Dr. Dirk Kutting
Hermann-Ehlers-Straße 10a, 55112 Mainz
Eilert Herms, Politik und Recht im Pluralismus, Tübingen (Mohr Siebeck) 2009, 372 S., 94,00 Euro
„Gibt man der Seele ein Menschengesetz auf, dass sie so oder so glauben solle, […] so liegt dafür Gottes Wort gewiss nicht vor.“ Luther (Von weltlicher Obrigkeit; 1523) bestimmte neben der Berechtigung weltlicher Obrigkeit zur Herrschaft auch glasklar deren Grenzen. Jedoch, das Ringen um eine rechte Unterscheidung von Staat und Kirche durchzieht nicht erst die reformatorische, sondern schon die gesamte christliche Kirchengeschichte. Vom Investiturstreit bis zur Frage, ob man dem Rad in die Speichen fallen dürfe: Unruhe trat immer dann auf, wenn Religion oder Politik die jeweilige öffentliche Zuschreibung überschritt. Dann war zumindest der innenpolitische Frieden gestört.
In Zeiten einer pluralistischen Gesellschaftsordnung scheint es das Recht des Staates zu sein, als innenpolitischer Friedensstifter fungieren zu müssen, wenn es darum geht, die verschiedenen religiös-weltanschauliche Kräfte zu ordnen. Gerade nach dem „11. September“ gilt diese Ordnungsfunktion unbestritten. Dabei wird übersehen, dass es bestimmte Ethosgestalten sind, die sich im Recht einer Gesellschaft niederschlagen und das Recht gerade nicht neutral über den Dingen steht. Wenn beispielsweise Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger den Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz Erzbischof Zollitsch in Fragen sexuellen Missbrauchs zum Rapport bestellt, dann ist das nicht nur ungeschickt, sondern auch eine Anmaßung: Vertritt die Humanistische Union, deren Mitglied sie ist, doch eine Position, die eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts fordert.
Eilert Herms stellt in seiner Aufsatzsammlung die entscheidende Frage: „Lässt sich und wie lässt sich auch in einer Gesellschaft, die durch die spannungsvolle Koexistenz von völlig gleichberechtigten religiös bzw. weltanschaulich begründeten Ethosgestalten gekennzeichnet ist, dennoch eine Rechtsordnung denken, in deren Einheit eben diese Gleichberechtigung aller einander widerstreitenden Weltanschauungen gewahrt ist?“
Er stellt heraus, dass es natürlich so sein kann, dass den verschiedenen Ethosgestalten innerhalb einer Gesellschaft von außen Grenzen gesetzt werden; damit wäre zumindest die Einheit der Rechtsordnung garantiert. Eine solche Grenzziehung von außen ist aber nur möglich, wenn sich das Recht programmatisch einer expliziten Rechenschaft darüber verweigert, wie es selbst fundiert ist. Dies widerspricht den Tatsachen (vgl. das vorige Beispiel). Die Entwicklung einer rechtlichen Ordnung dürfte sich nämlich dann keiner ethischen Leitorientierung verdanken. Möglich wäre eine solche Grenzziehung von außen dann also einzig, wenn sich die Rechtsordnung einem eigenen Staatsethos verdankt, wie es z.B. das vernunftrechtliche Staatsethos Immanuel Kants bietet. Aber selbst wenn man deren pragmatische Universalisierbarkeit unterstellt, würde hier eine Ethosgestalt über andere herrschen und wäre eine Gleichberechtigung der Ethosgestalten ausgeschlossen.
Für Herms bilden diese beiden Möglichkeiten keine wirkliche Alternative: Auch wenn vordergründig keine Ethosgestalt zur Fundierung einer einheitlichen Rechtsform angeführt wird, läuft real aber unter der Hand immer eine solche mit. Herms versucht in seinen Aufsätzen zu Fragen von Gewalt, Freiheit, Menschenwürde, Naturrecht, theologischer Ethik und Rechtsbegründung, Pluralismus und Positionalität, Kruzifixurteil und lebenslanger Freiheitsstrafe, einer wirklichen Alternative auf die Spur zu kommen. Um aus der Scheinalternative herauszukommen und deren Dilemma zu entgehen, sollte nach einheitlichen institutionellen Formen gesucht werden, die alle in der Gesellschaft orientierungskräftig kommunizierten und tradierten Lebenssinnpositionen und Ethosgestalten gleichberechtigt und nachhaltig beteiligt, die Rechtsordnung zu unterhalten und weiterzuentwickeln. D.h., die in der Gesellschaft koexistierenden Ethosgestalten müssen einen konsensorientierten Dialog über ihr gewaltfreies Zusammenleben nicht nur miteinander führen, sondern dessen Ergebnis muss auch übergeführt werden, nämlich in die politische Verfassung des Gemeinwesens.
Ziel wäre es dann, alle koexistierenden Ethosgestalten zur Pflege einer umfassenden einheitlichen Friedensordnung zu verpflichten. Nur das würde ermöglichen, dass jede am Dialog beteiligte Seite, die Rechtsordnung nicht als fremde, von außen gegebene, sondern als eigene anerkennen kann. Welche weitreichenden Folgen ein solcher Ansatz für den Frieden in der Gesellschaft zeitigen könnte, haben zuletzt die Schlichtungsverhandlungen Heiner Geißlers in Stuttgart gezeigt. Dass Kirchen sich zu Fragen der Rechtsordnung nicht nur äußern, sondern institutionelle Formen des Dialogs zu deren Weiterentwicklung fordern, wäre eine Konsequenz, die mit Herms zu ziehen ist.
Der Autor ist Schulpfarrer und Schulseelsorger am Rabanus-Maurus-Gymnasium, Mainz
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