Evangelische Jugendarbeit – Eine Erfolgsstory

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Ingo Holzapfel
Saaler Straße 16, 66606 St. Wendel

»Aber warum ausgerechnet mit fünfundzwanzig Gängen?«Daß sich der Wert eines Fahrrades meiner Auffassung nach auch anders messen ließ, war meinem Patensohn schlichtweg nicht klar zu machen. »Darum geht es gar nicht«, meinte er trotzig. – »Wieso nicht? Ich hatte sogar ein Fahrrad, das ohne Schaltung lief.« – »Deshalb fährst Du auch heute kein Fahrrad mehr!« Eine Erfolgsgeschichte der Jugendarbeit geht nicht in ihrer bloßen Existenz auf. Daß es Jugendarbeit gibt, ist für die bisherige und weitere Geschichte unerheblicher als die Tatsache, wie sie sich in ihrer ganzen Formenvielfalt gibt. Wer deshalb eine Erfolgsgeschichte der Jugendarbeit erzählen will, müßte viele Geschichten erzählen. Beides, das Viele und das Erzählen, will in einer vorgeschriebenen Kürze nicht immer gelingen. Bleibt uns dies: auf die Geschichten zu verweisen und damit an unseren Reichtum zu erinnern, der uns hoffentlich nicht dazu zwingt, das ewige Leben zur Wahlsache zu machen. Aber das wäre dann eine andere Story.

Geschichten vom Aufbruch
Schon die Anfänge der Jugendarbeit sind eng verbunden mit Geschichten von Aufbrüchen. Diakonie und Mission haben, so könnte man vermuten, die Bedingungen dafür erst geschaffen, daß so etwas wie Jugend überhaupt entstehen konnte. Aber das war nicht ein Erfindungsvorgang sondern vielmehr ein Entdeckungsvorgang, an dem junge Menschen eigenen Anteil hatten Die Jugendbewegung ist weder eine Schöpfung von Jugendhilfefachleuten noch die Urgeschichte der Selbstverwirklichung. Man kann weder die Entstehung noch den Erfolg der Jugendarbeit unter Absehen von der Geschichte des Glaubens erzählen. Aber man muß das auch umkehren: Wer die Geschichte des Glaubens der letzten zwei Jahrhunderte ohne die Geschichte der Jugendarbeit erzählen will, wird sie verfehlen. 
Die Geschichte der Jugendsozialarbeit wird nicht getrennt von der Geschichte des Stadtjugendpfarramtes in Stuttgart geschrieben werden können, so wenig wie die Geschichte der Erneuerung des Gottesdienstes ohne die Geschichte des Stadtjugendpfarramtes in Frankfurt, ganz zu schweigen von dem Umbruch 1989, der ohne Kenntnis der E Jugendarbeit in Berlin, Dresden oder Leipzig und vielen anderen Orten nicht nachzuvollziehen ist.
Aber auch theologische Erneuerungsbewegungen tragen den persönlichen Stempel von Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern. Die Geschichte der Lutherrenaissance in den zwanziger Jahren wird man nicht ohne den Namen Erich Stange schreiben können, so wenig wie die jungreformatorischen Leistungen ohne die Namen von Otto Riethmüller und Udo Smidt hinreichend erfaßt wären oder die liturgischen Erneuerungen ohne den Namen Wilhelm Stählin.
Aufbrüche sind oft aus besonderen Notsituationen heraus entstanden. So etwa aus der ungeheuren Konkurrenz, die unter den verschiedenen Gruppen der Jugendarbeit in den 20er Jahren entstanden war. Es war ein Aufbruch zur Einigung, der zunächst einmal vom Jungmännerwerk ausging. Auch die Profilierung der unterschiedlichen Verbände – hervor getrieben aus dem Zwang zur Abgrenzung – hatte hier ihren Ort, sowie die Formenvielfalt, die aus den immer neuen Abspaltungen und Sondervereinigungen erwuchs. Und schließlich blieb es ja nicht bei einem bloß abstrakten Gegenüber. Alle versuchten von allen zu lernen. So kam sogar die Reformbewegung in die evangelische Jugendarbeit und schließlich in die Kirche. Die Jugendarbeit hat vielleicht am ehesten die reformpädagogischen Ansätze der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in ihrem umfassenden Anspruch ernst genommen. Es ging ihr nicht nur um die Vermittlung eines Wissenskanons, sondern um die ,Meisterung des Lebens’, um Lebenskunst, um Bildung in einem ursprünglichen Sinn. Jugendarbeit hat daher die Sinnlichkeit als pädagogisches Element immer bewahrt. Spätestens als der Duft des ,Transfair’-gehandelten Kaffees an den kalten Mahnwachentagen in die Nasenlöcher zog, kam nicht nur die Ahnung von Versöhnlichkeit auf, es meldete sich auch die zaghafte Einsicht, daß die Nächstenliebe ebenfalls durch den Magen gehen könne und die Kirche nicht nur zu Kaffeekränzchen gut sei.
Auch andere Zeiten lassen sich als Aufbrüche in der Kirche beschreiben. Die Not der Kirchenkampfzeit ist oft genug beschrieben worden, so daß ,ihr’ Erfolg fast zum Ursprungsmythos geworden ist: die Entdeckung der Gemeinde und die Konzentration auf die Bibelarbeit. Die Nachkriegsgeschichte der Jugendarbeit als Notzeit wäre nur ansatzweise bedacht, wenn man ihre Erfolge lediglich als Aufnahme der sozialfürsorgerischen und erzieherischen Herausforderungen bilanzieren wollte. Es gelang der Jugendarbeit auch so disparate Erwartungen aufzunehmen wie die der Alliierten und der Ökumene oder wie die von Jugendlichen. Im Nachhinein scheint das manchmal zu selbstverständlich. Aber die Frage, wie die Jugend überhaupt zur Kirche kommt, mußte erst einmal gestellt werden. Das ist eine Geschichte, deren Ende wir noch nicht erzählen können. Aber jedem aufmerksamen Beobachten öffnet sich der Blick dafür, wie die Jugendarbeit die Jugend zur Kirche bringt: helfend, spielend, singend, fragend, tanzend, mitunter auch störend und fordernd, hörend zwar, aber eben auch nicht zu überhören.
Die letzten 50 Jahre der evangelischen Jugendarbeit ließen sich also erzählen als eine Geschichte von Aufbrüchen, mit ihren bemerkenswerten Konsequenzen für die Kirche. Die Nachkriegsgeschichte schon: Selbst Werke und Verbände fanden ihren Ort in den Landeskirchen. Die aus der Schülerarbeit stammenden Landesjugendpfarrer hielten ja nicht einfach aus nostalgischen Gründen an ihrem Junge-Gemeinde-Konzept der Bekennenden Kirche fest, sondern sahen darin eine Erneuerungschance für die Kirche. Die 50er Jahre führten zu einem wissenschaftlichen Aufbruch, an dessen Ende eine große Untersuchung über Jugend und Religion stand, die Ausgangspunkt zu einer ersten Debatte auch über die Zukunft der Kirche wurde. Die 60er wurden zum emanzipatorischen Aufbruch, dessen Tragweite sich erst erschließt, wenn man ihn auch unter den missionarischen Jugendwerken auslotet, deren neues Selbstbewußtsein den kirchlichen Gemeinschaften und Bewegungen um Bibel und Bekenntnis zugewachsen ist.
In den 70er Jahren wird man die Geschichte der sozialen Bewegungen nicht nur so beschreiben können, daß von ihren Auswirkungen auf die Jugendarbeit und darin auf die Kirche zu erzählen ist. Wer hier erzählen möchte, sollte tunlichst beginnen damit, wie bereits die antimilitaristischen Stellungnahmen der evangelische Jugend in den frühen 50er Jahren zwar nicht voraussetzungslos waren, aber in ihren Zuspitzungen besonders die Kirche trafen, von den Stellungnahmen der Jugendkammern und des Orbishöher Kreises zu den Handreichungen der verschiedenen Dekaden, von ,Was kostet uns der Frieden?’ (1967) bis zu den ,Friedensleitlinien’ (1984), von der Stellungnahme gegen die Wehrerziehung bis zu der Erfolgsgeschichte der Friedensdekaden.
Und wenn man den 90er Jahren einen spirituellen Aufbruch attestieren will, dann ist dies möglich, weil bereits vor zehn Jahren in einem erstaunlichen theologischen Urteil festgehalten wurde, daß die Jugendarbeit zur Wiedergewinnung einer neuen Abendmahlsfrömmigkeit beigetragen habe. Daß aber die Jugendarbeit auch weit darüber hinaus zur Trägerin dieses neuen spirituellen Aufbruchs geworden ist, wird man vermuten dürfen, auch wenn diese Geschichte noch nicht abgeschlossen ist.
Kann man aus Geschichten lernen? Zur Erfolgsgeschichte der evangelischen Jugend gehört zweifelsohne die Tatsache, Ernst zu machen mit dem, was wir heute als lernende Organisation bezeichnen. Jugendarbeit war bereits der Motor der Lerngemeinschaft Kirche, als diese noch auf dem Weg zur Einsicht war, daß dies eines ihrer Kennzeichen sein könne. Schon die Sekretärsschule des Jungmännerwerkes und das Burckhardthaus zeigten, daß die Professionalisierung der Jugendarbeit Wege zur Gemeindebildung bahnen kann. Und später, als die Selbstreflexion ihren festen Ort gefunden hatte mit den Einrichtungen der Studienkurse und der Studienarbeit der Evangelischen Jugend Deutschlands und den Jugendbildungsstätten in Altenkirchen, Radevormwald, Josefstal, Höchst, Koppelsberg, noch später auch in Hirschluch (Storkow) und im Weißen Hirsch (Dresden) wie vorher schon im Martin-Butzer-Haus in Bad Dürkheim und in vielen weiteren Zentren, erschöpfte sich die kreative Arbeit keineswegs in Selbstgenügsamkeit oder Selbstgefälligkeit. Jugendarbeit demonstrierte, daß zu einem gelingenden Bildungsprozeß auch die sozialräumlichen Bedingungen und das soziokulturelle Umfeld gehören. In der gegenwärtigen Spardiskussion wird zu oft übersehen, daß der Glaube des Ortes bedarf, des Milieus, der Lebenswelt. Die Jugendarbeit wird diese Erkenntnis noch dann festhalten, wenn die Kirchen die letzten sozialräumlichen Bedingungen für eine blühende Lerngemeinschaft wegrationalisiert haben werden. Es sind nicht einfach Immobilien, die geschlossen werden, sondern Pflanzstätten der Spiritualität, Laboratorien für die ,Chancen des Alltags’.
Zwei Bereiche sind aber so umstandslos in die kirchliche Arbeit integriert worden, daß die Leistung der evangelische Jugend, die darin steckt, zwar unumstritten, aber auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar ist. Es ist dies zum einen die Bibelarbeit, die nicht nur in der Konzeptentwicklung, sondern auch im sogenannten Bibelleseplan seit den 60er Jahren bereits in anderen Institutionen ressortiert. Und es ist zum andern die Kulturarbeit der evangelischen Jugend, die in ihrer Ausdifferenzierung und Professionalisierung schon fast in einer ,natürlichen’ Bewegung immer wieder über die Jugendarbeit in den kirchlichen Raum hinein führt. Das gilt generell, so wie man im speziellen die Jugendkreuzwege oder die Friedensdekaden, die Blues- und Techno-Messen erinnern müßte.
Wendet man schließlich den Blick weg von den bloßen Themen, thematischen Anstößen und Projekten, die zum Modell wurden, so wird man nicht zuletzt unterstreichen müssen, daß der eigentliche Erfolgshit der Jugendarbeit bei den Menschen selbst liegt, bei den hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ohne die die Kirchen (Landeskirchen wie Freikirchen) ,alt’ aussehen würden und übrigens auch der Deutsche Evangelische Kirchentag und die Evangelische Allianz. Evangelische Jugendarbeit ist zu allen Zeiten eine Institution des Aufbruchs von Kirche gewesen. Jugendarbeit, so kann man schließen, ist eine Gestalt von Kirche, in der der Glaube schöpferisch, d. h. lebendig und kreativ wird. 

Anstöße zu Geschichten
Die Geschichte der evangelische Jugendarbeit könnte man auch erzählen als eine Geschichte von erfolgreichen Anstößen, Impulsen und des gelingenden Wagnisses von Zeitgenossenschaft.
Als vor etwa zehn Jahren die mobilisierende Kraft der Formel des Konziliaren Prozesses bereits zu verblassen begann, war seine Begrifflichkeit längst in der Alltagssprache aufgegangen. In den Begriffen von der ,Bewahrung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit’ versuchten selbst die bürgerlichen Medien ihre Themen zu zentrieren. Für die Jugendarbeit war es weithin Erinnerung an drei ihrer bedeutendsten Aufgabenfelder.
Das älteste hängt mit dem Begriff der Gerechtigkeit zusammen. Verstanden als Frage nach der innergesellschaftlichen Gerechtigkeit reicht der Begriff bis in die Anfänge der Jugendarbeit zurück. Die Evangelische Jugend Deutschlands (EJD), die Jugendsozialarbeit und die Offene Jugendarbeit mögen in den Jahren nach 1945 viele Erneuerungsimpulse aus dem Ausland empfangen haben und als Herausforderung der Jugendarbeit direkt auch erst entdeckt worden sein, bekannt war das Aufgabenfeld aber schon 100 Jahre zuvor. Die Leistung der evangelischen Jugendarbeit in den ersten Nachkriegsjahren bestand nicht nur darin, die Herausforderungen unmittelbar in vielen Hilfsprogrammen (vom Heimatlosenlagerdienst und den Aufbaugilden) aufzugreifen, oder in der personellen Unterstützung der Projekte der Inneren Mission und des Hilfswerkes, sondern in der Wiederbelebung und Weiterentwicklung ihrer eigenen Traditionsbestände. Die Offene-Tür-Arbeit, die Industriejugendarbeit, die Offene Jugendarbeit, sind aus diesen Anstößen hervorgegangen. Die Gründung des Evangelischen Jugendaufbaudienstes (EJAD) mag zwar der überregionalen Organisationsstruktur der Jugendsozialarbeit nachgefolgt sein, hatte aber bereits ihre Vorläufer in der Praxis der evangelischen Jugendarbeit.
Der Einsatz für ein Bundesjugendplanprogramm im Allgemeinen und für einige der Programme im Besonderen kennzeichnete das jugendpolitische Handeln der evangelischen Jugendarbeit bereits zu Beginn der 50er Jahre. Den nachdrücklichsten Erfolg hatte die evangelische Jugendarbeit, die bereits das Diakonische Jahr praktizierte, bei der Entwicklung der Mädchenbildungsprogramme und des Freiwilligen Sozialen Jahres.
Die Hilfskonzepte, die die evangelische Jugend in der ökumenischen Gemeinschaft kennenlernte, wurden alsbald zum Modell für die gesamtkirchliche Arbeit im deutsch-deutschen Bereich, als Patenschaftsarbeit zunächst und später als Begegnungsarbeit und in der Ordnung von Partnerschaften. Die materiellen Hilfen, die noch über 1989 geleistet wurden und in Millionenbeträgen bilanziert werden könnten, gründen in diesen Erfahrungen und Vorgängen.
Damit ist auch das zweite große Aufgabenfeld angesprochen: Frieden. Man wird die Impulse, die von Genf ausgingen, nur dann richtig einordnen können, wenn man sich klarmacht, daß dort die Jugend als Trägerin der Versöhnungsarbeit gesehen wurde Es ist daher folgerichtig, daß aus den Ökumenischen Aufbaulagern weitere Arbeitsformen hervorgingen: die Ökumenischen Jugenddienste und die Friedensdienste, und vor allem die Aktion Sühnezeichen. Und wie die evangelische Jugend der Nachbarländer (vor allem die in Schweden und der Schweiz, aber auch die in England und den Niederlanden) und der USA durch Austausch- und Begegnungsprogramme, durch materielle und finanzielle Hilfen kreativ tätig wurde, so versuchte die EJD Selbsthilfemodelle zu etablieren und bereits in den 50er Jahren in eigenen Weltjugendprojekten auch Hilfe im Ausland zu leisten. Daß daraus in den 60er Jahren gezielte ökumenische und entwicklungspolitische Initiativen wurden, etwa der Dienst in Übersee erwuchs, war den ökumenischen Impulsen zu verdanken, die durch die Jugendarbeit verstärkt worden waren. In der Friedensdiskussion ging ein erster Strang der Diskussion von der Debatte um die Remilitarisierung der Bundesrepublik zur Konzipierung des Ersatzdienstes, zur Gründung des Evangelischen Arbeitskreises zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) und zur Arbeitsgemeinschaft für die Soldatenseelsorge. War der Widerspruch gegen die Atomwaffen noch von einer kleineren Gruppe in der evangelische Jugend getragen, so waren die großen Friedensmärsche der 60er Jahre bereits eine Aktivität, die weite Kreise der evangelischen Jugend erfaßte und auch über ihren Rahmen hinausreichte.
Die eigentliche Erfolgslinie der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit der evangelischen Jugend speist sich aus beiden Traditionen. Der entscheidende Durchbruch gelang ihr in den 70er Jahren, nachdem auch die katholische Jugend einstieg. Das besondere Konzept des Dritte-Welt-Handels (GEPA) wäre freilich ohne die finanzielle Unterstützung der beiden Hilfswerke der Kirche nicht zu realisieren gewesen. Das Antirassismusprogramm des ORK, das in den deutschen Kirchen höchst umstritten war, wäre ohne den tragenden Einsatz der evangelischen Jugendarbeit bei uns so wenig zum Erfolg geworden wie die gesamte Solidaritätsarbeit. War die entwicklungspolitische Bildungsarbeit zum Markenzeichen der evangelischen Jugend im Westen geworden, so die Friedensarbeit etwa gleichzeitig zu dem der evangelischen Jugend im Osten. Allerdings muß notwendig auch hinzugefügt werden, daß es auch die westliche Friedensbewegung so nicht gegeben hätte, wenn es nicht auch die Institutionen der Jugendarbeit mit ihrer enormen Organisationskraft gegeben hätte. Das ist von den Kritikern der Verbände, die sich gerne den mühevollen Verständigungsprozessen und dem komplizierten aber auch tragfähigeren Netzwerk der Jugendarbeit entzogen haben, geflissentlich übersehen worden, und den meisten Zuschauern verborgen geblieben.
Ein ähnlicher Medien- und Verbandsmythos hat sich im Blick auf die Ökologiebewegung durchgesetzt. Läßt man diese nämlich mit der Institutionalisierung einer ökologisch orientierten Partei beginnen, dann wird nicht nur die Vorgeschichte ausgeblendet, die ebenfalls nicht von der evangelischen Jugend getrennt werden kann und vor allem nicht einer reichen Tradition kirchlicher Landjugendarbeit, sondern man vergißt schlichtweg, daß bereits die Jugendbewegung zu einer ersten Entdeckung (und unseligerweise auch Mythisierung) der Natur beigetragen hatte, deren Impulse in der evangelischen Jugend durchaus noch lebendig waren. Die ,Bewahrung der Schöpfung’ ist auf jeden Fall kein Aufgabenfeld, das der Jugendarbeit erst als spätes drittes und erst kürzlich zugewachsen sei. Es ist keinesfalls übertrieben zu schließen, die konfessionelle Jugendarbeit sei zum Gewissen der sozialen Bewegungen gerade darin geworden, daß sie das Bewußtsein für die Unteilbarkeit gesellschaftlicher Verantwortung wachgehalten hat. 
Evangelische Jugendarbeit ist damit auch ein unverzichtbarer Teil der Erfolgsgeschichte politischer Bildung im Nachkriegsdeutschland geworden. Bevor es in der Schule oder der außerschulischen Bildung zur Festigung von Lernkatalogen gekommen war, hatte die EJD in der Auseinandersetzung mit der FDJ schon ihre erste Lektion in politischer Alltagspraxis absolviert. Die Verortung der EJD in einem gesamtdeutschen Kontext, hat ihr auf der parteipolitischen Seite eine ungeheure Freiheit gebracht. Sie war nie eindeutig einer Partei zuzuordnen, und deshalb politisch flexibler als die meisten Jugendverbände, die sich im Deutschen Bundesjugendring zusammengefunden hatten. Allerdings wurde sie auch nicht von Parteien hofiert. Das schmälerte zwar ihren direkten Einfluß auf dem politischen Parkett und machte die EJD zu einem der schwierigen Mitglieder in dem auf dem Boden des Grundgesetzes stehenden DBJR, schärfte aber auch ihr positionelles Profil. Im Bereich der DDR war die evangelische Jugendarbeit sogar die einzige ,Jugendorganisation’, die außerhalb der Schule und der FDJ politische Bildung auf einem nennenswerten Niveau betrieben hat.
Die Evangelische Jugend hat selbst das Lernen des Unmöglichen auf die Tagesordnung gesetzt: den Umgang mit der Sexualität, mit der Vergangenheit und mit dem Glauben. Die Namen Martin Goldstein und Helmut Kentler, beide Mitarbeiter in Bildungseinrichtungen der evangelischen Jugendarbeit, stehen für einen unvergleichlichen Aufbruch der Sexualpädagogik in den 60er Jahren, der Ende der 70er Jahre aber bereits vergessen schien, und sich im Rückblick der Medien heute fast nur noch mit dem Namen Kolle und seiner Methode der Erwachsenenbildung verbindet. Teile der evangelischen Jugend hatten schon mit der Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen, bevor Adorno dekretierte, die vorrangige Maxime jeder Erziehung in Deutschland müsse sein, daß Auschwitz sich nicht wiederhole.
Und die EJD hatte in protestantischer Glaubensgewißheit den Schritt zur Selbstkritik und kritischen Analyse gewagt, den die übrigen Jugendverbände, aber auch kirchlichen Einrichtungen, die bis heute ein Mißtrauen gegenüber der wissenschaftlichen Beobachtung und Begleitung nicht abgelegt haben, zaghaft erst Jahre später zu gehen versuchten. Die großen Untersuchungen sprechen eine eigene deutliche Sprache: ,Religion ohne Entscheidung’ (50er Jahre), ,Sozialwissenschaft und Theologie’ und ,Evangelische Jugendarbeit in Deutschland’ (60er Jahre), ,Konflikte im Erziehungsfeld’, Wirkungsanalysen und Evaluationen der geförderten Maßnahmen (70er Jahre), Kirchentagsuntersuchung und Zeitzeugenprojekt (80er Jahre) und wiederum ,Jugend und Religion’ (90er Jahre), seit 1984 auch einmal in der Sitzungsperiode einer EKD-Synode den Jugendbericht. Erst in den 80er Jahren aber sind die Sozialwissenschaften auf die besondere Qualität konfessioneller Jugendarbeit aufmerksam geworden. Der Wertewandel der 80er Jahre hat in dieser Hinsicht und aus ihrem Blickwinkel seine besondere Pointe darin, daß die konfessionelle Jugend als Trägerin der Entwicklung neuer Werte und als Bewahrerin von Traditionswerten – in der Spannung von Selbstverwirklichung und Solidarität – zugleich geortet wurde.
Bis Anfang der 70er Jahre hatte die evangelische Jugend wenigstens ihre eigene ,Junge Stimme’, die vierzehntägig mit einer großen Verbreitung erschien und sich von der ,Jungen Welt’ dadurch unterschied daß für sie die Jugend, und nicht nur die, erst innerhalb parteipolitisch sanktionierter Grenzen begann. Allerdings ist diese Stimme im Deutschen Sonntagsblatt eingegangen und bislang dort nicht wieder erweckt worden. So bleibt die Tatsache, daß die evangelische Jugendarbeit in den beiden deutschen Staaten eine nicht ganz unwesentliche Rolle gespielt hat, vielleicht das einzige esoterische Geheimwissen, das auch der neuen Bundesrepublik zu einer Erleuchtung werden könnte. Evangelische Jugendarbeit ist, so könnte man festhalten, eine der Gestalten, in der die Kirche erneuernd auf die Gesellschaft einwirkt.

Verborgene Geschichte 
Man könnte freilich eine Erfolgsgeschichte der Jugendarbeit auch so erzählen, daß man die Suche nach ihren verborgenen Wegen und Spuren zum Gegenstand macht. Zum ersten Mal wurde mir die Tatsache eindrücklich bewußt, als ich einen Jugendchor aus Estland hörte. Die Melodie kannte ich, ich kannte eigentlich auch das Lied. Ich konnte aber nicht erinnern, daß es so viele Strophen hatte. Die Übersetzung erst machte mir klar, daß es etwas mit der ,Selbstimmunisierung’ unserer westlichen Industriegesellschaften zu tun hatte. Alle Strophen mit religiösem Inhalt waren in unseren Schulliederbüchern und sogenannten Volksliedersammlungen längst verschwunden. Der Tschibo-Mann war bereits da gewesen, ohne daß wir das gemerkt hätten. 
Wie es also eine Geschichte der verborgenen Texte und Melodien geben kann, so auch eine verborgene Genealogie, die evangelische Jugendarbeit als Familiengeschichte oder Namensgeschichte. Man könnte dem Sachverhalt nachspüren, warum bestimmte Namen in der Jugendarbeit immer wieder eine wichtige Rolle spielen. Es ist einfach bedauerlich, daß für den Bereich der evangelischen Jugendarbeit nur wenige Autobiographien und Festschriften vorliegen, kaum wissenschaftliche Biographien und keine einzige Darstellung der hochinteressanten informellen Zirkel und Netzwerke, wie dem legendären Orbishöher Kreis um Ernst Lange oder dem Schwanenwerder Kreis und dem Montagskreis in Kaiserslautern nach l945. Denkbar wäre, der Ursprungsgeschichte des SDS-Chefideologen Krahl oder des Studentenführers Dutschke nachzugehen. Oder man könnte gespannt darauf sein, wie sich aus der Verbindung der Namen Weigle, Busch, Heinemann, Höffner, Deichmann und Parzany nicht nur ein Stock der Geschichte Essens rekonstruieren ließe. Bei Einstellungsgesprächen etwa habe ich mir das zur Regel gemacht, die Frage nach der Erfahrung in der Jugendarbeit. Manchmal führt das bei den Befragten zu einer Entdeckung ihrer eigenen Geschichte. Eine Mediengeschichte könnte so beginnen: Als man im Deutschen Fernsehen selbst im Traum noch nicht daran dachte Talk-Shows en masse bzw. ohne Maß zu produzieren und in einem profunden Beitrag eines GEP-Magazins daher auch noch nicht darüber sinniert werden konnte, ob das nun die säkulare Form der Beichte sei, hatte es diese Gesprächsform bereits in den Jugendgottesdiensten der 60er Jahre gegeben. Sie stand damals aber nicht an Stelle der Beichte, sondern der Predigt und auf jeden Fall in Blüte. Die Früchte haben freilich andere geerntet. Verglichen damit und im Bilde geblieben, haben wir es heute mit einem Komposthaufen zu tun, der ja auch irgendwo nützlich ist. Man kann zumindest reich werden damit. Der Reichtum der modernen Kommunikationsgesellschaften besteht in einer ungeheuren Sammlung von Zerstreuungsmöglichkeiten. Ihre Elementarform ist das Informationsvergnügen, vulgo Erlebnis genannt. Wir beginnen daher unsere Untersuchung mit einem Stück der theologischen Weisheit, der Unterscheidung von ,uti’ (genießen) und ,frui’ (nützen). Eine der verborgenen Geschichten scheint aus der Farbe Blau auf. Im Fragen ließe sich das transparenter machen: Wie die Farbe der Protestanten Blau wurde. Warum ausgerechnet die katholisierende Romantik eine blaue Blume suchte. Wie die wiederum in der Jugendbewegung entdeckt wurde und die Morgenwache eben noch nicht in blauen Stunden stattfinden konnte. Warum die FDJ ausgerechnet diese Farbe okkupierte, obwohl sie noch gar nichts von Blue Jeans wußte und später auch von Kiesloswskis Filmen nicht viel hielt. Wie die aej (Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland) zur blauen Farbe kam, um das Kugelkreuz wieder aus der Ununterschiedenheit des Weißen hervortreten zu lassen. Warum 1989 eine blaue Fahne in Pjöngjang nur verhaltene Reaktionen, dieselbe Fahne auf dem Gelände der ehemaligen FDJ-Hochschule am Bogensee l991 dagegen ungehaltene Reaktionen hervorrief. Und warum die Pfadfinder und das Christliche Jugenddorfwerk und mitunter sogar die Franken und Bayern das alles still genießen können. Ein Literaturtrio könnte sich, angeregt von den Drehbüchern der Lindenstraße und der Tatorte, fragen, ob die evangelische Jugend eigentlich immer in Texten auftauchen müsse, die keine Literatur sind oder keine sein wollen; in beidem auch nur bedingt besser werden, wenn sie in eigenen Verlagen erscheinen. Oder warum die evangelische Jugend in Romanen auftaucht, die angeblich nur die Qualität von Anfängerwerken besitzen, wie dem Schülerroman ,Ingrid Babendererde’ von Uwe Johnson nachgesagt wird. Und warum die evangelische Jugend im Film nicht besser daher- oder wegkommt.

Geschichte mit Zukunft? 
Wie war das noch mit dem Fahrrad?
Ich glaube, daß das nur bedingt eine Frage der Anzahl von Gängen ist. Das ist schlicht eine Sache der Lebensfreude und Dankbarkeit. Genau, und gemäß Mk 10 eine des rechten Umgangs mit dem Reichtum. Also versuchen wir den Schluß: Die E Jugendarbeit ist die gestaltgewordene Dankbarkeit der Kirche für den Reichtum des aufwachsenden menschlichen Lebens.
In dem zurückliegenden Jahren hat in mehreren Landeskirchen ein Wechsel im leitenden Amt stattgefunden. Ein erstaunlicher Effekt trat dabei zutage. Die letzten Amtseinführungen brachten ehemalige Jugendarbeiter auf den Stuhl des Bischofs, des Kirchenpräsidenten oder des Präses: Volker Kreß, ehemals Landesjugendpfarrer von Sachsen, Manfred Kock, ehemals Stadtjugendpfarrer in Köln, Ulrich Fischer, ehemals Landesjugendpfarrer in Baden und aej-Vorsitzender, und zuletzt Eberhard Cherdron, ehemals Landesjugendpfarrer der Pfalz und ebenfalls aej-Vorsitzender.
Was wären das für Feste gewesen, wenn sie ihre Einführung auch mit der Jugend gefeiert hätten und nicht nur mit den Ruhestandsgeistlichen, was für Kirchentage und was für Medienerfolge, kurz: was für ein fröhlicher Wechsel. Seid getrost. Die Kirche kann nur jünger werden. Allerdings ist das weder eine Sache des Radfahrens, noch von Wahlgängen.

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