Reiner Knieling: Plädoyer für unvollkommene Gemeinden.

Print Friendly, PDF & Email

Marcel Schütz, Brackweder Straße 29, 33647 Bielefeld

Oliver T. Männich, Geschwister-Scholl-Straße, 35039 Marburg (Lahn)

Reiner Knieling: Plädoyer für unvollkommene Gemeinden. Heilsame Impulse, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, 132 Seiten.

Spätestens seit der Veröffentlichung des EKD-Papieres Kirche der Freiheit (2006) ist allerorts von strukturellen „Impulsen“ zur Zukunft der evangelischen Kirche die Rede. So lässt es sich auch der Wuppertaler Praktische Theologe Reiner Knieling nicht nehmen, seinem kritischen Abriss zum Thema Gemeindeentwicklung den wenig bescheidenen Zusatz Heilsame Impulse beizufügen. Was hier im Duktus etwa an die Volksmission Mitte der 1950er Jahre erinnern mag, eröffnet eine in zwei Hauptteile und vier Kapitel gegliederte, sprachlich recht ansprechend und gut verständlich ausgearbeitete Lektüre, die es freilich vermag, bei manchen allein wegen des Titels ebenso sehr zu provozieren wie Missverständnis und Kopfschütteln zu bewirken. 

Knieling ist einer von der Sorte, welche als erste die gut verriegelte Kühltruhe aufmachen. Wie schon in seiner Habilitationsschrift (2006) an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal Konkurrenz in der Kirche(besprochen von Schütz, in: Pfz.Pf.Bl 12/2007: 612-615) greift Knieling mit Vorliebe das theologisch Tabuisierte auf, um es dann aus seiner oft dogmatisch aufgeladenen Engführung zu lösen und so für Sozialleben und Streitkultur in der Kirche fruchtbar zu machen. In seinem jetzigen Plädoyer für die Unvollkommenheit von Gemeinden, will Knieling mitnichten Untätigkeit und Trübsal als billigen Entschuldigungen für schlechte Gottesdienste oder unzufriedene Mitarbeiter das Wort reden. Nur geht es darum, auf die Begrenztheit systematischer Bemühungen um Erhalt bzw. Ausbau von Gruppen und Kreisen vor Ort hinzuweisen und dabei theologische Großoffensiven zur Rettung manch liebgewonnener oder noch defizitärer Strukturen anzuzweifeln (16 f.). Knieling spricht hier von „Allmachtsphantasien“ (36) unter einigen seiner Kollegen.

Einleitend in den ersten Teil („Unvollkommenheit hat verschiedene Facetten“, 13 ff.) geht es auch um eine Kritik an kirchlicher Beschwichtigungs-Rhetorik: Etwa stellt Knieling fest, dass nirgendwo immer nur Liebe und Anerkennung mit im Spiel sind, dass Brüche und eine gestörte Kommunikation nicht einfach immer vermeidbar und zu bewältigen wären. Kurzum: Kirche sagt gerne, was alles sie sein will. Schwer fällt es ihr aber, sich einzugestehen, wo sie an die Grenzen ihrer irdischen Möglichkeiten kommt, was sie nicht sein kann. „Ich vermisse die Seite, die es im Leben auch gibt: wenn die Lernfähigkeit begrenzt ist, wenn Scheitern nur akzeptiert und auch das nächste Mal nicht wirklich vermieden werden kann“ (18), meint der Autor. So stellen sich Kirchenleute dann oft genug selbst ein Bein, indem sie ihre Ansprüche derart hochschrauben, dass die Verbesserung der Alltagsgeschäfte schnell zur Überforderung führt. 

Bodenhaftung tut hier gut, meint Knieling, derweil jedoch das bei ihm kurz angesprochene EKD-Impulspapier ganz offensichtlich mit der Kirche – in Zukunft – wieder hoch hinaus will: Koexistenz von Gemeindemodellen, Umverteilung von Kosten in Personal und Fortbildung, Reduktion der Gliedkirchen, das Pfarrbüro (so möchte womöglich der Leser heraushören) als eine Mischung aus Customer Office und Service Center. Das alles dann unter dem Label ,Marke evangelisch‘? Davor graut es seit dem Reformsommer vor drei Jahren manchem Hirten gewaltig. Hören Gemeinden doch landauf-landab von erschöpften Geistlichen, denen zum Lesen und Studieren kaum mehr die Zeit bleibt. Auf Fortbildungen und Pfarrkonventen wird eine permanente Konzentrationsstörung beklagt. Vielen bleibt einfach die Luft weg.

Dahinter steckt mehr als nur grummeliges Mosern und Meckern. Nach Knieling ist es wichtig, dass Gemeinden lernen, welche ihre Probleme sind und dass diese womöglich nicht immer einfach weg zu kurieren (oder rationalisieren) sind. Im Impulspapier der EKD wittert der bayerische Theologe eine Überforderung der Pfarrerschaft und erkennt das fehlende Eingeständnis, dass nicht gesagt wird, auf welche Mühen getrost verzichtet werden kann, was nicht zu tun ist. – Das aber zu können, hat etwas mit Selbstkritik und Bewusstsein zu tun, wie Knieling verdeutlichen will (19 f.). 

Voreiligen Idealismen, wie Gemeinde aussehen sollte, gibt der Autor erfreulicherweise einen dezenten Dämpfer (21 f.). Wir wissen so gut wie nichts darüber, wie Jesus seine Gemeinde wollte, wie seine Potenziale sich mit unserer Wirklichkeit decken. Die Kirche kam erst als Jesus nicht mehr durch Galiläa wanderte. Gemeinde vollzog sich demnach immer nur in Abwesenheit Jesu, so Knieling. Und sehr wahrscheinlich konnte Gemeinde auch nur dadurch zu dem werden, was Menschen zu allen Zeiten ganz unterschiedlich darunter verstanden. Das Ideal bestand stets im Plural. Uneinigkeit, ja sogar Zerwürfnisse waren derweil nie einfach blanke Sünde. Wie wirklich heilsam ist hier die aufgegriffene Bibelstelle (25), die belegt, dass selbst so prominente Hirten wie Paulus und Barnabas hart aneinander gerieten und sich ihre Wege trennen mussten (Vgl. Acta 15,39 f.). Probleme, von Zoff und Ärger über Spaltung und organisatorische Engpässe – all dies gab es immer schon in der Kirche und musste zu unterschiedlichen Zeiten entsprechend verhandelt und bewertet werden. Eigentlich eine urreformatorische Einsicht, mit der es sich wahrlich getrost leben lässt.

Gott gibt seinem Volk den Anfang, nicht aber die Vollendung. Es ist immer schon einkalkuliert, dass Menschen hinter ihrem eigenen und Gottes Ideal zurück bleiben (27). In dieser ekklesiologischen Folgerung verhält sich der Autor gut protestantisch. Die Gemeinde bleibt auf dem Weg; und dabei weiß sie darum, dass Vollkommenheit sich nicht allein durch ihre eigenen Maßstäbe und Werte bestimmen lässt. Das christliche Abendmahl nimmt Knieling zum Bezugspunkt für Jesu Annahme der Menschen, so wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Im Abendmahl nämlich kommen unter dem Brechen des Brotes die gebrochenen Schicksale zusammen. Unter Brot und Wein spiegeln sich die menschlichen und gemeindlichen Brüche im Kreuz von Golgatha, im zerbrochenen Leben Jesu. 

Hier möchte man dem Autor nur zustimmen, wohlwissend um manche Gemeinschaften gerade im evangelikalen Kirchenmilieu, die hier und da noch immer ein gesondertes Altarsakrament in geschlossener Gesellschaft empfangen. So, als ob sie schon weiter seien und sie Brüche untereinander und in der Gemeinde nichts angehen würden. Mögen Knielings Einlassungen daher hoffentlich ein Plädoyer für ein fröhliches Abendmahl (32 f.) sein, das die Herzen frei macht und die Sinne klar, ohne Bußpredigt und Sündenkult. Freilich, Brüche in der Gemeinde, in all ihren Facetten grundsätzlich nicht einfach totschweigen und zu verdammen, sondern gerecht mit ihnen verfahren; das ist noch immer ein Thema bevorzugt für Freigeister.

Den eigentlichen Konflikt zwischen Verbesserung und Vollkommenheit zeichnet Knieling folglich in einer Spannung zwischen der inneren Notwendigkeit zur Entwicklung, andererseits aber der Gefahr einer aus Ehrgeiz verursachten Überforderung (37). Denn jedes Wachsen und Verändern, welches auch für den Autor per definitionem wesenstypisch sein muss für eine sich immerwährend erneuernde Kirche, kann seine produktive Dynamik übereifrig leicht ins Gegenteil schlagen. Am Ende haben sich die Tatkräftigsten dann gewissermaßen übernommen, überanstrengt und irren hitzig in die Leere. Nicht zuletzt Hauptamtliche stehen dabei in der Gefahr, es zu lange zu gut zu meinen. Hier akzentuiert Knieling eine pastorale Dimension, die nicht zuletzt in der psychologischen Strukturierung Wolfgang Schmidbauers Hilflose Helfer (1977) anklingen lässt.

Was uns, die wir in der Kirche in den unterschiedlichsten Gruppen und Kreisen mitwirken, jedoch ablenkt von einem gesunden Blick auf die Grenzen des Leistbaren, sind „Wahrnehmungshindernisse“ (45), wie es Knieling nennt. Sie lassen uns oft zweifeln und bereiten Kopfzerbrechen, wenn die Praxis nicht so aufgeht, wie es manche parochiale Ideale erstreben. Es ist unangenehm uns in Einsicht darin zu üben, dass auch die Kirche kein immer heil(ig)er Ort ist, an dem alles gelingt. Oft sind Kirchenleute versucht, all das was ihnen nicht ins Konzept passt, mit dem Signum der Sünde zu kaschieren. Und das obwohl zur Rede von der Sünde auch eine solche Verantwortlichkeit gehört, die nicht mehr als die Schuld einzelner benannt werden kann, sondern vielmehr tragische Verwicklungen anzeigt.&xnbsp; 

Den zweiten großen Abschnitt seines Buches („Gemeindegesundungsprozesse“, 58 ff.) beginnt Knieling mit einer Analogie. Er übernimmt den in der Medizin auf Menschen angewandten, relativen Gesundheitsbegriff und überträgt ihn auf die Gemeinden. So kann laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Mensch als „gesund“ gelten, welcher fähig ist, selbst mit Einschränkungen „auf die Anforderungen des Lebens gut zu reagieren“. In der Analogie Knielings ist demnach „Gemeindegesundheit“ ebenso relativ. Sie bezeichnet daher nicht einen „dynamischen Zustand vollkommenen sozialen und spirituellen Wohlbefindens“ (60), sondern „Gesundheit“ bedeutet für den Autor, dass „eine Gemeinde mit den alltäglichen Herausforderungen gut umgehen kann“. 

Dieser relativen Gemeindegesundheit gilt es sich bewusst zu werden, so Reiner Knieling. In diesem Sinn betont er, dass bei Veränderungsvorgängen in den Kirchengemeinden zwischen Zielen und Wünschen zu unterscheiden ist. (Dass diese beiden Dimensionen im EKD-Impulspapier Kirche der Freiheit nicht unterschieden werden, sieht Knieling als „eines der grundlegenden Probleme“ des Papiers.) Ziele sind demnach begrüßenswert und durch konkrete Schritte zu erreichen. Die Erfüllung der Wünsche hingegen bleibt unverfügbar. Besonders mit Blick auf die Erfahrungen von Entmutigung und Enttäuschung, sollten die Ziele einer Gemeinde realistisch sein und nicht zu hoch gesteckt. Einer der Leitsprüche Knielings lautet: Nicht „besser“, sondern „anders gut“ soll es gemacht werden.&xnbsp; Und für alle Freunde der Mathematik steuert er eine Faustformel bei, nach der (jeweils situativ) das Veränderungspotenzial in einer Gemeinde bestimmt werden kann (nach R. Beckhard/D. Gleicher):&xnbsp; „C (Change) = D (Dissatisfaction) x V (Vision) x F (First Steps) > R (Resistance). Das heißt, das Produkt aus Unzufriedenheit, Vision und den ersten konkreten Schritten muss größer sein als der Widerstand gegen die Veränderung. Dann kommt Veränderung zustande“. (87)

Dem Veränderungspotenzial sind jedoch Grenzen gesetzt. Knieling versucht an einer entsprechenden Bewusstseinsbildung mitzuwirken. „Dass das Verbesserliche verbessert werden muss, ist im gesellschaftlichen Mainstream klar, dass Unveränderliches hingenommen werden muss, dagegen nicht“ (92). Darum lautet eine seiner regelrecht bekenntnishaft formulierten Thesen: „Gemeinden sind zugleich Orte, an denen Unvollkommenes ausgehalten, ertragen und erlitten wird – in der Erwartung und Hoffnung auf Gottes zukünftige Vollendung“. 

Um seine Annahmen systematisch-theologisch zu unterfüttern, holt er sich des Öfteren besondere Schützenhilfe bei dem großen reformierten Theologen Karl Barth. Dieser sieht in seiner Kirchlichen Dogmatik beispielsweise den Menschen gekennzeichnet durch eine Bestimmung zur Einmaligkeit, die sich aus seiner individuellen Beschränkung ergibt (93). Daraus folgen eine Auseinandersetzung mit dem eigenen „geschichtlichen Standpunkt“ (Barth) und die Entscheidung darüber, „wo Widerstand zu leisten ist und wo Akzeptieren und Einfügen der richtige Weg ist“ (Knieling). 

Das kann nach Knieling ebenso heißen, die eigenen Wunschbilder zu überprüfen und bereit zu werden, „meine Wunschbilder zerschlagen zu lassen, auch wenn sie gelegentlich wieder erscheinen werden. Das ist die Chance, die in der Unvollkommenheit der Gemeinden liegt“. (98) Zu akzeptieren sind aber nötigenfalls nicht nur Zustände, sondern auch Personen. Die Kirche ist zwar eins in Christus bzw. in Gott, dennoch weist sie selber eine deutliche Vielgestaltigkeit auf, die in der Pluralität der in ihr vorfindlichen Überzeugungen zutage tritt. Konflikte sollten da nicht gescheut, an Vorwürfen aber sollte sich nicht festgeklammert werden. 

Als ein wichtiges Mittel zur Stärkung der „Gemeindegesundheit“ stellt der Autor den Humor heraus. Humor bedeutet für ihn im Allgemeinen, einer schwierigen Situation ins Gesicht zu lachen. Ein „Humor der Glaubens“ (ab 107) wurzelt für Knieling, der u. a. auf Karl Barth und Wilfried Härle verweist, in der Einsicht, dass alles Weltliche und Menschliche nicht absolut gesetzt werden kann oder vergöttlicht werden darf, da alles Leben letztlich in Gott verankert ist. 

Diese Einsicht – und sicher auch einmal das Erzählen von Witzen – verhilft zu einem gelasseneren Umgang mit schwierigen Situationen sowie Überzeugungen und theologischen Ansichten (einschließlich der eigenen). So wie Lachen und Weinen oft nahe beieinander liegen, spricht sich auch Knieling dafür aus, neben dem Humor der Trauer in den Gemeinden Raum zu geben (ab 111). Verluste und Abschiede – nicht nur von Verstorbenen, sondern ebenso von Mitgliedern, Mitarbeitenden, Geld, der gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen und persönlichen wie gemeinsamen Idealen – sollen und müssen durchaus bemerkt und zugelassen werden. Nur dann kann, so Knieling, aus dem Schmerzlichen etwas Heilsames werden. Trauer bietet die Möglichkeit zum Sortieren: Die Menschen können die eigenen Ressourcen und Risiken überschlagen und daraufhin mit einer realistisch(er)en Zielsetzung einen neuen Aufbruch wagen.

Die Spiritualität hat viele Orte. Neben Klöstern und Kommunitäten können das auch die unterschiedlichen Gottesdienstformen und Veranstaltungen in der Kirchengemeinde sein. Unter Spiritualität will der Theologe Reiner Knieling zweierlei verstanden wissen: Es ist einerseits Gottes Wirksamkeit im Geist und andererseits eine menschliche Haltung, die Erwartung, Bereitschaft und Suche umfasst. Er schreibt: „Spiritualität hat genauso viel mit Gottes unverfügbarem Wirken wie mit unserem Einüben zu tun. Menschen richten sich in ihrem Verhalten auf Gottes unverfügbares Handeln aus. Spiritualität einüben heißt: Sich damit anfreunden, dass das eigene Leben wie das anderer Menschen und der Gemeinde geschenkt ist und dass es in dieser Welt brüchig und auf GottesZuwendung und Vollendung angewiesen bleibt“ (118; Hervorhebung von R. Knieling).

Im Gebet, besonders durch Psalmen oder Psalm-Übertragungen, kann die ganze Spanne von menschlichen Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden: Von Freude und Glück im Dankgebet über die Klage der eigenen Ohnmacht in den Psalmen bis hin zur Bitte um Hilfe und Segen. In den drei Dimensionen der Spiritualität – Vertrauen, Hoffnung und Liebe – lassen sich nach Knieling wiederum die Dimensionen des Fragments (nach Henning Luther) entdecken. Sie führen dazu, sich selber und andere – bei aller Unvollkommenheit – anzunehmen (Liebe), Gottes Vollendung zu erwarten (Hoffnung) und den Neuanfang trotz des Scheiterns zu versuchen (Vertrauen).Ein kurzer Katalog von Leitfragen, der dabei helfen soll, Unvollkommenheiten und Entwicklungspotenziale in einer Kirchengemeinde aufzuspüren, schließt das Buch Knielings ab. 

Reiner Knieling analysiert scharf und einfühlsam. Er bleibt dabei immer gut verständlich, so dass sich sein Buch besonders für Menschen eignet, die aktiv in die Gemeindearbeit eingebunden sind – und nicht nur solche die aus dem Hochschulbereich kommen. Die eingeflochtenen, teils aus der Ich-Perspektive von ‚Betroffenen‘ geschilderten Fallbeispiele sind prägnant, wirken an manchen Stellen aber zu funktional. Das heißt, sie sollen offenbar mehr oder weniger nur die Ansichten Knielings stützen, anstatt Schwierigkeiten aufzuzeigen, an denen sich der Theologe im Folgenden abarbeiten würde. Problematisch ist ebenfalls, dass die eher beiläufig in den Beispielen mittransportierten theologischen Sichtweisen nicht hinterfragt werden. Insbesondere Knielings unbekümmerter Umgang mit evangelikalen Vorstellungen wirkt an einigen Stellen recht irritierend (z. B. 95 f.). 

Doch vielleicht müssen wir gerade diese Beispiele als uns vom Autors verordnete Übungen zum ‚Aushalten anderer‘ verstehen? Ein sprachlicher Wermutstropfen bleibt allerdings: Ausgerechnet die Passagen, in denen Knieling einen ausdrücklich religiösen bzw. theologischen Ton anschlägt, wirken bisweilen wie sprachliche Fremdkörper. Sie sind von der Wortwahl her wenig originell und kommen dann über althergebracht klingende Formulierungen nicht hinaus. Zum Beispiel wenn er über Ohnmachts- und Hilflosigkeitserfahrugen spricht: „Hilflosigkeit und Ohnmacht können manchmal nur ausgehalten werden. Genau darin verbindet sich Jesu Schicksal mit unserem und macht uns auf das Heil aufmerksam, das uns von Gott her zukommt: Aus der Ohnmacht erwächst eine heilsame Veränderung, allerdings innerhalb eines Zeitplanes, den nicht wir vorgeben sondern Gott“ (99).

Etwas ärgerlich ist, dass Knieling wie selbstverständlich in Teilen eine Theologie verficht, die alle Verantwortung, die nicht den Menschen zugewiesen werden kann, einfach Gott zuweist (z. B. 123). Besteht damit nicht die Gefahr, dass die Verantwortung zu schnell – besonders für Unangenehmes – leichtfertig auf Gott abgewälzt werden kann? Vor allem, was heißt in diesem Zusammenhang wirklich „Verantwortung“? Es liegt zum Beispiel nicht in Menschenhand, ob es zum Gemeindefest regnet oder nicht. Ist damit automatisch Gott für das miese Wetter verantwortlich?&xnbsp; Zum anderen schreibt Knieling – ganz in der Manier Karl Barths und der Dialektischen Theologie –, dass Gott alles Irdisch-Fragmentarische (dermaleinst) vollenden werde (118). Gott in der Rolle eines ‚metaphysischen Lückenfüllers‘? Das passt natürlich gut in Knielings Konzept. Die Frage ist, ob eine solche Theologie im 21. Jahrhundert (das heißt auch nach der Feuerbach’schen Religionskritik) immer noch bedenkenlos vertreten werden kann. 

Das ständige Insistieren Knielings auf dem Unvollkommenen hat hier und da etwas Verbissenes. Statt einer „Verbesserungswut“ legt er eher eine „Relativierungswut“ an den Tag. Dabei wird klar, dass Knielings Buch keine uneingeschränkte Empfehlung zuteil werden kann. Denn nur denen kann es wirklich empfohlen werden, die sich ganz ernsthaft mit überzogenen Optimierungserwartungen konfrontiert sehen. Sie werden viele wertvolle Hinweise und Argumentationshilfen finden, um sich gegen den Optimierungsdruck in den Kirchengemeinden zu Wehr zu setzen. In den Händen anderer jedoch vermag es möglicherweise zu einem wirkungsvollen Mittel zu werden, um den Status quo, der ja auch immer Fragment ist, gegenüber Veränderungsbemühungen abzudichten. Und dies wäre ganz sicher nicht im Sinne des Praktischen Theologen Reiner Knieling.

Ähnliche Artikel:
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Menü