Helmut Aßmann
Herzogstraße 74, 67435 Neustadt-Gimmeldingen
Als Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder war, den er durch eine List um den Erstgeburtssegen seines Vaters gebracht hatte, da erschien ihm im Traum eine Leiter, die bis zum Himmel hinaufführte und auf der Engel auf- und niederstiegen und oben auf der Leiter erschien Gott und sprach zu ihm: „Ich bin der Herr und Gott deines Vaters Abrahams und Isaaks Gott. Das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben“ (Gen 28,13). Und als Jakob von Haran zurückkehrte mit seinen Frauen und ihren Mägden und den Söhnen und Töchtern seiner Frauen und ihren Mägden und mit allem Vieh, das er gezüchtet hatte, da hatte er an dem Fluss Jabbok eine nächtliche Begegnung mit einem Mann, der mit ihm kämpfte und der, als er ihn nicht besiegen konnte, zu ihm sprach: „Lass mich gehen; denn die Morgenröte bricht an.“ Und er sagte zu ihm: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (Gen 32,28). Und er segnete ihn daselbst und sprach zu ihm: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gesiegt“ (Gen 32,29).
Eine solche Begebenheit ist ohne den Kontext, in dem sie sich ereignete, nicht zu verstehen. Jakob plagte sein schlechtes Gewissen, als er zu seinem Bruder zurückkehrte, wegen des Betrugs, den er an ihm verübt hatte, und er befürchtete, dass sein Bruder sich an ihm rächen werde oder das Erbteil, das er ihm schuldig war, zurückforderte. Dass beides ausblieb, der Bruder ihm vielmehr in friedlicher Absicht entgegenzog, das überstieg seine Erwartungen um ein Vielfaches. Jakob ließ sich also in Beerscheba nieder und wohnte bei seinem Bruder Esau in Frieden.
Das Geschehen wäre nicht weiter erwähnenswert gewesen, wenn nicht an den Nahtstellen der Erzählung sich Dinge ereignet hätten, die dem linearen Ablauf des Geschehens eine neue Dimension hinzugefügt hätten. Es ist die Gefühlsebene, die im Handlungsablauf nicht zur Geltung kommt, wenngleich sie durch die Motive der handelnden Personen hindurch leuchtet. Damit sie aber sichtbar wird, wählt der Erzähler eine neue Sprachebene. Es ist die Externalisierung der Affekte. Die Himmelsleiter mit dem deus absconditus an der Spitze offenbart Jakob seine Bestimmung durch Gott, die in der Verheißung des Landes liegt, das er durch seine Flucht verlassen hatte. Der verborgene Gott, der Jakob aufgrund seines menschlichen Versagens verlassen hatte, wird im Traum zum offenbaren Gott, zum Gott der Landverheißung.
Bei der Rückkehr aus Haran wird Jakob von seinen Schuldgefühlen, die er durch seinen Erfolg bei der Vermehrung seiner Herde und durch die Gründung seiner zahlreichen Familie verdrängt hatte, wieder überwältigt, sodass er den Verlust alles dessen, was er gewonnen hatte, befürchtete. Dieser in ihm aufbrechende Affekt, der nun nicht mehr verdrängt werden kann, weil er objektiv gegeben ist, wird vom Erzähler externalisiert in dem Engel, der mit ihm kämpft und der ihn wegen seiner in der Fremde gewonnenen Ich-Stärke nicht besiegen kann und ihn um das Ende des Kampfes bitten muss.
Die Externalisierung des Affekts der moralischen Schuld gegenüber dem Bruder, die in dem Kampf mit dem Bruder zum Ausdruck kommt, der zum Engel wird, und in dessen unentschiedenem Ausgang sich der Konflikt der beiden Brüder spiegelt, bringt eine Dimension in das Geschehen, die es als ein Geschehen coram deo kennzeichnet. Durch den Engelkampf, aus dem Jakob als Sieger hervorgeht und den Segen erhält, wiederholt sich in gewisser Weise der Segen, den Jakob sich per nefas von seinem Vater erschlichen hatte und wird durch die höchste Autorität bestätigt. Damit ist der Makel, der auf Jakob lag, getilgt, und was an Jakob mensch-allzumenschlich war, kann an Israel nicht mehr als belastend wahrgenommen werden. Mit dem neuen Namen gewinnt Jakob eine neue Identität. Er wird der Stammvater Israels, so wie Abraham der Vater vieler Völker war (Gen 17,4).
Auch von Abraham gibt es eine Erzählung, die mit der Externalisierung der Affekte arbeitet. Hier spricht Gott nicht im Traum wie zu Jakob, sondern er wendet sich unmittelbar in wörtlicher Rede an ihn. Es ist die Erzählung von Isaaks Opferung (Gen 22). Schon zuvor hatte Gott Abraham seinen Namen gegeben, einen ewigen Bund mit ihm geschlossen (Gen 17,4) und ihm die Beschneidung als Zeichen des Bundes befohlen (Gen 17,11), die er auch an Ismael, an allem Gesinde und an sich selbst vollzog (Gen 17,23 ff.). Gott sucht Sara heim und sie gebiert einen Sohn, den Isaak, der als erster am achten Tag nach seiner Geburt beschnitten wurde (Gen 21,4). Nachdem Abraham mit Abimelech einen ehrenvollen Frieden geschlossen hatte und vom Krieg zurückkehrte, redete Gott wieder mit Abraham und sprach zu ihm: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija, und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde“ (Gen22,2).
Welcher Affekt Abrahams soll hier durch die Gottesrede zum Ausdruck gebracht werden? Es ist die Kränkung, die ihm dadurch widerfuhr, dass er, der er in seinem Alter nicht mehr zeugen konnte, dennoch einen Sohn bekam, von dem er annehmen musste, dass er nicht sein leiblicher Vater war. Die Kränkung als Affekt schlägt um in den Affekt, den Bastard zu töten, um zum einen seine verletzte Ehre wieder herzustellen, damit aber gleichzeitig ein Sühnopfer darzubringen, durch das Gott versöhnt und gnädig gestimmt werden sollte. Das Verbum chabasch, das in Gen 15,6 für anrechnen verwendet wird, und in der Septuaginta mit logizesthai übersetzt wird, bezeichnet im Hebräischen ein rite vollzogenes Opfer und wird in der jüdischen Exegese daher auf die Opferung Isaaks bezogen. „Und Abraham glaubte und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“ (Gen 15,6). Er glaubte also an das Wort Gottes, das in Gen 22,2 an ihn erging und das ihm gebot, Isaak zu opfern. Der Glaube an das Wort, das ihm das Opfer gebietet und der Vollzug des Opfers sind eine Einheit. Gott anerkennt diese Einheit von Glaube und Vollzug, indem er beides Abraham zur Gerechtigkeit anrechnet. Er ist ein Gerechter. Aber Gottes Rede an Abraham und Gottes Anerkennung und Rechtfertigung Abrahams gehen auf denselben Impuls zurück. Den Tötungswunsch als Reaktion auf die Kränkung. Besteht die Reaktion auf die Kränkung im Tötungswunsch und wird dieser durch den Befehl Gottes, den Isaak zu opfern, externalisiert, so besteht die Externalisierung der Absicht Abrahams, ein Sühneopfer darzubringen, um Gottes Zorn, der über den übermächtigen Tötungswunsch Abrahams entbrannt war, zu beschwichtigen, in dem Engelwort und der darauf folgenden Ersatzhandlung der Opferung eines Widders.
Die Affekte Kränkung, Tötungsabsicht und der Wunsch, Gott zu versöhnen, führen zu dieser wunderlichen Verquickung von Widersprüchlichkeiten, dass ein Engelwort einem zuvor erteilten Befehl Gottes zuwiderläuft, und dass ein Befehl Gottes der zuvor erteilten Verheißung Gottes zuwider läuft. Wenn man die zugrundeliegenden Impulse und Affekte berücksichtigt, die in Gottesrede und Engelwort externalisiert sind, wird deutlich, dass diese Widersprüche das eigentliche Geschehen, das sich im Innern des Protagonisten abspielt, gar nicht tangieren.
Dasselbe findet sich auch im Neuen Testament. Betrachten wir Mk 16,1-8, das älteste Zeugnis für die Auferstehung Jesu. Auch hier ist das Zentrum des Geschehens ein starker Affekt. Die drei Frauen gehen am Ostermorgen zum Grab und sehen, dass das Grab leer ist. Ihre Trauer, die sie dadurch verarbeiten wollten, dass sie den Leib Jesu einbalsamierten, kehrt sich nun um in blankes Entsetzen, als sie sehen, dass der Stein von dem Grab weggewälzt ist und dass das Grab leer ist. Ihr Entsetzen wird externalisiert durch die Erscheinung eines Engels, der ihnen sagt, dass Jesus auferstanden ist. Er erteilt ihnen den Auftrag, den Jüngern und dem Petrus zu sagen, dass Jesus ihnen nach Galiläa vorausgegangen ist, wo sie ihn wiedersehen werden. Die Frauen befolgen den Befehl aber nicht, sondern fliehen vom Grab und sagen niemandem etwas. Der Widerspruch, der in dem Ungehorsam der Frauen besteht, weil sie den Auftrag des Engels nicht befolgten, ist dem Evangelisten nicht aufgefallen. Vielmehr wird das Entsetzen der Frauen, das sich in der Engelerscheinung externalisiert hat, vom Erzähler noch gesteigert durch ihr Entsetzen über die Auferstehungsbotschaft. Sie löst bei den Adressaten Furcht und Zittern aus, also eine Steigerung des zuvor erwähnten Affekts des Entsetzens, das als Engelerscheinung externalisiert wurde.
Nun löst die Auferstehungsbotschaft Entsetzen aus; denn sie ist die einzig mögliche Folgerung, die aus dem Anblick des leeren Grabes gezogen werden kann. Diese zweite Stufe des Entsetzens kann man wohl am besten als Schock und Nicht-Wahrhaben-Wollen bezeichnen, was jetzt die Frauen erfasst hat. Und wer unter Schock steht, kann nicht rational reagieren, kann Gehörtes nicht wahrheitsgemäß weitersagen, wie es auf der Erzählebene ausgedrückt wird. Er kann auch Wahrgenommenes nicht rational verarbeiten. Rebus sic stantisbus werden wir vom Evangelisten im Stich gelassen. Das, was er uns mitteilt, sind die starken Affekte der Frauen am Grab und ihre Externalisierung. Den Widerspruch im Ungehorsam der Frauen, das Engelwort weiterzusagen, empfindet er nicht als solchen, besonders da ja das Engelwort nur das beschreibt, was tatsächlich geschehen ist, und durch das Osterkerygma bezeugt wird, nämlich, dass der Herr den Jüngern nach Galiläa vorangegangen ist und ihnen dort begegnet ist.
Die These von der Externalisierung der Affekte bringt mich zu einem andern Ergebnis als dem von Hans von Campenmhausen in seinem Aufsatz „Die Osterereignisse und das leere Grab“ (1956) vorgeschlagenen, wonach Markus den Widerspruch deshalb nicht wahrgenommen hat, weil er ein apologetisches Interesse hatte, die Jünger vom leeren Grab fernzuhalten, um der jüdischen Legende vom Leichenraub durch die Jünger besser entgegentreten zu können. Aus diesem Grund durften die Jünger nichts vom leeren Grab erfahren. Die Frauen mussten schweigen. Geht man dagegen von den Affekten aus, die die Frauen angesichts des leeren Grabes befielen, die in der Engelerscheinung externalisiert werden, begreift man das Schweigen der Frauen als Folge von Schock und Nicht-Wahrhaben-Wollen, Phasen, die wir aus der Trauerarbeit kennen.
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