Christliche Kirche und säkulares Web

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Kritische Impulse zur totalen Digitalisierung

Prof. Dr. Werner Thiede
Richard-Wagner-Straße 8, 75242 Neuhausen

Auf dem Internet-Tag der Bayrischen Landeskirche erklärte der geladene Netzaktivist Markus Beckedahl, die evangelische Kirche könne bei Politikern für einen offenes Internet werben. Sie habe die nötige Infrastruktur, um alle Menschen beim Thema Netzpolitik mitzunehmen. In diesem Sinn gibt es einen wachsenden Trend, Kirche und Netz noch mehr zu vernetzen. Bezeich­nenderweise hieß es im Herbst 2014 in einer Erklärung der 11. Synode der EKD: „Als evangelische Kirche gestalten wir den digitalen Wandel mit und vertrauen auch in der digitalen Gesellschaft auf Gottes Begleitung.“ Eine etwas merk­wür­dige These – als käme Gottvertrauen einem Ver­trauen in menschliche Technik-Hybris gleich!

Der kirchliche Trend zu immer mehr Digitalisierung und Vernetzung hat jüngst sogar zur Idee und Realisierung von „Godspot“ geführt. Da wird doch tatsächlich in der Evange­lischen Kirche Berlin-Bran­denburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) freies WLAN kos­tenlos an immer mehr Kir­chen angeboten! Erklärtes Ziel ist es, sämtlichen 3000 Kirchen und kirchlichen Gebäuden in der EKBO solch „göttliche“ Hochfrequenz-Spots zur Verfügung zu stellen. Der IT-Leiter im Konsistorium der EKBO formuliert sogar: „Wir schicken uns an, der größte Anbieter von offenem WLAN in Deutschland zu werden.“ Vielfältige Internet-Kritik in der Gesellschaft wird hier kirchlich ebenso ignoriert wie die gesundheitliche Problematik von WLAN, zu der es Dutzende von Studien gibt. „Die evangelische Kirche hat einen teuflischen Plan, um Besucher anzulocken“, kommentierte Frieda Kammerer auf dem Jugendportal bento

Gleichzeitig ging die Meldung durch die Presse, es könnten mehr 18- bis 34-Jährige auf Gott als aufs Internet verzichten. Wäre eine solche Meldung nicht Anlass genug, von kirchlicher Seite doch die internetkritischen Aspekte stärker in den Blick zu nehmen? Der geläufigste ist bekanntlich der des Datenschutzes. Dazu wurde Johanna Haberer im Frühjahr in chrismon mit den Worten zitiert: „Warum gibt es keinen Aufschrei der Kirchen?“ Als christliche IT-Expertin hat Yvonne Hofstetter das bemerkenswerte Buch „Sie wissen alles“ ge­schrieben. Auch zwei meiner Bücher haben einschlägig gewarnt. Und schon früher hatte der Philosoph Gernot Böhme mit Blick auf die totale Ver­netzung „einen von den Kir­chen ge­stützten Widerstand gegenüber der schran­kenlosen Techni­sierung der Natur, so­wohl der äußeren als auch der menschli­chen Natur“ gefordert. Doch von solch einem Widerstand war so gut wie nichts zu bemerken.

Selbst in der katholischen Kirche gab es jahrzehntelang recht positive Verlaut­barungen zum Internet und zu seiner ekklesiologischen Relevanz. Erst 2015 kam es zu einer nicht zu überhörenden Warnung auf höchster Ebene. Papst Fran­zis­kus mahnte er­staunlich deutlich in seiner Enzyklika Laudato si: „Die wirkliche Weisheit, die aus der Re­flexion, dem Dialog und der groß­herzigen Begegnung zwischen Per­sonen hervorgeht, er­langt man nicht mit einer bloßen An­häufung von Daten, die sättigend und benebelnd in einer Art geistiger Umweltverschmut­zung endet.“ Digitale Medien ge­statteten es zwar, Kenntnisse und Gemütsbewegungen zu übermitteln und miteinander zu tei­len. Trotz­dem, so der Papst, „hindern sie uns manchmal auch, mit der Angst, mit dem Schau­dern, mit der Freude des anderen und mit der Komplexität seiner persönlichen Erfah­rung in direkten Kon­takt zu kommen. Darum dürfte es nicht ver­wundern, dass sich gemein­sam mit dem über­wältigenden Angebot dieser Produkte eine tiefe und wehmütige Unzu­friedenheit in den zwischenmenschlichen Be­ziehungen oder eine schäd­liche Vereinsamung breitmacht.“ Tatsächlich sollen Untersuchungen bei US-amerikanischen Collegestudenten gezeigt haben, dass die Empathie bei der jetzigen Generation der Digital Natives um 40 Prozent geringer ausgeprägt ist als bei früheren Generationen! Franziskus jedenfalls hat erkannt, dass das „tech­nokratische Paradigma“ heute derart domi­nant ge­worden ist, dass es immer schwieriger wird, auf seine Mittel zu verzich­ten – und noch schwie­riger, sie zu ge­brauchen, ohne von ihrer Logik be­herrscht zu werden. So überlasse man das Leben den tech­nikge­präg­ten Umständen, die immer häufiger als wesentliche Quelle zur Deu­tung der Existenz ver­standen würden. Hiermit entlarvt der Papst die fortschreitende digitale Revolu­tion als eine mögliche Er­satzre­ligion. Alle Christen geht es an, wenn er erklärt: „Es müsste einen ande­ren Blick geben, ein Denken, eine Politik, ein Erzie­hungs­pro­gramm, einen Lebensstil und eine Spiritualität, die einen Wider­stand gegen den Vor­marsch des tech­no­kratischen Para­dig­mas bilden.“ Doch – da war nun ein kirchlicher Aufschrei, sogar auf höch­ster Ebene! Er hält aber, wie zu hören ist, das Erzbistum Berlin keineswegs davon ab, auch so etwas wie das so problematische „Godspot“-Projekt anzustreben…

Wenn schon der Papst Wider­stand gegen den Vor­marsch des tech­no­kratischen Para­dig­mas fordert, sollte sich dann nicht auf protestantischer Seite solcher Widerstand ebenfalls formen? Ansätze zur geistesgegenwärtigen Kritik sind auf evangelischem Boden durchaus schon seit Jahrzehnten zu beobachten. So warnte bereits vor 60 Jahren der damalige Landesbischof Hanns Lilje hell­sich­tig, der techni­schen Entwicklung wohne „eine fast unheimliche Zwangsläufigkeit“ inne – nämlich in Richtung einer „Perfektionierung der Technik“, mit der eine „Kapi­tulation vor dem Men­schenbilde überhaupt“ drohe. In seinem Buch „Kirche und Welt“ kritisierte er die Vorstellung, Technik sei neutral und habe nichts mit Ethik zu tun. Vielmehr müsse man auch von den dämonischen Möglichkeiten der Technik eine rechte Vorstellung bekommen. So sei nicht zu leugnen, dass „die Technik zu jenen Lebensgebieten gehört, die im besonderen Maße für das Dämonische anfällig sind“. Zum Wesen der Dämonisierung gehöre es, dass ein ursprünglich guter Zweck in sein Gegenteil verkehrt werde. Gerade der Perfektionierungsdrang moderner Technik weise in die fal­sche Richtung. Schon damals erkannte Lilje die Gefahr, dass Technik sich „zu einer immer mehr ausgebauten Apparatur entfaltet: Der Apparatismus fängt an, das Leben zu beherrschen, nicht zuletzt in der gefähr­li­chen Form des Bürokratismus. Diese fortschreitende Organisie­rung des Lebens hat eine be­drohliche Bedeutung, durch sie kann das menschliche Schicksal fast zum Erlöschen ge­bracht werden. Von hier ist es nicht weit zum völligen Ver­ständnis der Dämonien, die von der Technik ausgelöst werden können.“ Nahezu prophe­tisch muten diese Worte an – in einer Zeit, in der Datenschutz zum gesamtgesellschaftlichen Prob­lem wird und die Privatsphäre dank umfassender Digitalisierung und Vernetzung immer mehr in Bedrängnis gerät. Lilje kommt zu dem Schluss: „Weil die technische Welt im Guten wie im Bösen Wirkungen entfalten kann, denen kein anderes Lebensgebiet der modernen Welt vergleichbar ist, hängt soviel an der Frage, ob der Mensch der Technik im Glauben befähigt wird, ihre Dämonie zu erkennen, zu überwinden und zu einem neuen Ethos zu führen.“ 

20 Jahre später schrieb Erhard Ratz in einem Aufsatz unter dem Titel „Kriterien für eine humane Zukunft. Probleme der Humanisierung des Technologie­pro­zesses“ in den Nachrichten der Evang.-Luth. Kirche in Bayern (31/1976): „Der Technologieprozess stand von Anfang an unter dem Krite­rium der kommerziellen Verwertbarkeit.“ Auf der Basis eines naiven Kultur­opti­mismus, demzufolge alle Menschen auf dem Erdball zufriedene Konsumenten in einer tech­nischen Zivilisation werden würden, habe kein Grund bestanden, den Technologie­prozess zu kritisie­ren. Doch auch „scheinbar unbegrenzter Zugang zu allen möglichen Kon­sum­gütern machte die Menschen nicht glücklich.“ Gleichwohl zwang die Verflechtung von Technologie, indus­triellem Verwertungsprozess und Marktmechanismen zu ständiger Expan­sion und Inno­vation – mit entsprechenden Folgen. „Die technische Zivilisation brachte überall dort, wo sie sich durchsetzte, eine tiefgreifende Krise der überkommenen Normen und Wert­traditionen.“ Im Zuge der Industrialisierung und dem Verein mit dem Marktprinzip schaffe der Tech­no­lo­gieprozess überall dort, wo er sich durchsetzt, eine „Einheitszivilisation“. Heute, wo die Digi­talisierung auf ungefähr alle Lebensräume ausgereift, bewahrheitet sich das von Ratz Gesagte in fast unheimliche Weise: „Einzig und allein maßgebend sind die Gesetze der technischen Evolution und der Industrialisierung, die offensichtlich in allen Teilen der Welt gleiche Orga­nisationsformen nötig machen und Lebensgewohnheiten in einheitlicher Weise festlegen.“ 

Das im Juni im Deutschen Bundestag beschlossene, freilich umstrittene Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende mit der indirekten Verpflichtung sämtlicher Haushalte zu digitalen Stromzählern ab 2020, bestätigt das Vorhergesehene exemplarisch. Vor 40 Jahren fragte Ratz: „Wer kontrolliert die Macher?“ Die Kontrolle der technischen Intelligenz werde erschwert und nahezu unmöglich durch die Differenzierung des technologischen Pro­zesses: „Kontrolle durch die Politiker ist heute kaum gegeben. Jeder Parlamentarier wird ein­gestehen, dass sein Sachverstand nur in seltenen Fällen ausreicht, um sachgerechte Ent­schei­dungen zu treffen, ganz besonders dann, wenn dies mit komplizierten technisch-natur­wis­sen­schaftlichen Problemen verknüpft ist.“ Dieser Satz könnte 2016 formuliert worden sein, da Abgeordnete über ein höchst kompliziert formu­liertes, wohl nur von Experten wirklich durchschaubares „Energiewende“-Gesetz abzustim­men hatten, während laut einer FORSA-Umfrage 72 Prozent der Bundesbürger mei­nen, die Politiker würden die Sorgen und Nöte der Men­schen nicht kennen! Kennen die Kirche sie? Schon Ratz gab zu be­denken, die Bevölkerung habe die Folgen der technologischen Ent­wicklung im Positiven und Negativen zu ertragen. Doch wo könne sie mitbestimmen? „Mechanismen und Institutionen sind dafür bisher kaum entwickelt. Der größte Teil auch der mündigen und politisch be­wuss­ten Bürger empfindet den Fortgang der Technik wie ein Naturgesetz, auf das er keinen Ein­fluss hat. Selbst die Vorstellung der möglichen Einfluss­nahme liegt – sieht man von be­schei­denen Ansätzen der Bürgerinitiativen ab – für die meisten ziemlich fern.“ Laut Ratz wäre eine Aufklärung über die verschiedenen Mög­lich­keiten der technologischen Entwicklung vor dem Anlaufen von Massenproduktionen dringend nötig. Wo bleiben entsprechende Forderungen heute?

Ohne Zweifel hat die digitale Revolution nicht nur Annehmlichkeiten, sondern auch vieles wirklich Nützliche und Hilfreiche erbracht. Doch zu den Ambivalenzen dieser Welt gehört, dass neben dem Segen der Fluch steht. Das gilt gerade auch für das gigantische Projekt der Digi­tali­sierung und Vernetzung der Welt. Kirche hat allen Anlass, hier nicht nur auf die Sonnenseiten zu blicken. Wenigstens zwei Problemfelder seien in aller Kürze noch benannt. Das eine ist das des Verhältnisses von Spiritualität und Internet. Wer mit den missionarischen, gottes­dienstlichen und poime­ni­schen Möglichkeiten im Netz liebäugelt, muss doch gleichzeitig sehen, in welch be­drän­gen­dem Ausmaß dort die Stille, das Zeithaben, der Tiefgang verloren gehen. Der Berliner Phi­lo­soph Byung Chul-Han etwa stellt fest: „Offenbar zerstört die digi­tale Kommuni­kation die Stille. Das Additative, das den kommunikativen Lärm erzeugt, ist nicht die Gangart des Geis­tes.“ Digitalisierung bedeutet per seBeschleunigung, das Gegenteil von Besinnlichkeit. 

Außerdem fragt sich grundsätzlich, ob nicht die Digitalisierungskultur insge­samt die Säkularisie­rung weiter befördert. Denn das Internet zielt mit einer gewissen inneren Logik insgesamt auf eine menschengemachte High-Tech-Utopie, ange­sichts derer die christliche Reich-Gottes-Hoffnung – zumindest vorder­grün­dig – alt aussieht. Die Netzkultur relativiert mit ihrem Hoch­­halten virtueller Wirklichkeiten die geschöpf­lich-ana­loge Rea­lität, verächtlich „Koh­len­stoffwelt“ genannt, in merk­wür­diger Wei­se. Kon­kur­rie­rend tritt der christlichen Erlösungs­hoffnung eine materialistisch-technokratische  gegen­über – bis hin zur Zielverheißung digita­ler Unsterblichkeit, zu der sogenannter Fortschritt in den nächsten 30 Jahren kommen soll. 

Die digitale Revolution wird bereits in naher Zukunft zu massiven Umbrüchen in Kultur und Gesellschaft führen. Der Autoverkehr, das Wohnen, Schulen und Universitäten werden in radikaler Weise vernetzt, als sei das ein Naturgesetz. Dabei kommt es immer mehr zur Erosion von Daten- und Strah­len­schutz. In­zwischen spekulieren Experten darüber, ob das Inter­net nicht in spä­tes­tens sieben Jahren zusammengebrochen sein wird: Big Data, Leitungskapa­zitäten, gigan­tischer Energie­verbrauch – all das könnte dem Vernetzungswahn womöglich den Garaus machen. Oder auch nicht, denn die „revolutionären“ Strukturen fressen sich immer mehr in alles ein. Pfarrerin­nen und Pfarrer sollten sich geistes­gegenwärtig überlegen, ob sie ihre Zeit­genossenschaft nicht zu mehr kritischer Besinnung nutzen wollen, um dort, wo es ethisch und von der Men­schen­würde her geboten ist, entschieden gegen den digitalen Strom des Posthuma­nis­mus zu schwimmen. Eine Kulturrevolution, gerade auch eine techni­zistische, braucht die Geistesgegenwart der Kirchen dringend.

Der Autor ist apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.

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