Dr. Klaus Bümlein
Ludwigstraße 80, 67346 Speyer
Michael Heymel/Christian Möller, Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Glauben und Denken Sören Kierkegaards am Beispiel seiner Reden, Theologischer Verlag Zürich, 2013, 246 Seiten, ISBN 978-3-290-17698-3
„Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit“: das paradoxe Kierkegaard- Wort war der Titel der Abschiedsvorlesung von Prof. Christian Möller 2006 in Heidelberg. Ich hatte das Glück, damals zuzuhören. Möller bot einen eindrucksvollen Einblick in seine Kierkegaard-Beschäftigung, die mit dem frühen Geschenk der Gesamtausgabe durch den Verleger begann und durch Jahrzehnte immer neu die provozierende und aufbauende Faszination des Dänen umkreiste. Auch Michael Heymel ist ein ausgewiesener Kenner Kierkegaards und seit seiner Promotion (Das Humane lernen. Glaube und Erziehung bei S. Kierkegaard, 1988) von verschiedenen Seiten mit Kierkegaard befasst.
So sind für die Leser hohe Erwartungen geweckt durch das gemeinsame Werk Heymels und Möllers. Es ist genau zum 200. Geburtsjahr Kierkegaards (1813-1855) erschienen. Dem Buch zugrunde liegt eine Vorlesungsreihe, die Heymel und Möller gemeinsam im Sommersemester in Heidelberg 2011 und 2012 hielten. Schon diese gemeinsame Vorlesungsarbeit ist nicht selbstverständlich. Aufmerksamkeit weckt zudem die ungewöhnliche Anlage der vierzehn Vorlesungen. Die beiden ersten Vorlesungen führen in Leben und Werk ein (Teil A), die beiden letzten fragen zusammenfassend nach Kierkegaards Bedeutung (Teil C).
Dazwischen untersuchen Heymel und Möller im Hauptteil B in zehn Vorlesungen ausschließlich „religiöse Reden“ des Dänen. Diese Auswahl oder Konzentration wird einleuchtend begründet. Die Verfasser unterscheiden bei Kierkegaard vier „Textsorten“ (S. 34-41). Am bekanntesten sind wohl pseudonymen Schriften von „Entweder-Oder“ (von „Victor Eremita“ 1843) bis zur „Einübung im Christentum“ (1850 von „Anti-Climacus“). Sie haben den späten Ruhm Kierkegaards als existentieller Denker begründet. Dann die Briefe und die riesige Fülle der Tagebücher, in der dänischen Ausgabe 16 Bände! (S. 37) Einzelne Werke hat Kierkegaard zudem unter seinem Namen erscheinen lassen, wie 1847 „Das Buch Adler“. Die insgesamt, nach Möllers Zählung, 94 „religiösen Reden“ bilden eine eigene große Gruppe, oft neben den „philosophischen“ Werken abgewertet und unterschätzt. Diesen „religiösen Reden“ möchten Heymel und Möller die besondere Aufmerksamkeit zuwenden.
Mit Recht, wie ich nach der aufmerksamen Lektüre meine. Den Reichtum an Anregungen, die bei diesen „Reden“ ausgestreut werden, empfinde ich als enorm. Zudem hat der dreiteilige Aufbau jeder dieser Vorlesungen des Mittelteils einen besonderen Charme. Zunächst boten die Autoren einen größeren Ausschnitt aus einer „religiösen Rede“; dieser Teil wurde in der Universitätskirche von Heidelberg vorgetragen, geht es doch meist um die Auslegung biblischer Textstellen. Im Hörsaal folgte dann eine eingehende Interpretation, mit eigenen Ausblicken auf die besondere Aktualität des Themas (S. 8).
Die Überschriften dieser zehn Vorlesungen seien zunächst genannt. Schon aus dieser Aufzählung mag deutlich werden, welche brisanten Themen Kierkegaard aufgreift: „Der Streit des Gebets“(1) – „Innerlichkeit“ (2) – „Der Einzelne“ (3) – „Erbauung“ (4) – „Die Sorge“ (5) – „Der einladende Christus“ (6) – „Über das Erzählen“ (7) – „In Jesu Seelsorge“ (8) – „Die Bibel – ein Liebesbrief“ (9) – „Gottes Unveränderlichkeit“ (10).
Es ist in dieser Besprechung nicht möglich, alle Reden mit der Ausführlichkeit zu bedenken, die ihnen gebührt. So greife ich als Beispiel die dritte Vorlesung über „Der Einzelne“ von Christian Möller heraus (S. 76-91). Diese Rede gehört zeitgeschichtlich in die Auseinandersetzung mit den Angriffen auf Kierkegaard in dem satirischen Blatt „Der Korsar“. Kierkegaard wehrt sich gegen die Anmaßung der Medien, gegen die Massen-Beeinflussung. Der Mensch, begriffen als Einzelner, bildet für ihn eine notwendige Gegenkategorie. Freilich unterscheidet Möller die betonte Rolle des Einzelnen, im Gottesverhältnis, von einem Individualismus ohne Verantwortung für die Nächsten. Zum Einzelnen gehöre bei Kierkegaard, im christlichen Sinn, „Der Liebe tun“ und – die Gemeinde. „Einzelner und Gemeinde stehen hier auf der einen Seite, Publikum, Menge und Masse“ auf der anderen“ (S. 82). Hier fand ich mich an die Thesen zum „Protestantismus“ erinnert, die die pfälzische Landessynode zum Jubiläumsjahr 2004 formulierte: „Protestantismus heißt Verteidigung des Einzelnen.“ So hieß es in der zweiten These zum Protestantismus im Mai 2004. Es gibt zu denken, dass dabei Kierkegaard-nahe Formulierungen begegnen, auch wenn meines Wissens nirgends damals auf Kierkegaard rekurriert war. Der Titel des Buchs – „Das Wagnis, ein Einzelner zu sein“ – betont das Gewicht dieser protestantischen Akzentuierung.
Als zweites Beispiel sei die achte Vorlesung von Heymel über „die Bibel – ein Liebesbrief Gottes“ gewählt. Sie hat Kierkegaards religiöse Rede von 1851 zu Jakobus 1,22-27 zum Thema (S. 178-195). Hier geht es um den angemessenen Bezug zum Wort der Bibel als Spiegel und Gottes Wort. Kierkegaard riskiert den Vergleich mit einem menschlichen Liebesbrief. Einen solchen Brief aufnehmen, verlangt anderes als eine distanzierte Analyse. Da geht es um eine sehr persönliche Mitteilung, in der alle Nuancen wichtig sind, auch die Bereitschaft, Wünsche zwischen den Zeilen zu lesen, sich verpflichten zu lassen. Lässt sich der Umgang mit Gottes Wort damit vergleichen? Kierkegaard wagt es, und Heymel führt Äußerungen Bonhoeffers an, die Ähnliches meinen (S. 192 f.). Auch bei Abraham Heschel, dem jüdischen Religionsphilosophen, findet Heymel Gedanken, die in diese Richtung weisen. Wir haben „so viel über die Bibel zu sagen, dass wir nicht bereit sind zu hören, was die Bibel über uns sagt“ (zitiert aus Heschels Vortrag „Erneuerung des Protestantismus“, S. 193). Das soll nach Heymel kein Plädoyer sein für den Abschied von einem historisch-kritischen Bibelzugang. Kierkegaards Ansatz sei bei Bonhoeffer in der „Nachfolge“ so formuliert: „unter dem ganzen Wort der Bibel werden wir in die Nachfolge gerufen“ (S. 194).
Kierkegaard gehört gewiss nicht zu den Gründungsgestalten der pfälzischen Kirchenunion. Der Abstand zu Figuren wie Butenschoen oder Schultz erscheint schwindelerregend weit. Jahrelang galt Kierkegaard zwar als willkommener Autor für das Philosophicum. Nur wenige pfälzische Kierkegaard-Freunde sind mir bekannt geworden. Und schon gar niemand, die wie Dorothee Sölle von sich bekennen würde: „Kierkegaard verführte mich in die Religion. Ich verschlang ihn. Heute könnte ich sagen, dass ich mich in Sören verliebt hatte“ (Gegenwind, 1995, S. 42). Bei dem ökumenischen Pfarrkolleg 2003 in Kopenhagen wurde uns Pfälzern bewusst, wie sehr Kierkegaard an Popularität zurücksteht gegenüber Gestalten wie Andersen oder Grundtvig. Immerhin ist im Jahr 2013 die dänische Gesamtausgabe Kierkegaards abgeschlossen und in Anwesenheit von Königin Margarete vorgestellt worden. Auch wir Pfälzer tun gut, den Dänen als Provokateur wie als „erbaulichen“ Leser der Bibel neu wahrzunehmen. Wird Kierkegaard bei einer Bestimmung des Protestantismus und seiner Betonung des Einzelnen nicht ein unentbehrlicher Gesprächspartner? Und für einen Bibelumgang wichtig, der uns in die „Gleichzeitigkeit“ mit dem Christus des Neuen Testaments hineinzieht? Das Werk Möllers und Heymels bietet für eine neue Wahrnehmung Kierkegaards nicht hoch genug zu schätzende Erschließungshilfen.
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