Anmerkungen zur Suizidalität*

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Prof. Dr. Dieter Wittmann
Parkstraße 17, 67061 Ludwigshafen

1. Suizid zwischen „Freitod“ und „Selbstmord“

Ich möchte meine Überlegungen zum Problem der Suizidalität mit der Frage beginnen: Ist die Suizidhandlung eines Menschen eine freie Willensentscheidung oder Ausdruck seiner Fremdbestimmtheit? Die erste Position spiegelt sich in dem Begriff des „Freitodes“. Dieser Begriff birgt die Verstehensmöglichkeit in sich, ein Mensch gehe auf dem Hintergrund einer freien und klaren Entscheidung in den Tod. In der philosophisch-theologischen Tradi­tion ist der Freitod immer unter der Vorgabe der anthropologischen Frage diskutiert worden, wie es denn mit der Freiheit des Individuums bestellt sei. Die ältere Tradition hat darauf mit einer Position reagiert, die dem Menschen den freien Willen für seine Tat unterstellte. Soweit der Suizid unter medizinisch-psychiatrischen Kategorien betrachtet wird, besteht die Tendenz, Suizidalität im Kontext von Krankheit zu erklären. Krankheit aber wird in der Regel als etwas vom individuellen Menschen nicht zu verantwortendes Widerfahrnis verstanden. In den eher psychologisch, psychoanaly­tisch und humanwissenschaftlich orientierten Theorien zur Suizidalität wird das suizidale Ge­schehen im Kontext seelischer und sozialer Verwerfun­gen diskutiert.

Der andere in der Diskussion am häufigsten ge­brauchte Begriff „Selbstmord“ spricht von einer kriminellen Handlung eines Individuums gegen sich selbst und betont stark den autoaggressiven Aspekt. Dieser Begriff lässt offen, ob der Selbstmord Folge einer Determiniertheit oder einer freien Entscheidung ist, in jedem Fall ist er Ausdruck eines selbstvergessenen und entfremdeten Handelns. Folgt man Freuds Gedankenführung in seiner Abhandlung „Trauer und Melancholie“ (Freud 1914/1917), dann handelt es sich bei einer Suizidhandlung um einen Stellvertreter-Mord jenseits des freien Willens. Der in der wissenschaftlichen Sprache gewählte Begriff Suizid, aus dem Lateinischen sui caedere – sich selbst fällen – abgeleitet, will den Vorgang gewissermaßen in ein neutrales Feld stellen, der ihn aus den eben genannten Bewertungen heraushält. Schon an den Begriffen zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit der Suizidalität offensichtlich zu einem zentralen Problem des menschlichen Selbstverständ­nisses führt.

2. Suizid als spezifische Form der Todes- und Lebenserfahrung

Die Suizidalität ist quantitativ gesehen, etwa im Vergleich mit der Drogen- und Alkoholproblematik, den Unfällen aller Art oder den großen Zivilisationskrankheiten, eher ein marginales gesellschaftliches Problem. Gleichwohl ruft sie in hohem Maße Angst und Schuldgefühle hervor und gewinnt auf diesem Wege ihre große Bedeutung. Dem Selbstmord muss also etwas inne wohnen, was ihn spannungsvoller, befremdlicher, verruchter und damit im gewissen Sinne auch interes­santer macht als viele andere Todesarten. Offensichtlich ist der Suizid mit psychischen und sozialen Prägungen verbunden, die ihm Ablehnung und Unverständnis zuteil werden lassen. Mit der Suizidproblematik scheint etwas Unordentliches, Chaotisches, sich jeder Ordnung Widersetzendes und deshalb auch Angstvolles assoziiert zu werden, was nicht nur Ablehnung bewirkt, sondern auch lustvolle Neugierde. Nicht umsonst wurde und wird der Suizid wegen dieser Ordnung und Gesellschaft auflösenden Tendenzen bis in die Neuzeit hinein sanktioniert. Seine mörderische, destruktive, Angst und Schuld aktivierende Seite muss verhindert werden.

Suizidalität konfrontiert uns in besonders provozierender Weise mit dem Tod. Die Fähigkeit aber, mit dem Tod konstruktiv umgehen zu können, und das hieße ja nicht nur, Möglichkeiten zur Trauerarbeit nach einem Verlust zu finden, die dem betroffenen Individuum wieder einen Neuanfang und Wach­sen erlauben, sondern auch das Leben in schwierigen Phasen zu bejahen, ist in unserer Gesellschaft schwierig geworden. Die Ursache dafür ist das in individuellen und kollektiven Zusammenhängen festzustellende Verschwinden von rituellen und religi­ösen Todeserfahrungen und deren Begehung im Lebensalltag. Damit aber wird die eigene Endlichkeit aus dem Blick verloren, die Radikalität des Todes geleugnet und den Unsterb­lichkeitsphantasien Vorschub geleistet. Zwar wird der Tod auch heute noch, wie schon zu allen Zeiten, als Bedrohung und existenzielle Herausforderung erfahren, jedoch wird dieser Herausforderung im Lebensalltag keine Sprache mehr gegeben. Die Religionen, die im Grunde genommen alle im Zentrum ihrer Aussagen eine Auseinandersetzung mit dem Tod führen, hatten ursprünglich diese Aufgabe übernommen. Das Verstummen oder das Leiserwerden der Antwort der Religionen in der Gegenwart hat zur Folge, dass Individuen ohne zufriedenstellende Antwort angesichts dieser zentralen Lebensproblematik bleiben.

Die do­minante Antwort unserer Zeit auf die Todesproblematik basiert auf dem aufgeklärten naturwissenschaftlichen Para­digma. Damit ist sicherlich weithin dem bewussten Verstande Genüge getan, weil seine Fragen mit einer dem logischen und aufgeklärten Denken entspringenden Antwort erledigt werden. Unbefriedigt bleiben je­doch die Bedürfnisse der Psyche. Sie vereinsamt und hungert aus, weil ihr von außen keine Nahrung mehr zugeführt wird. Sie reagiert darauf mit einer Verstärkung der Angstproblema­tik und gleichzeitig mit einer heftigen Abwehr dieser Angstproblematik. Der Tod kann zwar nicht als biologisches Phänomen geleugnet werden, aber der psychischen Auseinandersetzung mit ihm wird weitestgehend aus dem Weg gegangen. Wenn aber der Tod in der eben beschriebenen Weise tabuisiert und eine bewusste Auseinandersetzung mit allen Mitteln vermieden wird, so muss es nicht wun­dern, dass der Suizid zu einer unliebsamen Konfrontation mit der Todesproblematik wird.

Die etwaige Vermutung, der Fortschritt der Medizin/Psychiatrie/Pharmakologie habe eine Verringerung der Suizidproblematik zur Folge, geht in die Irre, zumal wenn wir die mit der Suizidalität verwandten Pathologien hinzunehmen, wie die Alkoholproblematik, die Suchtproblematik, die zunehmenden seelischen Krisen, das Anwachsen von menschlicher Bereitschaft, sich in Gefahrensituatio­nen (wie z.B. Autoverkehr, bestimmte Sportarten) zu begeben und Konflikte destruktiv und kriegerisch zu lösen. Offensichtlich zeigt sich an dem Problem der Suizidalität auch etwas über den Zustand einer dominant hedonistisch orientierten Gesellschaft und deren Indivi­duen in Bezug auf ihre Lebens- und Todeseinstellung. Schon E. Durkheim (1897) ist in einer ersten umfassenden soziologischen Untersuchung dem Zusammenhang von Suizidalität und gesellschaftlicher Verfasstheit nachgegangen.

Der suizidgefährdete Mensch will unbedingt aus dem Leben scheiden, nicht etwa, weil er alt und lebenssatt ist, sondern weil er nicht mehr so leben kann wie er augenblicklich lebt, und weil der Abbruch dieses Lebens allemal besser ist, als so weiter­leben zu müssen, wie er bisher gelebt hat. „…die selbstempfundene Situation des Suizidalen (ist) die, nicht leben und nicht sterben zu können…. Die suizidale Dynamik ist letztlich auf Lebensbeziehungen aus, die es dem Menschen erlauben, leben und sterben zu können“ (Jörns 1979,27). Das impliziert aber zugleich, den Tod nicht als Folge eines gelebten Lebens zu sehen, sondern als eine letzte Möglichkeit, die in der suizi­dalen Situation erstrebenswerter scheint als das gerade gelebte Leben. Das Sterben des Suizidanten ist deshalb auch nicht Bejahung des Todes als Abschluss eines menschlichen Lebens, ist nicht von der Einsicht in die biologische Gesetzmäßigkeit des Lebens bestimmt, sondern ist die Konsequenz aus einer Ausweglosigkeit und Konflikthaftigkeit, eben einer Einengung, die offensichtlich allein der Tod öffnen, weiten und verwandeln kann.

Das Erschrecken der im Umkreis des Suizidanten lebenden Men­schen über diese menschliche Möglichkeit ist nun deshalb so groß, weil das Suizidgeschehen in der Regel aus der Perspektive dogmatischer, ethischer, sozialer oder psychiatrischer Vorgaben betrachtet wird, die es verhindern, die indi­viduelle suizidale Dynamik einfühlsam anzunehmen. Angehörige, Bekannte und Freunde suizidgefährdeter Men­schen, aber auch viele professionelle Helfer, zeigen angesichts der suizidalen Dynamik die Tendenz, vor dem suizidalen Drang zurückzuweichen. So besteht denn auch die Reaktion dieser Menschen auf die suizidale Dynamik häufig aus aggressivem Agieren in der Kommunikation mit suizidalen Menschen, etwa in der Form des Moralisierens, des Beziehungsabbruchs, der vorschnellen Einweisung in die Psychiatrie u.ä. Daran ist zu erkennen, wie die suizidale Dynamik sowohl die Schuldproblematik als auch die Angst vor dem Tod aktiviert. Wir kommen zu der Einsicht: Der suizidgefährdete Mensch und der mit diesem Wunsch konfrontierte Mensch sind in ihrer je spezifischen Weise der Todesauseinandersetzung miteinander verbunden. 

Nun müssen wir aber noch der Frage nachgehen, welche Bedeutung der Tod für den suizidgefährdeten Menschen hat (Reiner 1974). Es scheint ja so, als ob bei diesen Menschen eine weniger starke Angst vor dem Tod vorherrsche. Es ist festzustellen, dass diese Menschen von sich aus so gut wie nie über den Tod sprechen. Werden sie nach ihrer persönlichen Einstellung zum Tod befragt, so zeigt sich, dass der akute Konflikt, weshalb sie suizidieren wollen, vorherrschend ist und der Tod als einzige Möglichkeit angesehen wird, aus diesem Konflikt heraus zu kommen. Bei ihnen existiert gleichzeitig der Wunsch, sowohl sterben als auch leben zu wollen. Suizidale Menschen verbinden mit dem Tod durchaus etwas Hoffnungsvolles, sei es, weil damit ein akuter Konflikt beendet wird, sei es, weil sie von der permanenten konflikthaften Auseinandersetzung mit der Sinnlosigkeit ihres Lebens erlöst werden. Die suizidale Handlung eröffnet durchaus eine Zukunftsperspektive, weil damit eine Aufrechterhaltung der eigenen Identität geschaffen wird. Was das Leben nicht zu verwirklichen mochte, soll der Tod nun realisieren. Der suizidale Wunsch ist also zielgerichtet auf Konfliktlösung und Bewahrung der Identität. Der suizidale Mensch und der den Suizid diffamierende Mensch haben in je eigener Weise Schwierigkeiten, sich adäquat zum Tod in Beziehung zu setzen. Bei beiden besteht die Tendenz, Leben und Tod nicht als zusammengehörig in den Lebensvollzug zu integrieren, sondern Leben und Tod aufzuspalten, entweder in ein sinnloses Leben, das nur den – idealisierten – Tod anstreben kann, oder in eine angstbesetzte Todesvermeidung mit daraus folgenden Unsterblichkeitswünschen und hedonistischen Lebensentwürfen (Scherer-Rath u.a. 2002).

3. Suizid als „eilige Wandlung“

Wenn unsere Vermutung stimmt, Suizidalität stelle eine spezifische Form der Lebens- und Todesauseinandersetzung dar, dann müssen wir die Frage weiter verfolgen, was der Tod und die Todeserfahrung für einen Menschen bedeuten und in welchem Zusam­menhang dazu die Suizidhandlungen stehen. Wir beginnen nicht damit, zuerst nach der Einordnung der ideologischen, religiösen oder wissenschaftlichen Dimension des suizidalen Wunsches zu fragen. Vielmehr suchen wir nach der „Seelengeschichte“ im Kontext der im Suizidwunsch deutlich werdenden Todesauseinander­setzung des betreffenden Individuums. Diese suizidale Dynamik, die uns in dem nachdrück­lichen Wunsch, in den Tod zu gehen, begegnet, wollen wir als Ausdruck einer „eiligen Wandlung“ verstehen, gleichsam einem Wunsch nach Neuwerdung (Hillman 1966, 54f., 73f.). 

Damit fragen wir, weshalb ein Mensch sich bisher in seinem Lebensvollzug dem Durchschreiten der anstehenden seelischen Wandlungsstufe, z.B. vom Jugendlichen zum Erwachsenen, verweigerte. Weshalb versäumte er, sie zu durchlaufen und muss nun die radikalste aber auch die letzte Wandlungsstufe eilig und destruktiv herbei zwingen, nämlich den Tod? Jede neue biologische und psychische Lebensstufe zieht den Tod der vorange­gangenen Lebensstufe nach sich, impliziert eine Wandlung, die Früheres zurück lässt und Neues an die Stelle setzt. Wandlungserfahrungen sind daher auch immer Todeserfahrungen, die durch konkreten Lebensvollzug, teils rituell begangen, teils erlebt, durchlitten und integriert werden müssen. C. G. Jung sagt in diesem Zusammenhang: „… natürliche Wandlungen … bilden die Grundlagen zu allen Wiedergeburtsvorstellungen. Die Natur selbst verlangt einen Tod und eine Wiedergeburt… Es gibt natürliche Wandlungsvorgänge, die uns zustoßen, ob wir es wollen oder nicht und ob wir es wissen oder nicht. Diese Vor­gänge entfalten erhebliche Wirkungen, die an sich schon einen nachdenklichen Menschen veranlassen können, sich Rechenschaft darüber zu geben, was ihm eigentlich zugestoßen sei“ (Jung 1935/1954, 144).

4. Suizid als Versuch einer Befreiung aus psychischer und sozialer Einengung

Diese Einsicht, dass sich der suizidale Mensch in einer Situation befindet, die durch die Verweigerung, die vom Leben vorgegebenen Wandlungen anzunehmen und zu durchlaufen bestimmt wird, wird durch die Theorie des „präsuizidalen Syndroms“, ein in der Fachwelt wichtiges und anerkanntes diagnostisches Instrument, das der Psychiater Erwin Ringel (Ringel 1953, 5) konzipierte, bestätigt. Ringel hat die typischen Einzelzüge, die die seelische und soziale Verfassung eines Suizidgefährdeten kennzeichnen, im „präsuizidalen Syndrom“ zusammengefasst. Es besteht aus der Einengung, der gehemmten und gegen die eigene Person gerichteten Aggression und den Suizidphantasien. „Normalerweise hat der Mensch eine Fülle von Möglichkeiten der Lebensgestaltung und Lebensentfaltung. Im präsuizidalen Status ist jedoch dieses Gefühl, weitere Expan­sionsmöglichkeiten und eine Zukunft vor sich zu haben, völlig verloren gegangen. 

Es herrscht die Grundstimmung vor, situativ, dynamisch und affektiv „von allen Seiten eingeengt und in einen unspreng­baren Rahmen eingepresst zu sein“. Der betroffene Mensch wird zu einer erstarrten Persönlichkeit mit einer „Art Uniformierung und Ein­förmigkeit des Verhaltens, das durch Spontaneitätsverlust, passives Verhalten und Hem­mung gekennzeichnet ist. Die Apperzeptionen und Assoziationen verlaufen nach einem star­ren Einheitsmuster in Richtung immer wiederkehrender negativer Gedankenabläufe und pessimistischer Gedankeninhalte…. Im af­fektiven Bereich tritt immer mehr das bedrückende und unerträglich werdende Gefühl in den Vordergrund, von negativen Einstellungen nicht mehr loszukommen. Die dynamische Einen­gung als intrapsychischer Vorgang bedeutet einen wirklichen Verlust an innerer Freiheit, zu­mal sie … sonst vorhandene psychische Möglichkeiten beschneidet. 

Aus der dynamischen Einengung resultiert ebenfalls eine Einengung im zwischenmenschli­chen Bereich, sei es in der Form der Entwertung vorhandener Beziehungen, sei es in der Form der zahlenmäßigen Re­duktion bis zur totalen Abhängigkeit von einer einzigen Bezugsperson oder gar in der Form der völligen Isolation. In ähnlicher Weise erfolgt auch eine Einengung der Wertewelt, deren Charakteristik in der Verarmung der Wertbeziehung und des Wertempfindens… und schließlich im Verlust der gestalterischen Kraft bestimmter Wertinhalte …besteht.“ Neben die Einengung tritt die Aggressionshemmung und -umkehr, die in der Vorgeschichte von suizidgefährdeten Menschen in leichtsinnigem und selbstverletzendem Verhalten, Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse oder auch in Schuldgefühlen nachgewiesen werden können. Nicht zuletzt gehören auch die festhaltenden und zwanghaften Suizidphantasien zum Vollbild des praesuizidalen Syndroms (vgl. zum ganzen Abschnitt: Holderegger 1979, 182ff).

Ein anderer, nicht weniger lucider Theorieentwurf zur Suizidalität, der im Grunde genommen ebenfalls das Phänomen der Einengung beschreibt, ist die Studie von H. Henseler „Narzisstische Krisen“ (1974). Die Einengung wird unter einem genetisch-dynamischen Aspekt der suizidalen Entwicklung als narzisstische Krise beschrieben. Der narzisstisch gestörte Mensch, gemeint ist der in seinem Selbstwertgefühl eingeengte Mensch, kommt mit dem Suizid aktiv der narzisstischen Katastrophe zuvor, die in einem Übermaß psychisch nicht mehr zu bewältigender narzisstischer Kränkung bestände, „um unter Verzicht auf die eigene Individualität die ‚Verschmelzung’ mit einem diffus erlebten frühen Objekt dennoch zu garantieren“ (Holderegger 1979, 192). Der „Gang zu den Müttern“, die Rückkehr in den Uterus ist nur durch das Tor des Todes zu erreichen. Psychische und auch soziale Einengung lässt Leben stagnieren und verhindert Wandlungserfahrungen. Damit wird der Suizidale einer der Natur, der Welt und dem Leben zugehörenden Grundvoraussetzungen beraubt.

5. Lebensnotwenige Wandlungserfahrungen

Erst das Verlassen fixierter Lebensstufen und das Sich-Einstellen auf adäquate Lebensstufen befördert den Fluss des Lebens. Die Todeserfahrung, gerade im Kontext des Suizidwunsches, ist durchaus ein Teil davon, weil diese Bereitschaft, sich für Neues zu öffnen, den Tod der vorangegangenen Lebensstufe nach sich zieht. Wir sterben gleichsam Altem ab, um auf einer neuen Stufe wiedergeboren zu werden. (Dies ist ein Gedanke, der in der Bibel eine zentrale Rolle spielt. Vgl. etwa 2. Korinther 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe ein Neues ist geworden.“) Überhaupt ist Natur, Welt und Leben durch Wandlungsvorgänge bestimmt: Die Jahreszeiten, Tag und Nacht, Geborenwerden und Sterben sowie die Übergangsphasen allen Wachsens. Es gibt kein gelungenes Leben ohne Wandlungserfahrung. Unser Leben vollzieht sich in Stufen und das Zurückbleiben auf einer niedrigen Stufe bedeutet Stagnation, Unterentwicklung, Krankheit und schließlich Tod. 

Im Umgang mit suizidgefährdeten Menschen ist das Auftauchen dieses Wandlungsaspektes immer dann zu beobachten, wenn uns Menschen mit der Tatsache konfrontieren, dass sie ihr Leben, so wie sie es jetzt erleben, nicht mehr für lebenswert erachten. Da sie sich in dieser Lebens­situation nicht mehr aus ihrem eingeengten Lebenszustand befreien können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihren Körper abzutöten, über den allein sie noch Macht haben. Der suizidale Mensch will nicht nur allein seiner leidvollen Situation ein Ende setzen, sondern dahinter liegt der Wunsch verborgen, das zu werden, was er noch nicht ist oder sein kann. „Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Selbstmordimpuls ein Wandlungstrieb“ (Hill­man, 1966, 94f.). Das Wachsen eines Menschen ist nicht die Aneinanderreihung neuer Elemente, sondern das Aufgeben alter Po­sitionen, ist die Wandlung, die jede neue Stufe des Lebensweges bewirkt. Die Todesauseinandersetzungen auf diesem Weg sind unausweichlich, weil erst durch sie der Entfaltungs- und Reifungsprozess der Seele in Gang kommt, durch sie die notwendigen Wandlungen des Lebens erreicht werden. Es geht also um die Entfaltung des Lebensent­wurfes des einzelnen Menschen und um das Finden einer Antwort auf die Frage nach dem individuellen Sinn der menschlichen Existenz. 

6. Religiöse Aspekte der Suizidproblematik

Wenn ich davon spreche, dass die Todeserfahrung eines Individuums für den Menschen von lebenserweiternder Bedeutung ist, weil er existentielles Wissen über sich selbst dabei erhalten kann und es letztlich dabei um sein Heil geht, nähere ich mich der religiösen Gedankenwelt. In den mir bekannten, vorwiegend naturwissenschaftlich begründeten Theorien zur Suizidalität und den daraus abgeleiteten Therapie- und Beratungskonzepten tritt eine Auseinandersetzung mit der religiösen Dimen­sion des Suizidgeschehens, abgesehen von ethischen Kommentierungen, in den Hintergrund. Es scheint so, als ob viele Konzepte aus Angst, dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit zu verfallen, dieser Position gegenüber Zurückhaltung zeigen. Viele Menschen sind in ihrer Entwicklung stecken geblieben, weil sie „die religiösen Ansprüche ihrer Seele infolge des kindischen Aufklärungs­wahns nicht wahrgenommen haben“ (Jung 1951, 49). Psychische Ge­sundheit hat auch immer etwas mit religiöser Einstellung zu tun. Die suizidale Problematik führt uns also mitten in das Zentrum der religiösen Frage, insofern die eigentli­che religiöse Frage die Frage nach dem Sinn unseres Seins ist. In der Religion wird die Frage nach dem Sinn unseres Seins gestellt und eine Antwort gegeben. Und darum, „wo im­mer diese Frage mit unbedingtem Ernst und unendlicher Leidenschaft gestellt wird, da ist Religion, ganz gleich, ob in der Antwort von Gott die Rede ist oder nicht“ (Tillich 1962, 201).

Schließen wir uns der Defini­tion von Religion in dem zitierten Sinne an, dann kann es gar keine Frage sein, dass die Auseinandersetzung mit der Todesproblematik in ganz besonderem Maße im Kontext der Suizidproblematik eine herausragende religiöse Di­mension eröffnet. Wir nehmen Schaden an unserer Seele, wenn wir unser Leben zu sehr im äußeren Leben, am Machbaren und Therapierbaren orientieren. Die Auseinandersetzung mit unserer eigenen christlichen Tradition, in deren Zentrum eine Wandlungssymbolik von höchster Fas­zination steht – ich verweise hier insbesondere auf den Schöpfungs- und Auferstehungs­mythos, die Wunderberichte, die Taufe sowie das Abendmahl bzw. die Messe –, kann auch dem modernen Menschen einen Bedeutungshorizont für die Relevanz von Wandlungsvorgängen eröffnen. In ihnen sind jene Urbilder der Wandlung lebendig, die auch in das Leben der modernen Menschen hineinwirken. Ein Stummwerden dieser Wandlungssymbole bedeutet eine Entleerung unseres Lebens, weil wir durch ihr Ausblenden den transzendentalen Bezug verlieren und in eine Öde hinabsinken, in der es keine Wandlungssymbolik mehr gibt, die schließlich zu einer Erstarrung inneren und äußeren Le­bens führt (Barz 1973).

Die Betrachtung und der Zugang zu diesen fundamentalen Vorgängen werden zum Königsweg des Verstehens der suizidalen Situation eines Menschen. Die Sym­bole der Wandlung sind am Verstummen und es gibt in unserer Welt Anzeichen eines kollek­tiven Selbstmordes, der ein Signal dafür wäre, dass sich unsere Welt keiner echten Wand­lung mehr unterzieht und dem suizidalen Drang nach eiliger Wandlung, einer unbewussten Erlösungssehnsucht unterliegt. Der ökologische Zustand unserer Welt, die Perfektionierung der militärischen Tötungsmaschinerien, die Situation der Dritten Welt und nicht zuletzt der Terrorismus mit den damit zusammenhängenden und den daraus folgenden destruktiven Gewaltexzessen sind unübersehbare Hinweise. 

7. Der Suizidgefährdete und seine Helfer

Ich habe einen besonderen Nachdruck auf die Einsicht gelegt, Suizidalität als die Folge einer versäumten Todes- und damit auch Lebens­auseinandersetzung zu verstehen, die Folge einer eingeengten menschlichen Existenz ist. Erweiterung, Neuwerdung und Wandlung haben zwingend die Konfrontation mit der Todesproblematik zur Voraussetzung. Diese Auseinandersetzung bleibt aber nicht nur auf den suizidalen Menschen beschränkt, sondern in dem Augenblick, wo sich Angehörige, Helfer, Menschen im sozialen Umfeld auf die suizidale Dynamik einlas­sen, wird sie auch zu einer Anfrage an diese Menschen, wie sie es denn mit der Bereitschaft, sich der Todesproblematik auszusetzen, halten. Es kann gar keinen Zweifel darüber geben, dass von dieser Antwort für den Hilfeprozess bzw. den therapeutischen Prozess ungeheuer viel abhängt.

Man darf die Tat­sache, dass gerade die suizidale Dynamik eines Menschen für diesen zum ersten Anlass wird, sich mit der Todesproblematik zu konfrontieren, nicht gering schätzen. Insofern kann dieser vordergründig defizitäre Mensch, dessen ganzes Sinnen und Trachten nach dem endgültigen Tod zielt, den Menschen seines sozialen Umfeldes einen Schritt voraus sein, die bisher der Todeskonfrontation aus dem Weg gingen. In dieser Situation sind Aufforderungen, die einer unbedingten Suizidverhütung das Wort reden, Strategien von Individuen, die eher von dem Widerstand, sich mit der Todesproblematik und der damit verbundenen Angst auseinanderzusetzen, bestimmt werden und weniger an dem Suizidalen mit seinem drängenden Todeswunsch mit den verborgenen Hintergründen interessiert sind. Das heißt ja nichts weniger, als dass das ableh­nende, diffuse, ängstliche Verhalten der meisten Menschen gar nicht dem Todeswunsch des Suizidalen gilt, sondern der eigenen Angst vor dem Tode.

Wenn aber die Angst vor dem Tod häufig genug die entscheidende Komponente in der Kommunikation mit einem suizidalen Menschen wird, dann wird dem Tod ein Platz außerhalb des Lebens zugewiesen. Konsequenterweise kann der Tod überhaupt, und der verfrühte suizidale Tod im Besonderen, schon gar nicht als conditio humana akzeptiert werden. Sind wir dazu in der Lage, uns der suizidalen Dynamik unvoreingenommen auszusetzen, dann wird es nicht unser wichtigstes Interesse werden, die Suizidalität eines Menschen unter statistischen, theologischen, soziologischen, medi­zinischen oder psychologischen Vorannahmen zu betrachten, sondern uns zuerst auf den Todeswunsch einzulassen. Deshalb ist es außerordentlich problematisch, wenn im Namen einer Suizidverhütung Widerstand und Abwehr den Todeswünschen eines suizidgefährdeten Menschen entgegen gesetzt werden, weil nicht nur der Widerstand den Drang sich zu töten noch zwanghafter macht und die Faszination des konkreten Todes erhöht, sondern auch der Zugang zu der inneren Seelenwelt ausbleibt. Damit wird auch ein Missverständnis abgewiesen, als ob es unwichtig sei, ob ein Mensch suizidiere oder nicht.

Die Annahme des Todeswunsches macht es möglich, den Todeswunsch nicht mehr im tatsächlichen Tod ausagieren zu müssen. Wenn hingegen der suizidale Mensch allein zum pathologi­schen Fall gemacht wird, so wie es viele ähnliche und gleiche Fälle gibt, die statistisch nivel­liert werden können, wird die Möglichkeit verspielt, nach der nur für dieses Individuum gel­tenden Todeserfahrung zu fragen, eben nach dem Sinn dieses auf den Tod drängenden Le­bens zu suchen. 

8. Der suizidale Mensch im Spannungsfeld von Freiheit und Determination

Können wir auf dem Hintergrund der vorgetragenen Überlegungen noch davon sprechen, dass es sich bei einem Suizid um einen freiwilligen Akt eines Individuums handelt, oder müssen wir nicht eher zur Erkenntnis kommen, dass Suizidalität allemal aus einer sozialen und psychi­schen Determination entspringt? Wenn wir den Todes­wunsch des suizidalen Menschen als einen Wandlungswunsch, ja mehr noch als einen Wandlungstrieb verstehen, als den autoaggressiven Versuch, einer Einengung zu entrinnen, dann ist die Annahme einer Willensfreiheit, im Sinne des neutralen Wählens aus einem vorgegebenen Werteangebot, nicht ohne Einspruch aufrechtzuerhalten. Triebe aber sind etwas den Menschen Überfallendes, von ihm nur schwer zu kontrollieren, ihn also Fremdbestimmendes. Auch der Tod selbst wird vom Menschen als ihn etwas Determinierendes hingenommen werden müssen und kann nicht Gegenstand der Wahl sein. Es kann nur geschehen, dass er wie im suizidalen Fall früher oder nach einem gelebten Leben später hingenommen werden muss.

Gleichwohl geht es bei dem suizidalen Wunsch um Freiheit. Die Chance des Menschen zur Vergrößerung seiner Freiheit besteht darin, dass er, obwohl er wie alle anderen Geschöpfe Kräften unterworfen ist, die ihn bestim­men, doch das einzige vernunftbegabte Wesen ist, das die Kräfte begreift, die es unterwerfen und in Abhängigkeit halten. Dank dieser Fähigkeit zum Verstehen und Begreifen kann der Mensch jene Elemente festigen, die ihm seinen Freiraum vergrößern. Dies ist aber keine Gesetzmäßigkeit und kann auch nicht herbeigezwungen werden.

Suizidalität im Kontext der Kräfte zu betrachten, die dem Individuum eine Begegnung mit sich selbst ermöglichen, macht dort Sinn, wo diese Fähigkeit dem Suizidalen zuwächst und er damit seinen Wunsch in den Dienst der Gewinnung von Befreiung einmünden lassen kann. Die Rede vom Freitod wird aber dort widersprüchlich, wo sich die Elemente, aus denen heraus sich der drängende Todeswunsch entwickelt hat, dem verstehenden Zugang in den Weg stellen, autonom werden und nach Verwirklichung streben. Der physische Tod ist keines­wegs das eigentliche Ziel eines suizidalen Menschen, er kann es aber sein.

An das Ende meiner Ausführungen will ich ein paar Verse aus Hermann Hesses berühmtem Gedicht „Stufen“ stellen, die die Bedeutung des Wandlungsgeschehens im Leben eines Menschen zusammenfassen:

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen,

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;

nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“

*Vortrag gehalten vor der Evangelischen Akademikerschaft in Ludwigshafen am 4. Juni 2012. Für die Veröffentlichung überarbeitet und ergänzt.

 
Literaturangaben

 

Barz, H. (1973), Selbst-Erfahrung, Tiefenpsychologie und christlicher Glaube, Stuttgart

Durkheim, E. (1897), Der Selbstmord (franz.: Le suicide Paris 1897), Neuwied/Berlin 1973

Freud, S. (1915/1917), Trauer und Melancholie, Studienausgabe Bd.3, Frankfurt 1982

Henseler, H.(1974), Narzißtische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords, Hamburg

Hillman, J. (1966), Selbstmord und seelische Wandlung, Eine Auseinander­setzung, Stuttgart

Holderegger, A. (1979), Suizid und Suizidgefährdung, Humanwissenschaftliche Ergebnisse, Anthropologische Grundlagen, Freiburg (Schweiz) /Freiburg/Wien

Jörns, K.-P. (1979), Nicht leben und nicht sterben können. Suizidgefährdung – Suche nach dem Leben, Wien/Freiburg/Basel

Jung, C. G. (1935/1954), Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, in: GW IX, 1, 1978, 3. Aufl.

Jung ,C. G. ( 1951), Grundfragen der Psychotherapie, in: GW. XVI, 1958

Reiner, A. (1974), Ich sehe keinen Ausweg mehr. Suizid und Suizidverhütung. Konsequenzen für die Seelsorge, Mainz 1976, 2. Aufl.

Ringel, E. (1953), Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung, Wien/Düsseldorf

Scherer-Rath, M./ van der Ven, J. A./ Felling, A. J. A., Einstellung zum Tod in der Suizidkrise aus empirisch-theologischer Perspektive (2002), in: Suizidprophylaxe 110, Jg. 29,2, S. 66ff

Tillich, P. (1962), Auf der Grenze, Stuttgart

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