Die zehn Gebote

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Anmerkungen aus jüdischer Sicht

Andrew Steiman
Wilhelmshöher Straße 279, 60389 Frankfurt am Main

Rabbiner Andrew Steiman ist Altenheimseelsorger im Frankfurter Altenheim der „Henry und Emma Budge-Stiftung“ und pädagogischer Mitarbeiter im Jüdischen Museum Frankfurt. Er war von 2007 bis 2010 Vorstandsmitglied des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Von 2004 bis 2007 hat er regelmäßig im Landauer Arbeitskreis „Christen und Juden lesen gemeinsam die Bibel“ referiert. 

Der Text erschien stark gekürzt erstmals im Juni 2011 in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung. In lebendiger Erinnerung an das gemeinsame Lernen mit Rabbiner Steiman sollen seine „Anmerkungen aus jüdischer Sicht“ in der Originalfassung auch uns zugänglich gemacht werden. Eine willkommene Inspiration für Pfingsten 2012.

Helmut Foth    

Seit der Rede unseres neuen Bundespräsidenten [Christian Wulff; Anm. d. Red.] in Bremen zum Tag der Einheit ist nicht nur der zu Deutschland gehörende Islam in aller Munde, sondern auch das „gemeinsame christlich-jüdische Erbe“. Wie die ebenfalls oft beschworene „deutsch-jüdische Symbiose“ ist dieses Erbe vor allem eins: tragisch.


„Es gibt nichts Tragischeres als eine unerwiderte Liebe“ meinte schon 1921 Jakob Wassermann in „Mein Weg als Deutscher und Jude“. Die Neuauflage dieses Werks (2005 im Jüdischen Verlag) überschneidet sich aktuell mit einem neuen Kapitel dieser von Wassermann so treffend beschriebenen Tragödie.


Nirgends wird dies zur Zeit augenfälliger als dort, wo sich Glaube und Politik überschneiden und schon lange latent war: am gutmenschlichen Wesen soll die Welt genesen. Und wenn das nicht klappt, ist das Alte Testament schuld. Um es gleich vorweg zu nehmen: das „AT“ ist eben nicht dieTorah. Diese Gleichsetzung ist bloß Ausdruck eines latenten christlichen Triumphalismus und bricht sich immer heftiger im Gutmenschentum Bahn.


A propos Bahn: Kein Gutmensch scheint sich darüber zu empören, wenn Befürworter für ein Bahnprojekt mit Morddrohungen eingeschüchtert werden. Auch der Mord an der jüdischen Familie Fogel wurde nicht einmal mit Achselzucken von den Gutmenschen zur Kenntnis genommen. Freut sich aber eine Bundeskanzlerin über den Tod eines Massenmörders, werden die Gutmenschen wütend. Gutmenschen und Wutbürger haben außer ihrer Selbstgerechtigkeit eins gemeinsam: Offenbar haben sie alle schon als Kinder ein Ethos gelernt, welches sie als Erwachsene im Unklaren darüber lässt, was Morden und was Töten ist, und warum ein Unterschied zwischen beiden herrscht. In letzter Konsequenz können sie aber auch nicht anders; selbst dann nicht, wenn zwischen moralisch und unmoralisch unterschieden werden muss. Sie kennen eben nur die eigene Moral. Diese kommt aus „AT“ und „NT“, und was ihnen nicht passt, wird passend gemacht. Zur Zeit ist es das Fünfte Gebot aus dem „AT“, welches die Gemüter der Gutmenschen bewegt: „Du sollst nicht töten“.

In der Torah ist das ganz anders. Dort ist von Morden die Rede, und ist nicht an fünfter, sondern an sechster Stelle des Dekalogs. Der selbsternannte Welt-Ethiker Hans Küng merkt dazu an: „Die rabbinische (!) Version teilt das Zweite Gebot … in zwei Gebote … und um die Zahl zehn zu erreichen, werden das 9. und das 10. Gebot zu einem Gebot verschmolzen“ („Global Ethic Now“, auf der Homepage der „Stiftung Weltethos“).  Es sind also die Juden, die hier teilen, verschmelzen und sich an der universellen Moral der Menschheit eigenmächtig zu schaffen machen, ohne sich vorher bei der „Stiftung Weltethos“ zu melden.

Die „Version“ der Rabbinen, denen hier Mauschelei suggeriert wird, hält sich als Einzige an das hebräische Ur-Dokument aus der Torah (nicht aus dem fehlerhaft übersetzten AT) und zudem an eine ursprüngliche Einteilung des Dekalog-Textes (sowohl aus Exodus als auch aus Deuteronomium) in die einzelnen zehn Aussagen der Asserert haDibrot. Immerhin kommen alle Exegeten seither auch auf zehn.

Die Rabbinen folgen einem ursprünglichen Muster, welches auch einem Weltethiker aus der Schweiz auffallen müsste. Dieses Muster wird bereits erkennbar in der ersten Zeile der Torah (und damit der im Judentum wie Christentum Heiligen Schriften, wie auch immer man sie nennen mag): „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“. Dieses bipolare Muster geht dann weiter mit Tag und Nacht, den Meeren und der Landmasse, den Pflanzen und Tieren, und so weiter, schließlich auch Mann und Frau. Es ist stets das Muster der Schöpfung: aus Chaos Ordnung schaffen. Himmel und Erde sind Pol und Gegenpol zur gemeinsamen Welt. Pflanzen atmen aus, was Tiere einatmen und umgekehrt; zusammen bilden sie einen gemeinsamen Lebensraum, der nach Gleichgewicht verlangt. Nicht anders sieht es aus weiß Gott zwischen Mann und Frau, den beiden Polen des Menschen.
Alle Stationen der Schöpfung bis hin zum Menschen definieren sich so. Nur so ist unsere Welt vollkommen. In den fernöstlichen Religionen gibt es übrigens ein ähnliches Konzept, bekannt als Jingund Jang. Auch das sollte ein Weltethiker aus der Schweiz oder Tübingen wissen. Im Hebräischen sind Vollkommenheit und Frieden sogar wortverwandt; sie kommen aus derselben Wurzel.

Unsere Welt ist nach einem Schöpfungsmuster definiert, welches Vollkommenheit und damit auch Frieden nur durch Gleichgewicht bzw. Ausgleich zwischen den jeweiligen Polen eines Systems erreichen kann. Selbst Leben und Tod stehen so in Beziehung zueinander.
Nach diesem Muster ist auch die Zeit eingeteilt zwischen heiligen und profanen Momenten, die im Einklang zueinander eine Synthese eingehen. Ihre Unterscheidung und Ergänzung zueinander sind ebenfalls Teil der Schöpfung. Aus diesem Grund steht das Schabbat-Gebot nicht zufällig im Dekalog, und dort an ganz bestimmter Stelle. Es dient unter anderem dem Ziel, den Menschen unterscheiden zu helfen, nicht nur zwischen heilig und profan, sondern nicht zuletzt zwischen Moral und Unmoral; Gut und Böse.

Schließlich soll auch Moral dort Ordnung bringen, wo Chaos herrscht. Deshalb sind die Zehn Gebote in der jüdischen Tradition einem System entsprechend geordnet, welches dem Schöpfungsmuster entspricht. Am augenfälligsten wird das in der Kunst deutlich, durch die gängige Darstellung der Zehn Gebote auf zwei Tafeln; in der jüdischen Kunst stets zu fünf Geboten je Tafel.

Auf der ersten Tafel werden die fünf Aussagen aus dem Dekalog dargestellt, welche eine Beziehung bejn Adam la-Makom beinhalten, also zwischen dem Menschen und dem „Ort“. Diese fünf Gebote weisen vertikal die Gemeinsamkeit dieser Beziehung auf. Mit Makom, also „Ort“, ist nicht nur Gott gemeint, sondern die göttliche Autorität, die überall und ewig ist (im Gegensatz etwa zur Schechina, der göttlichen Gegenwart, die nur dort und dann ist, wo sie zwischenmenschlich getragen wird). Auf der zweiten Tafel sind dazu analog die anderen fünf Gebote untereinander abgebildet. Bei ihnen geht es um Gebote bejn Adam le-Chawero, also um Gebote zwischenmenschlicher Art. Beide Tafeln bilden jeweilige Pole des Gesamt-Systems der abgebildeten Gebote. Dieses System steht in einem sorgsam austarierten Gleichgewicht, der zu Vollkommenheit und Frieden durch eine gerechtere Welt führen soll.  

Bereits hier wird deutlich, dass das Mordverbot auf der zweiten Tafel stehen muss: dort, wo es eben um zwischenmenschliche Gebote geht, und dort ganz oben. Horizontal steht diese oberste Inschrift der zweiten Tafel der obersten Inschrift der ersten Tafel gegenüber: Ich bin der Herr Dein Gott, der Dich aus Ägypten befreit hat, aus dem Haus der Sklaverei. In ihrer Synthese bilden sie zusammen nach dem Schöpfungsmuster eine Achse; sind zwei Pole, die zusammen ein System bilden. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass ihre Synthese  nichts anderes ist als die der bloßen Existenz: die Gottes und die des Mitmenschen. Beide existieren und haben ein Recht darauf. Dass gerade die Aussage der Existenz Gottes für viele christlichen Exegeten nicht eine Aussage des Dekalogs für sich selbst darstellt, bringt quasi gleich zu Beginn des Dekalogs erhebliches Ungleichgewicht in das System. Dieses Ungleichgewicht bringt es nach einfacher Rechnung mit sich, dass dann aus dem sechsten eben das fünfte Gebot wird. Es ist also nicht die „rabbinische Version“, der Küng zufolge hier teilt und verschmilzt, um die Zahl Zehn zu erreichen.

Wieso aber gerade zehn? Nach dem göttlichen Muster, welches im ersten Vers der Torah erkennbar wird, ist es schlicht anders gar nicht möglich. Nur bei Zehn ist ein mehrdimensionales System in diesem wichtigsten Dokument der Moral möglich, und nur in einer ganz bestimmten Zuordnung. Nach dieser Zuordnung geht es auch paarweise horizontal weiter. In der zweiten Zeile steht das Verbot gegen andere Götter mit dem Bilder-Verbot dem Verbot des Ehebruchs gegenüber. Diese Achse ist die Achse der Treue: Eine Voraussetzung für eine friedliche und vollkommene Welt ist die Treue zum Partner. Untreue führt zu Verletzungen und Unfrieden, nicht nur in der Ehe; auch im Bund mit Gott.

Die dritte und somit mittlere Achse ist die des Respekts vor dem Eigentum: die Gottes und die des Mitmenschen. Alles, was Gott wirklich alleine besitzt, ist sein Name. Diesen zu missbrauchen ist wie dem Mitmenschen den Besitz zu stehlen. Wer den Namen Gottes missbraucht; gar im Namen Gottes mordet, sündigt links und rechts; in Tateinheit gegen Gott und gegen Mensch.

Die vierte Achse machen als Pole das Schabbat-Gebot und das Verbot der falschen Aussage aus. Dies ist die Achse des Zeugnisses: die für Gott und die für den Mitmenschen. Wer den Schabbat hält, legt Zeugnis darüber ab, dass Gott der Schöpfer ist. Nicht der bloße Zufall, sondern ein Schöpfer steht demnach hinter der Schöpfung, von der man schließlich auch selbst ein Teil ist. Dies verleiht Demut und zugleich Selbstwertgefühl. Den Mitmenschen, der ja auch Teil der Schöpfung ist, hat man in ähnlicher aufrichtiger Weise zu bezeugen, nicht nur vor Gericht, sondern bei jeder Begegnung.

Martin Buber bemerkte:„Jedes wirkliche Leben ist Begegnung.“ Dann wird aus „Ich“ und „Du“ auch „Wir“, ganz im Sinne des Schöpfers und des beschriebenen Musters. Das sollte auch für Gutmenschen, Wutbürger und Weltethiker gelten, von theologischen und politischen Antisemiten und Abgeordneten der „Linken“ ganz zu schweigen. Bei ihnen allen ist eine gewisse Abneigung zum Individualismus zu erkennen. Aus dieser Abneigung heraus kommt wohl die Unterstellung: die Juden würden „teilen und verschmelzen“, bis es ihnen passt. So bekommen sie die Sonderstellung, die sie verkörpern. Diesem Irrsinn über den jüdischen Drang zum Besonderen folgten schon die Disputationen im mittelalterlichen Spanien.

Tatsächlich wird aber umgekehrt ein Schuh draus. Die fünfte und damit letzte Achse des Dekalogs ist geradezu eine Unterstreichung unter dem gesamten Dokument gegen einen solchen Putsch: Es ist die Achse der Identität und Autorität. Genauso unabänderlich und respektabel wie die Beziehung zu den eigenen Eltern ist, ist auch die Beziehung des Mitmenschen zu allem, was ihn identifiziert. Nichts, was diese Identität ausmacht, soll man begehren. Wie die Autorität der Eltern, soll auch die Identität des Mitmenschen respektiert werden. An dieser Achse wird deutlich, weshalb die erste Tafel nicht ausschließlich aus Geboten zwischen Gott und Mensch besteht, sondern eben aus solchen bejnAdam la-Makom: zwischen Mensch und Autorität. Gott teilt seine Autorität und vererbt sie für die Ewigkeit von Generation zu Generation. 

Die Autorität der Eltern ist somit von Gott gegeben und damit nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für sie eine Verpflichtung. Somit gibt es eine immerwährende Ur-Verantwortung (statt Ur-Sünde). Hier ist übrigens nicht von Liebe die Rede, sondern eben von Respekt. Das Verhältnis zu den Eltern ist derart komplex, dass selbst Gott nicht verlangt, sie zu lieben. Ähnlich komplex ist das Verhältnis zum Mitmenschen. Deshalb steht das Gebot der Nächstenliebe ganz woanders in der Torah (Lev. 19:18) und nicht im Dekalog. Wenn man den Mitmenschen nicht lieben kann,  reicht es demnach, wenigstens seine Identität anzuerkennen. Schon deswegen steht diese Regel am Ende des Dekalogs wie eine Zusammenfassung. Hillel drückte diese Norm im Talmud (Schabbat 31a) als „Goldene Regel“ aus: „ … das ist die ganze Torah, der Rest ist Kommentar“. Auf Deutsch lässt sich die „Goldene Regel“ sogar als Merkreim formulieren: „Was Du nicht willst, was man Dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“

Wie ein roter Faden durchzieht das Schöpfungsmuster aus Genesis alle Bücher der Heiligen Schriften im Judentum (aber auch im Christentum). Dieses Muster ist allerdings in den christlichen Versionen nicht (mehr) deutlich erkennbar. Die Zehn Gebote sind ein beredtes Beispiel dafür. Nur in der jüdischen Version wird das Schöpfungsmuster von Genesis konsequent fortgeführt. Sie stehen so sehr für dieses Schöpfungsmuster, dass unsere Weisen ihre Lesung in die Fest-Liturgie für Schawu’oth aufgenommen haben. Zu Schawu’oth feiern wir Mattan Torah, die Übergabe der Torah. Die Asseret haDibroth sind wie eine Voranzeige dazu: schließlich brachte Moses diese beiden Tafeln vom Berg herab zur Übergabe der Torah an das Volk. Das feiern wir zu Schawu’oth. Die Annahme der Torah und der Gebote ist dagegen täglich; immer.

Es ist wie mit den Kräuter-Bonbons: wer hat’s erfunden? Nicht nur dem Schweizer Hans Küng sei diese Frage gestattet. Schließlich geht es ihm um Großes: „Kein neues Weltsystem ohne neues Weltethos“ („Global Ethic Now“) mit den Zehn Geboten als „Basis für ein gemeinsames Grundethos von Judentum, Christentum und Islam“ (ebenda). Nicht mehr und nicht weniger; daran soll die Welt genesen.

Möge der Heilige Geist am baldigen christlichen Wochenfest (=Pfingsten) über alle Gutmenschen und Wutbürger kommen. Schaden kann’s nicht.

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