Zur Wirkungslogik religiöser Erfahrung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2004, 286 S., kart. 29,95 €; ISBN 3-579-05421-X.
Mario Fischer
Collegium Oecumenicum, Sondermeierstraße 86, 80939 München
Das Stichwort „Heiligung“ genoss zwar in der reformierten Tradition Hochschätzung, wurde aber im Luthertum durch die Rede von der „Rechtfertigung“ übertönt und spielt in der heutigen protestantischen Theologie keine bedeutende Rolle mehr. In einem weiteren Ausbau seines Gebäudes einer Praktischen Theologie setzt sich der emeritierte Göttinger Praktische Theologe Manfred Josuttis mit der Frage nach der Erfahrung des Heiligen und der dadurch geschehenden Heiligung auseinander. Für ihn steht fest, dass Heiligung und Heiligkeit kein Ergebnis frommer menschlicher Bemühung ist, sondern Erfahrung göttlicher Gnade, einer göttlichen Berührung. „Und Heiligkeit als Ergebnis einer heiligenden Berührung kann nie zum menschlichen Besitz werden, sondern bleibt auf den aktuellen Einfluss des Evangeliums angewiesen“ (269). Heiligung ist ein Geschehen von Erfahrung mit Widerfahrnischarakter unter dem gefährdenden Einfluss des Heiligen, das sich in einer Lebensgeschichte manifestiert und eine Lebensveränderung bewirkt.
Sein vorhergehendes Buch „Religion als Handwerk“ (2002) trug den Untertitel „Zur Handlungslogik spiritueller Methoden“. Die Handlungslogik, in der die elementaren Strukturen aufgedeckt werden sollten, die in allen Lebensbereichen menschliches Verhalten prägen, setzt eine Wirkungslogik der Erfahrung voraus, wie sie Josuttis hier vorlegt. Es handelt sich um eine Sammlung von 19 Vorträgen und Aufsätzen, darunter sieben Festschriftbeiträge, die er dem Schema „Einfluss – Resonanz – Konversion“ entsprechend gliedert. Es geht um die Einflüsse, denen der Mensch im Machtfeld Gottes ausgesetzt ist, um die Resonanzen, die in diesem Machtfeld zum Schwingen gebracht werden und um die Konversionen, die dadurch entstehen.
Josuttis unterscheidet Erlebnisse von Erfahrungen: „Erlebnisse verbrauchen ihre Gegenstände und sind deshalb auf immer neue Zufuhr angewiesen. In den Erlebnissen bleibt man bei sich selbst, man füttert und unterhält sich mit Spaß. In der Erfahrung dagegen gerät man in eine Sphäre ästhetischer oder religiöser Macht. … Erfahrung ist mehr als genussreicher Schein. In ihr erscheint die verborgene Wahrheit des Lebens“ (36). Um religiöser Erfahrung gerecht zu werden, muss das theologische Denken in Bezug auf das leibliche Dasein vertieft werden. Josuttis wirft der protestantischen Theologie vor, sich durch eine „Phänomenologie des Geistes“ vorrangig auf Bewusstseinsakte beschränkt zu haben und fordert stattdessen eine „Phänomenologie der Leiblichkeit“, die sprachfähig ist, auszudrücken, was sich ereignet, wenn Gottes Kraft uns berührt (vgl. 44). Die theologische Sprache „basiert auf religiösen Erfahrungen und will religiöse Erfahrungen verarbeiten helfen“ (29). Dazu ist auch eine Unterscheidung in theologische und religiöse Sprache notwendig. Die Sprache der Predigt und des Gottesdienstes muss sich den Erfahrungen des Alltags stellen. „Zu den wichtigsten Kriterien einer Predigt gehört deshalb die Frage: Wird das, was auf der Kanzel verkündigt worden ist, nicht schon durch die Bilder der Fernsehnachrichten widerlegt?“ (65) „Menschen werden ins Dasein geworfen durch ihre Geburt und erleben ihre Geschichte nicht immer, wie es der pastorale Jargon gern unterstellt, als Geschenk“ (79).
Wiederholt lobt Josuttis die Aufnahme der Rezeptionsästhetik in die Homiletik durch Gerhard Marcel Martin. Sie „bremst alle pastoralen Allmachtswünsche, die von einer perfekten Wirkung der eigenen Worte in der Gemeinde träumen“ (133). Im Resonanzgeschehen der Predigt steht die Predigerin oder der Prediger in der Gefahr das Kraftfeld, das durch das Verlesen des Textes im Gottesdienst entsteht, durch die Predigt zu zerstören. Der protestantische Gottesdienst selbst krankt am Ausfall negativer Akte, wie dem Abschwören des Bösen vor der Taufe und anderen exorzistischen Geschehen. Im Gottesdienst ereignet sich im Gegensatz zu einem Fußballspiel kein Kampf zwischen Antipoden und die Spannung eines offenen Ausgangs ist per se ausgeschlossen, da im Evangelium der Sieg Gottes proklamiert wird. Damit fehlt dem mitteleuropäischen Gottesdienst der Gegenwart ein attraktiver Erlebniswert. Auch Riten, in denen Elemente der Gefährdung noch vorkommen, werden verkürzt auf die sichere positive Seite. Doch: „Im Kontakt mit dem Urgrund des Lebens geht es um Leben und Tod“ (156).
Wenn die Experten nichts mehr über Risiken und Nebenwirkungen des Abendmahlszu sagen haben, dann gibt es wahrscheinlich auch keine positiven Wirkungen. Von den Ängsten, die mit der Einnahme des Abendmahls verbunden waren, ist heute fast nichts mehr übrig geblieben. Sie werden nur noch rationalisiert vorgebracht, wenn es um die Gefährdung von Alkoholikern durch den Weingenuss oder um die Gefahr von Ansteckung mit Krankheiten bei der Kelchkommunion geht. Ebenso kann für Josuttis Segen nicht ohne Fluch gedacht werden. Ähnliches gilt für die Taufe, die angesichts der Kirchenaustritte wieder von ihren Ursprüngen bedacht werden muss. „In der kirchlichen Tradition bildet nicht der Austritt, sondern der Ausschluss als Maßnahme von Kirchenzucht das zentrale Problem“ (241). „Durch den Ausschluss wird der Getaufte in den Herrschaftsbereich Satans und damit an die Todesmacht zurückgegeben. Ein solcher Ausschluss ist Konsequenz der Taufe für den Fall, dass die dort erfolgte Heiligung nicht realisiert wird“ (242). Die Taufe verleiht dem Getauften folglich keinen character indelebilis. In Taufgesprächen darf die Taufe nicht nur als Aufnahmeritus in eine Organisation behandelt werden, sondern muss als ein nicht aufgebbarer Herrschaftswechsel in eine eschatologische Wirklichkeit kommuniziert werden. Josuttis gibt auch Hinweise, wie Seelsorge an Ausgetretenen aussehen kann und nennt einige Themen, die in einem Brief an neu Ausgetretene stehen sollten (vgl. 251).
Für die Zukunft der Kirche sind nicht die Kirchenaustritte eine Bedrohung. Gerade in Zeiten der Leitbilder und corporate identities gilt es zu beachten, was für alle Bilder gilt, egal ob es sich um Gottes-, Menschen-, Pfarrer- oder Kirchenbilder handelt: „Bilder sind für das menschliche Leben gefährlich, weil sie Ideale entwerfen und Enttäuschungen bewirken“ (70). „Das Problem der kirchlichen Leitbilder besteht letztlich in der Behauptung: Gott haben wir schon, jetzt brauchen wir nur noch die Menschen“ (70). Die Institution Kirche wird durch die Erfahrung der erbetenen göttlichen Invasion zum Leib Christi – und nicht durch Betriebsamkeit. „Gerade mit einem überfüllten Terminkalender kann man den Menschen, die einem anvertraut sind, das Entscheidende schuldig bleiben“ (68).
Als Experte für den Umgang mit der Erfahrung des Heiligen gilt Josuttis der Pfarrer. Unter dem Titel „Mystagogik“ entdeckt er den Pfarrer als Reiseführer, der aus dem Alltag in eine neue Welt führt und als Theologe von der Macht des Geheimnisses Gottes weiß und so über mystische Kompetenz verfügt. Er „muss die Rätsel der Wissenschaft und die Geheimnisse der Kunst hinter sich lassen, um in die Mysterien der Religion zu gelangen. Durch den Transitus aus der einen in die andere Welt geschieht Mystagogik“ (224). Josuttis vergleicht die wesentlichen Aspekte pastoraler Praxis mit dem von Chr. Vogler ausgearbeiteten mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Für einen religiösen Beruf benötigt man, wie jeder Filmheld, eine Berufung und für den Aufbruch aus dem Alltag in die neue Welt einen Auftrag. Der Pfarrer, der innerhalb des Bürgertums die Religion repräsentierte, bleibt in einer nachbürgerlichen Gesellschaft der ideale Bürger. Die Gesellschaft erwartet von dem Familienleben im Pfarrhaus, dass dort die grundlegenden Konflikte des Alltagslebens harmonisch überwunden werden und so ein Idealbild der Gemeinde in der Pfarrfamilie dargestellt werden soll. Was Josuttis von solchen Bildern hält, wurde bereits erwähnt. Die Ehe im Pfarrhaus ist genauso brüchig oder stabil wie andere Ehen. Die Willenserklärung „bis das der Tod scheidet“ ist kein Versprechen sondern die Artikulation einer Absicht, die eine neue Realität schafft. Von daher bezeichnet Josuttis mit I. Paul Rituale, wie die Eheschließung, als „Wirklichkeitsmaschinen“. Als religiöse Passageriten sind sie „in ihrem existenziellen Kern durch die Polarität von Sterben und Leben bestimmt“ (211).
Dies kommt am stärksten bei der Bestattung zum Ausdruck. Josuttis beklagt, dass sich die Pfarrer, die in der langen Kette, der professionell mit dem Tod beschäftigten, meistens noch das letzte Wort haben, zu stark den Hinterbliebenen zuwenden. In der Beerdigung soll nicht nur den Lebenden bewusst werden, dass der Verstorbene tot ist, sondern auch dem Toten soll dies angedeutet werden, damit er die Lebenden in Frieden lässt. Josuttis fragt an, ob die Toten nicht auch einer Konversion im Sinne von Heiligung bedürfen und entwickelt im Anschluss eine gut reformatorische Theologie der Heiligen, die bedenkt, ob Luther als „der größte Kritiker der Heiligenverehrung damit zu ihrem größten Opfer geworden“ ist (270).
Josuttis setzt voraus, dass sich Heiligung im Wirkungsfeld des christlichen Glaubens vollzieht, was aber nicht ausschließt, dass sich Strukturanalogien nicht auch in anderen Kulturen und Religionen finden lassen (vgl. 26). Solche Analogien sind sogar oft notwendig zum besseren Verständnis christlichen Lebensvollzugs: „Die kirchlichen Riten erschließen sich, wenn man sie in doppelter Hinsicht vergleicht: einmal mit den Riten in anderen Kulturen und Religionen, dann aber auch mit den profanen Ritualen der Gegenwart“ (204).
Josuttis hat mit seinen Thesen immer wieder den Finger auf Wunden gelegt, die viele nicht wahrhaben wollen. Er polarisiert. Die einen fühlen sich endlich einmal verstanden und sind erfreut, dass jemand es vermag, das worunter sie leiden, auszusprechen. Die anderen sehen in ihm den Professor, der aus der sicheren Warte die Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrer Praxis kritisiert und unerfüllbare Anforderungen an sie stellt. Dabei finden sich bei Josuttis wenige Forderungen. Seine Hinwendung zur Religionsphänomenologie brachte es mit sich, dass er religiöse Phänomene unabhängig von ihrem dogmatischen Gehalt untersuchen und so in einem neuen Ernst betrachten kann. Damit umzugehen zu lernen und das eigene Handeln und Denken darauf hin zu reflektieren, sollte niemandem im Pfarrdienst abhanden kommen. Es gilt, ernst zu nehmen, wie pastorales Handeln auf Außenstehende wirkt, auch wenn dabei ein Bild skizziert wird, mit dem man sich nicht identifizieren möchte.
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