraussetzung, damit religiöse Phänomene zu eigenständigen Gegenständen des Unterrichts werden. Das Eigene christlicher Phänomene wird in der Begegnung mit den Gegenständen immer wieder in ein Fremdwerden überführt. Warum? Die Phänomene des Glaubens bleiben immer uneinholbar sie selbst, sie werden nicht vermittelt, nicht begrifflich erfasst, nicht dogmatisch gelehrt, nicht ethisch übersetzt, nicht als Problem aufgefasst, für das es Lösungen geben muss und nicht symboldidaktisch entschlüsselt. „Der Religionsunterricht zielt nicht auf die Identität von wahrnehmenden Schülern und wahrgenommenen Gegenstand, sondern initiiert die Begegnung mit dem Fremden“ (22).
Kaspari geht dabei davon aus, das es ein zweifach Fremdes gibt. Einerseits sieht er die phänomenologische Religionsdidaktik christologisch fundiert, andererseits ermögliche eine phänomenologische Religionsdidaktik auch einen neuen Zugang zum interreligiösen Lernen. Wie die religiösen Phänomene christlicher Religion schon ein uneinholbar fremdes Gegenüber bleiben, so können auch die religiösen Gegenstände anderer Religionen primäre Gestalten erfahrbarer Präsenz werden, die fremd bleiben. Die Erfahrung der Befremdung der eigenen Religion eröffnet auch einen Zugang zu den anderen Religionen. „Durch die befremdende Erfahrung seiner Widersprüchlichkeit und Andersartigkeit wirkt der Dreieinige Gott den rechtfertigenden Glauben“ (25).
Die Entfaltung seiner Thesen erfolgt zunächst in der auf einander aufbauende Rekonstruktion der phänomenologischen Ansätze Edmund Husserls („die Intentionalität des Bewusstseins“), Maurice Merleau-Pontys („die Leibgebundenheit der Wahrnehmung“) und Bernhard Waldenfels („die Wahrnehmung als Erfahrung von Fremdheit“). Diese Studien sind überzeugend auf das Thema und die Zielrichtung des Gesamtprojekts hin erarbeitet und werden jeweils religionsdidaktisch ausgewertet. Daran schließen sich vom Ausgangspunkt her konsequent zwei Kapitel an: Phänomenologisch orientierte Didaktik christlicher Religion und Fremde Religionen im Unterricht christlicher Religionen.
Mir hat es sehr viel Freude gemacht, die Arbeit Kasparis zu lesen. Ich halte sie für religionspädagogisch fruchtbar und weiterführend; spannend wäre es natürlich zu sehen, wie z.B. die biblischen Texte als Phänomene christlicher Religion im Unterricht zur Erscheinung gebracht werden, denn hier scheint mir auch kritisches Nachfragen nötig. Wenn Kaspari sagt: „Die Kopräsenz von wahrnehmenden Schülern und wahrgenommenem Gegenstand schafft das Lernfeld des Unterrichts“ (21), dann scheint die Rolle des Lehrers nicht nur unterbestimmt, sondern sogar ausgelassen. Präsentieren sich die Phänomene selbst, das wäre Schwärmerei, oder werden die Phänomene präsentiert? Wenn, wie Kaspari gut herausarbeitet, der Leib didaktisch der irreduzible Ort von Religion ist, „weil die Orientierung an den Phänomenen die Sachen selbst, die erscheinen, und die Schüler, denen die Sachen auf bestimmte Weise erscheinen, am Leib zusammenfinden“ (178), dann bleibt offen, warum die Bedingung der Erscheinung der Phänomene, der „leibhaftige“ Lehrer nämlich, nicht bedacht wird. Der Lehrer ist mindestens ebenfalls als kopräsent zu denken.
Eine andere Frage stellt sich mir bezüglich der Uneinholbarkeit der Phänomene christlicher Religion. Wenn auch das Evangelium als Kraft Gottes immer es selbst bleibt, so hat es sich mir dennoch erschlossen. Es gibt mir Anteil am Heilshandeln Gottes und bleibt mir nicht per se fremd. Muss also neben dem uneinholbaren Fremdbleiben nicht auch mit einem sakramentalen „Genuss“ gerechnet werden? Wenn Religion als Unterricht durch rituelle Vollzüge und Begehung wirksam ist, wird er dann zu einem kirchlichen gottesdienstlichen Geschehen oder muss auch hier differenziert werden? Oder ist Unterricht als Gottesdienst zu verstehen? Fragen, die meines Erachtens pneumatologischer und ekklesiologischer Klärung bedürften. Dennoch: Dem Buch ist zu wünschen, dass es in der Religionspädagogik zur Kenntnis genommen, rezipiert und als Grundlage für konkrete Weiterführungen im Unterricht genutzt wird.
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