Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter

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Mario Fischer
Collegium Oecumenicum, Sondermeierstraße 86, 80939 München

Religion in der modernen Kultur,  C.H. Beck, München 22004, 329 S., kart. 24,90 €; ISBN 3-406-51750-1.

Nachdem jahrzehntelang in den Sozialwissenschaften die Säkularisierungshypothese nahezu unangefochten zum Grundbestand der verschiedenen Theorien zählte, lässt sich in den letzten 30 Jahren ein klarer Gegentrend erkennen. Galt bis dahin, dass mit wachsender Modernisierung ebenso die Säkularisierung, das heißt der öffentliche Bedeutungsverlust der Religion, wachse, so wird heute von einer bleibenden Bedeutung der Religion gesprochen, die sich allerdings in Transformationsprozessen befindet. Einer der jüngsten deutschsprachigen Beiträge zu diesem Thema stammt von dem Münchener systematischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf. «Die Wiederkehr der Götter», so der Titel seines Buches, erlebte bereits im ersten Jahr eine zweite Auflage und wurde in einer Lizenzausgabe von der Bundeszentrale für politische Bildung nachgedruckt.

Graf legt den Ansatz einer schlaglichtartigen Religionsgeschichte der Moderne vor, die die Bedeutung von Religion in der Auseinandersetzung mit Aufklärung, Nationalismen, anderen Kulturen und Religionen und der Ökonomie im Zeitalter der Globalisierung reflektiert. Daraus zieht er Konsequenzen für die Aufgaben und den Status der gegenwärtigen Religionswissenschaften und der Theologie.

Als methodische Leitbilder seines Vorgehens gelten ihm drei gegenwärtige Modelle: (a) das Marktmodell der religious economics, (b) die Idee einer shared history, die aus partikularer historischer Sichtweise befreien soll und (c) die Vorstellung des «religiösen Feldes», auf dem die Religion mit anderen gesellschaftlichen Kräften im Wettkampf steht.

Nach dem Marktmodell werden die einzelnen Kirchen und Denominationen als Anbieter auf einem religiösen Markt gesehen. Peter L. Berger und die neoliberale Chicago Schoolder Wirtschaftswissenschaften untersuchten das Konsumentenverhalten auf den Sinn- und Religionsmärkten nach der klassischen rational choice theory. In der US-amerikanischen Gesellschaft hat sich hierbei gezeigt, dass mit steigendem Angebot auch die Nachfrage steigt. Zugleich wächst der Druck auf die einzelnen Anbieter, sich aus der Masse hervorzuheben; sie müssen ihre corporate identity pflegen. „Auf pluralen Religionsmärkten gewinnen die Anbieter mit starker Marke.” (28). Sie können ihre Konsumenten am Besten an sich binden. Graf nennt auch Grenzen dieses Modells, so kann z.B. damit nicht erklärt werden, weshalb in Irland, wo die römisch-katholische Kirche in keiner ernstzunehmenden Marktkonkurrenz steht, diese Monopolstellung dennoch nicht zu schwindender religiöser Partizipation führt. (Vgl. 29). Eine Religionsgeschichte der Moderne muss nach Graf alles, was in die weite Sphäre des Religiösen gehört, bedenken und als Diskursgeschichte aufgebaut sein, die nicht an konfessionellen und nationalen Grenzen halt macht. Eine solche „transkonfessionelle Verflechtungsgeschichte” (43), die Voraussetzung für eine angemessene Beschreibung der großen Umbrüche der Moderne in ihrer jeweiligen Interaktion ist, nennt Graf shared history.

An fünf „Religionsgeschichten der Moderne” führt Graf exemplarisch sein Konzept aus:

(1.) In der «Sattelzeit» zwischen 1780 und 1820 war es opinio communis, dass Gesellschaft und Staat ohne Religion dem Untergang geweiht seien. (Vgl. 75). Neben die am Kirchenbesuch und an der Teilnahme an kirchlichen Handlungen messbare Kirchlichkeit trat seit dem Pietismus und der Frühaufklärung ein individualisierter Stil der Kirchlichkeit, der sich in einer stärker lebensgeschichtlichen Orientierung der Kasualfrömmigkeit ausdrückte. So boten sich im deutschen Protestantismus neue Formen der Partizipation an kirchlichen Handlungen, die zu einer Aufwertung der Familie führten, z.B. auch durch die Einführung des heiligen Abends. (Vgl. 86f.). Die Religion, die in zunehmendem Maße individualisierter wurde, diente den Menschen zur neuen Vergemeinschaftung.

(2.) Die Nationalismen des 19. Jahrhunderts verklärten die „erfundene” Nation zur Schicksalsgemeinschaft mit religiöser Qualität und starker Außenabgrenzung. Neben der Vergemeinschaftungsfunktion im Entstehen der Nationen kam den Kirchen eine besondere Rolle im Krieg als „dem «Ernstfall» der Nation” (120) zu. Wurde die kirch­liche Bestattung seit den 1830er Jahren aufgewertet, (vgl. 86) so konnten die Kirchen in den Kriegen das kultische Bestattungsmonopol bewahren mit der Konsequenz, dass in den Beerdigungsreden der Krieg als gerechtfertigt verkündet wurde und die Lebens­hingabe der Kriegsopfer religiös überhöht wurde. (Vgl. 124-127). Der Universalismus des Christentums musste angesichts der Kriegsführung gegen christliche Gegner relativiert werden, was einer „Überführung Gottes in das Privateigentum einer Nation” (128f.) gleichkam.

(3.) Um 1900, als noch die Über­zeugung galt, dass der Mensch religiös sei, (vgl. 133ff.) lässt sich eine religiöse Blüte feststellen, wenn man die große Zahl freien religiösen Schrifttums und die neu entstehenden religiösen Gruppierungen im weiteren Umfeld der Lebensreformbewegung aber auch zahlreicher neuer christlicher Gemeinschaften beobachtet. Der Wunsch nach etwas Bleibendem, nach Geborgenheit in diesem Gehetztsein mag ein Grund für die anwachsende Religiosität sein. Als Folge der religiösen Blüte zeigt sich eine starke Zersplitterung in religiöse Gruppierungen und eine Milieuspezialisierung. Religion verliert in der Gesellschaft ihre integrierende Rolle und verschärft sogar die Tendenzen zur sozialen und kulturellen Fragmentierung. (Vgl. 156).

 (4.) In der globalisierten Welt der 1980er Jahre hat sich Religion als einstiger ideeller „Einheitsgarant des Gemeinwesens zu einem partikularen Subsystem neben anderen gewandelt.” (185). Religionen zählen in der globalen Welt des Marktes neben anderen nichtrationalen Gewohnheiten zum social capital einer Gesellschaft. Sie bestimmen die für eine Marktwirtschaft wichtigen Faktoren wie Arbeitsmentalität, Stellung zum Eigentum, zum Luxus, zum Bankenwesen, zur Verzinsung und zur Feiertagsruhe. (Vgl. 188). «Weltflüchtige Religionen» wirken nach Graf störend auf die Globalisierung des Marktes, Kulturen mit rationaler Selbstkontrolle eher fördernd. Verlierer der Globalisierungsprozesse wenden sich häufiger religiösen Fundamentalismen zu, gerade in islamischen Staaten. (Vgl. 196). Religionen werden sich unter dem Druck der Globalisierung wandeln, aufgrund ihrer Universalitätsansprüche aber Kräfte der Differenzwahrnehmung und Kritik bleiben. (Vgl. 202).

(5.) In seinem letzten Schlaglicht setzt sich Graf mit Samuel P. Huntingtons These vom Clash of Civilizations auseinander, in dem er den Versuch sieht, nach dem Ende des kalten Krieges ein neues Freund-Feind-Schema zu entwerfen, das den USA dazu verhilft, in der unübersichtlich gewordenen Welt neue Orientierung zu gewinnen. (Vgl. 205; 224). Zum Zwecke der Übersichtlichkeit gebe Huntington dabei der Pauschalisierung den Vorzug vor differenzierter Wahrnehmung.

Im letzten Kapitel legt Graf dar, welche Anforderungen sich aus seinen methodischen Überlegungen und seinen Religionsgeschichten für die „akademischen Deutungs­experten der Religion” (153) – Religionswissenschaftler und Theologen – ergeben.

Von den Religionswissenschaftlern fordert Graf, sich zunächst auf die eigenen Wurzeln zu besinnen: Wenn die Religionswissenschaft meist als Emanzipationswissenschaft konzipiert wird, die sich aus den theologischen Vorurteilen befreite und den objektiven und relativierenden Blick auf die verschiedenen Religionen erlaubte, so wird damit meist übersehen, dass die meisten Klassiker der Disziplin Theologen waren und dass die ersten Lehrstühle für Religionswissenschaft an den theologischen Fakultäten eingerichtet wurden. (Vgl. 232). Zudem zeigt sich in Bezug auf die Objektivität, dass seit den 1890er Jahren Religionswissenschaftler „als prophetische Künder religiöser Erneuerung” (231) die neuen Religionen propagierten und sich bis heute als „extrem ideologieanfällig” (231) für politische Ideologien und wissenschaftliche Moden erwiesen.

Seine gegenwärtige Zustandsbeschreibung der (evangelischen) Theologie (in Deutschland) fällt sehr harsch aus: „Zahlreiche Theologenintellektuelle sind zu Deutungsexperten für die eigene Unfähigkeit geworden, über thematisch eng begrenzte Spezialistendebatten hinaus die innere Einheit der Theologie im Blick zu behalten, und haben den Kontakt zu Kirche, Diakonie und plural gelebter Religion verloren.” (258f.). Dabei kommt der Theologie ein wichtiger Beitrag in drei Spannungsfeldern zu. (a) Gegenüber der Kirche muss die wissenschaftliche Theologie vor einer Verflachung theologischer und religiöser Sprache warnen und „das Eigenrecht gelebter Religion gegenüber deren kirchenpolitischer Instrumentalisierung verteidigen.” (258). Sie muss in Zeiten zunehmender Homogenisierung kirchlicher sozialer Milieus auf die bürgerliche Mittelschicht hin die Differenz zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche betonen. (b) Im Kanon der Wissenschaften steht die Theologie den Kulturwissenschaften in ihrer Selbstreflexion als Gegenüber zur Seite. Die meisten, der im 19. Jahrhundert in Deutschland entstandenen Kulturwissenschaften sind der evangelischen Theologie entsprungen: formal, indem sie anfänglich Hilfswissen­schaften der Theologie waren, die sich nun verselbständigten oder personal, indem eine stattliche Zahl der Kulturwissenschaftler im Deutschland des 19. Jahrhunderts dem evangelischen Pfarrhaus entstammten. (Vgl. 264f.). Ohne Theologie lässt sich die implizite Theologie in den Wissenschaften nicht erkennen und ohne sie können Kunsthistoriker, Musik­wissenschaftler, Germanisten und andere Kulturwissenschaftler die großen Werke des Abendlandes nicht verstehen. (c) In den gesellschaftlichen Diskursen bringt die Theologie ethische Positionen ein, für die sie universale Geltung beansprucht. Zusätzlich hat die Theologie ein Mandat zur Warnung vor falschem Gebrauch religiöser Symbole und Sprache durch politische Institutionen. (Vgl. 274ff.). Als positive Wissenschaft (Schleiermacher), dient sie der Ausbildung von Pfarrern und Religionslehrern und muss sich darin beurteilen lassen, inwiefern sie fähig ist und befähigt von Gott zu reden und die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch zu erkennen und zu vertreten. (277f.).

Friedrich Wilhelm Graf hat mit seiner «Wiederkehr der Götter» ein in sprachlicher Brillanz mit Ironie und Kritik spielendes, leicht lesbares Buch vorgelegt, das zahlreiche interessante Einzelbeobachtungen der Religionsgeschichte der Moderne liefert.

Misst man sein Werk an den drei Kriterien, die er selbst für eine Religions­geschichtsschreibung der Moderne vorgegeben hat, so zeigen sich seine Stärken und Schwächen. Das Modell des religiösen Marktes lässt sich als universales Deuteparadigma weder in Grafs eigener Darstellung noch in weiterer Diskussion halten. Zudem erscheinen in seinen Religionsgeschichten der Moderne kaum Metaphern, die der ökonomischen Sprachwelt entlehnt sind. Graf weitet seinen theologischen Horizont, indem er sich in den gegenwärtigen religionssoziologischen Diskurs begibt und mit weiteren Kulturwissenschaften in Austausch steht. Ob er dabei seiner Forderung einer shared history nachkommt, bleibt fraglich. Seine Perspektive bleibt genuin protestantisch und deutsch. Seine Haupt­bezugsautoren sind Max Weber und Ernst Troeltsch. Viele Argumentationsmuster entsprechen direkt Fragestellungen des 19. Jahrhunderts. Theologische Diskussions­beiträge aus anderer Zeit (Alte Kirche, Mittelalter, Reformationszeit oder 20. Jahrhundert) begegnen eigentlich nicht. Zwar werden Verbindungen zwischen protestantischer und jüdischer Aufklärung aufgewiesen, doch wird der Katholizismus kaum – und wenn, dann nur undifferenziert als Negativfolie – wahrgenommen. Die Abfälligkeit, in der er sich über Priesterseminare (vgl. 255) oder das päpstliche Lehramt auslässt, (vgl. 268) lassen vermuten, dass er den „Inferioritätsverdacht” (265) des Kulturprotestantismus gegenüber dem Katholizismus unterschwellig doch teilt. Die Selbstreflexion, die er von Religionswissenschaft und den Kulturwissenschaften verlangt, erfolgt nicht, wenn er unhinterfragt von evangelischer Ekklesiologie (vgl. 258) oder protestantischer Ethik (vgl. 271) ausgeht, um die Aufgaben der Theologie zu beschreiben.

Grafs Buch ist ein bedeutender Beitrag auf dem Kampffeld um die religiöse Deutekompetenz in der modernen Gesellschaft. Dem Staat spricht Graf diese Kompetenz ab, da er die Religion immer nur nach religionsuneigentlichen Kriterien bewerten kann. (Vgl. 54f.). Im letzten Kapitel zeigt Graf, dass die Funktion seines Buches «Die Wiederkehr der Götter» hauptsächlich darin besteht, im wachsenden Kampf zwischen Theologie und Religions­wissenschaften um Einfluss auf Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft, den Anspruch der Theologie auf alle drei Bereiche zu behaupten und sich nicht auf die Kirchlichkeit zurückzuziehen und Wissenschaft und Gesellschaft den Religionswissenschaften zu überlassen. Daher auch Grafs entschiedener Kampf gegen kirchliche Hochschulen, die für ihn eben solche Rückzugsräume der Theologie darstellen. (Vgl. 254f.).[1] Im Zuge der Umstruk­turierungen der Universitäten ist Grafs Buch daher als klares wissenschaftspolitisches Plädoyer gegen die Vereinnahmung theologischer Lehrstühle in neu entstehende Departments of Religious Studies zu verstehen.

Es bleibt eigentlich nur noch eine Frage offen: Wer sind nun die Götter, deren Wiederkehr Graf in seinem Titel verkündet? Sie stehen als Symbole für die verschiedenen um Anerkennung streitenden religiösen Gruppierungen. Dabei versteht Graf mit Hermann Lübbe Religion als «Kontingenzbewältigungspraxis». (Vgl. 112). Die Säkularisierungsthese wurde am Beispiel Europas entwickelt. Die religiöse Vitalität in den USA galt als Ausnahme der Regel, dass mit wachsender Modernisierung der Grad der Säkularisierung ansteige. Mittlerweile gilt eher Europa als Ausnahme­erscheinung in der globalen Religiositätsentwicklung. Seit dem Zweiten Weltkrieg nahmen Industrialisierung, Urbanisierung, und Bildung in globaler Perspektive zu. Ebenso wuchs die Vitalität der meisten religiösen Traditionen an. Die Götter, deren Wiederkehr Graf verkündet, sind in Europa allerdings nur die Götter von «Diesseitsreligionen», die Graf als Religionsersatz versteht, da sie nur geringe Kontingenzentlastung liefern. (Vgl. 60). Durch seine unklare Rede von den Göttern macht Graf die europäische Ausnahme­situation nicht hinreichend deutlich. Zwar kann es sein, dass religiöse Themen in Westdeutschland die öffentliche Diskussion wieder stärker bestimmen, wie der Kruzifix-Streit oder der Kopftuch-Streit gezeigt haben, aber  von einem Anwachsen von Religion im engen Sinne ist nicht zu sprechen.

Mario Fischer

[1] Die Kritik, die Graf in Folge seines Artikels Unkulturprotestantismus. Die bayerische Landeskirche ist auf dem Weg zur Sekte (SZ vom 3. Mai 2003, Feuilleton, 13) einstecken musste, findet Niederschlag in seinen Zugeständnissen, die die Bedeutung der kirchlichen Hochschulen als einzigen Orts freier Theologieausübung während des Nationalsozialismus würdigen.

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