Helmut Aßmann
Herzogstraße 74, 67435 Neustadt-Gimmeldingen
– eine Liebeserklärung eines verschmähten Liebhabers an seine widerspenstige Geliebte
Rm 11, 28 kommt es tatsächlich vor, das Wort „Geliebte“ (agapetoi). Nach Gottes gnädiger Wahl sind sie Geliebte um der Väter willen; denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Hier wendet sich Paulus an die Juden als seine Stammesverwandten. Seine eigne Berufung gilt aber den Heiden. So sagt er Rm11,13 f: „Euch Heiden aber sage ich: Weil ich der Heiden Apostel bin, will ich mein Amt preisen, ob ich wohl könnte die, die meine Stammesverwandten sind, zum Nacheifern reizen und ihrer etliche retten.“
So sind die Geliebten des Paulus also seine Stammesverwandten, sie sind die Geliebten um der Väter willen, die, so muss man ergänzen, auch seine, des Paulus Väter sind. Das ist so ähnlich, wie wenn ich meine Cousine ersten oder zweiten Grades Geliebte im Herrn nennen würde, was zwar etwas pathetisch klingt, aber durchaus zutreffend ist, weil wir ja auch die gleichen Großväter oder Urgroßväter haben.
Nun ist aber das Liebesverhältnis des Paulus ein gestörtes. Es besteht Feindschaft zwischen ihm und seinen Stammesverwandten wegen des Evangeliums. Deshalb sagt er: Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen aber nach Gottes gnädiger Wahl sind sie Geliebte um der Väter willen. Das Liebesverhältnis ist gestört. Aus Liebe ist Feindschaft geworden. Aber trotzdem bleiben die Geliebten Geliebte.
Nach menschlichem Ermessen ist das Werben des Paulus erfolglos geblieben. Paulus bleibt ein verschmähter Liebhaber. Aber weil die Geliebten oder vielleicht auch die Geliebte weiterhin Geliebte bleiben, bzw. bleibt, wird die Feindschaft relativiert, kann sich der verschmähte Liebhaber dennoch an seine Geliebten, seine Geliebte wenden, in der Absicht, sie zu retten, weil sie eben Geliebte sind/ ist. Der Vergleich mit dem Liebesverhältnis trägt, obwohl sich die Geliebte vom Evangelium abgewendet hat, indem sie Gottes Entscheidung für Jesus Christus als den Messias verworfen hat.
Die Wiederkehr des Verhaltens des Propheten Hosea im Verhältnis zu seiner Ehefrau im Verhalten des Apostels Paulus im Verhältnis zu Israel
Ich überlege, wo ein solch dramatisches Liebesgeschehen schon einmal berichtet worden ist. Ein verschmähter Liebhaber, der trotz der Untreue der Geliebten zu seiner Liebe steht und sie nicht aufgibt, der trotzdem nicht aufhört, um sie zu werben, der die offenkundige Feindschaft, die an die Stelle einer Liebesbeziehung getreten ist, in den Wind schlägt und der Ablehnung der Geliebten zum Trotz dennoch weiter um sie wirbt.
Ähnliches berichtet uns das Buch des Propheten Hosea im Alten Testament. In einem Er-Bericht in Kapitel 1 wird erzählt, wie Hosea von Gott den Auftrag erhält, eine Frau zu heiraten, die als Hure bezeichnet wird, weil sie der verhassten Baalsreligion angehört. Der Prophet gehorcht dem Befehl Gottes und aus seiner Ehe gehen drei Kinder hervor, die Namen bekommen, die die Botschaft Gottes an das Volk Israel enthalten: „Und er sprach: Nenne ihn „nicht mein Volk“; denn ihr seid nicht mein Volk, so will ich auch nicht der eure sein“ (Hos 1,9). „Und er sprach zu ihm: Nenne ihn„nicht geliebt“; denn ich will mich nicht mehr über das Haus Israel erbarmen, sondern ich will sie wegwerfen.“ Und der Herr sprach zu ihm: Nenne ihn Jesreel; denn es ist nur noch eine kurze Zeit, dann will ich die Blutschuld von Jesreel heimsuchen am Haus Jehu und will dem Königreich des Hauses Israel ein Ende machen“ (Hos 1,4).
Das sind deutliche Worte. Aber die Ehe des Propheten ging nach der Geburt der drei Kinder auseinander und seine Frau kam in den (rechtmäßigen) Besitz eines andern(vgl. Hans Walter Wolf, Kommentar zum Buch des Propheten Hosea, z.St.). Nachdem der Er- Bericht so mit dem Ende der Ehe des Propheten geendet hatte, lesen wir im Ich-Bericht, dass der Prophet erneut einen Auftrag von Gott erhält, um seine untreue Gattin, die ihn verschmäht hat und zur Ehebrecherin geworden ist, zurückzugewinnen. „Geh abermals hin und wirb um eine treulose und ehebrecherische Frau, wie denn der Herr um die Kinder Israels wirbt, obgleich sie sich zu fremden Göttern kehren“ (Hosea 3, 1). Der Ich-Bericht betont die Authentizität des Geschehens. Ist im Er-Bericht die Botschaft des Propheten ganz in die Namen der Kinder gelegt, so liegt der Schwerpunkt im Ich-Bericht ganz auf dem Ehegeschehen, ja auf dem Liebesverhältnis des Propheten zu seiner Frau, die ihn verlassen hat und um die er wirbt.
Menschlich gesehen ist der Prophet ein gehörnter Ehemann, der sich töricht verhält, indem er einer Frau nachläuft, die sich von ihm getrennt hat und sogar einen andern Mann liebt. Aber entscheidend ist wiederum die Botschaft, die das Geschehen verdeutlichen will. Und diese lautet. So wie der Prophet um seine treulose Gattin wirbt, die einen andern liebt, so wirbt Gott um die Kinder Israel, obwohl sie sich von ihm abgewandt und andern Göttern zugewandt haben.
Dieser Vergleich zwischen dem Verhalten des Paulus zu Israel und dem Verhalten des Propheten zu seiner Frau kann uns hilfreich sein für das Verständnis dessen, worum es Paulus im Römerbrief geht. So schmerzlich es für Hosea war, was Gott von ihm verlangt hat, so schmerzlich ist es für Paulus, das in seinen Augen treulose, weil nicht messiasgläubige Israel nicht aufzugeben. Er preist sein Amt, indem er sagt: „Euch Heiden aber sage ich, weil ich der Heiden Apostel bin, will ich mein Amt preisen“, und er fährt fort: „ob ich wohl könnte die, die meine Stammesverwandten sind, zum Nacheifern reizen und ihrer etliche retten“ (Rm 11, 13f). Was bei Hosea die treulose Gattin war, ist bei Paulus das nicht-messiasgläubige Israel. Nach dem Evangelium sind sie zu Feinden geworden um euretwillen. Um euretwillen, d.h. um der messiasgläubigen Heiden willen sind sie, die nicht-messiasgläubigen Juden zu Feinden geworden. Paulus will, dass sich die Juden die messiasgläubigen Heiden zum Vorbild nehmen. Er will sie reizen, ihrem Vorbild zu folgen und sich dem Evangelium zu öffnen. „Wenn aber ihr Fall der Welt Reichtum und ihr Schaden der Heiden Reichtum geworden ist, wie viel mehr wird es dann Reichtum sein, wenn Israel in seiner ganzen Fülle gewonnen wird“ (Rm 11,12).
Die endzeitliche Gewinnung Israels für das Evangelium entspricht der Rückgewinnung der treulosen Ehefrau bei Hosea. Die Hoffnung auf die Rückgewinnung Israels und seine Integration in das Reich Gottes gründet Paulus auf seine Erfolge in der Heidenmission. Weil nämlich die Bekehrung der Heiden zum Vorbild für die gläubig gewordenen Juden geworden ist, ist die Nichtbekehrung der ungläubigen Juden zu ihrer Verwerfung geworden und zur Versöhnung der Welt. Durch die Begriffe Versöhnung und Verwerfung, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen, schafft Paulus eine Klammer, die verhindert, dass das nicht-messiasgläubige Israel völlig aus dem Raster herausfällt und aufgegeben wird.
So wie Hosea seine Ex-Frau nicht aufgibt, so gibt Gott Israel nicht auf. Dabei steht jeweils die Person des Propheten, bzw. des Paulus stellvertretend für Gott in der prophetischen Zeichenhandlung. Trotzdem spricht Paulus von der Verwerfung Israels, aber nur im Zusammenhang mit der Rettung der Heiden, die er in Parallele zur Versöhnung der Welt setzt. Löst man den Gedanken von der Verwerfung Israels aus der Klammer heraus, so endet man in antisemitischen Gedanken, wie sie z.B. in Luthers Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen“ (1545), geäußert worden sind. Darum ist es wichtig, das Ganze unter dem Aspekt der Hoffnung zu sehen, wie Paulus es tut, einer Hoffnung auf die endzeitliche Annahme Israels durch Gott. Er sagt nicht Bekehrung, sondern Annahme, wenn er sagt: „Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten?“ (Rm 11,15) Trotz der Nichtannahme des Evangeliums durch Israel ist eine Annahme Israels durch Gott nicht ausgeschlossen.
Die Rettung Israels muss daher ebenso wie seine Verwerfung auf ein Handeln Gottes zurückzuführen sein. Wie der Verstockungsbefehl, den Paulus für die Verstockung seiner Stammesangehörigen verantwortlich macht, zur Verwerfung Israels führte, er zitiert in Rm 11,8 den Wortlaut von Jesaja 6,9: „Verstocke das Herz dieses Volkes und lass ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen, noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen“, so führt auch ein erneutes Handeln Gottes zur Rettung Israels. Es scheint ein Widerspruch zu sein, dass die Nichtannahme des Messias durch Israel von Gott bewirkt wurde und dennoch zur Verwerfung Israels führt, sofern man nicht bedenkt, dass die Erwählung Israels durch Gott bestehen bleibt. Wiederum gilt: Löst man die Dialektik auf, lässt man die Verwerfung Israels isoliert für sich stehen, endet man wie Luther im Antisemitismus. Dieser Weg ist für Paulus ausgeschlossen; weil er weiß, dass Gott um der Väter willen zu seinen Verheißungen steht.
Das Ringen des Propheten um die treulose Geliebte und in Analogie dazu das Ringen des Paulus um das widerspenstige Israel veranschaulichen das Ringen Gottes um sein Volk, auch wenn der Prophet ihn sagen lässt: „Ihr seid nicht mein Volk, ich erbarme mich nicht über euch“, und auch Paulus die Verwerfung Israels in Erwägung zieht. Deshalb endet Paulus am Ende des langen Abschnitts, in dem er das Verhältnis zu Israel behandelt, in einem Lobpreis auf die Tiefe der Weisheit und der Erkenntnis Gottes, in denen der scheinbare logische Widerspruch zwischen Verwerfung und Erwählung aufgehoben ist: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? (Jes 40,13) Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass ihm werde wieder vergolten? (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“
In den Anabathmoi tou Jakobou (in: Epiphanius Haer 30,16,6-9) macht ein judenchristlicher Autor Paulus den Vorwurf, er sei gar kein Jude gewesen, sondern stamme von griechischen Eltern ab. Um die Tochter eines (Hohen-?)Priesters heiraten zu können, habe er sich beschneiden lassen, sein Werben sei aber erfolglos gewesen und dadurch sei er zu einem Gegner der Beschneidung, des Sabbats und des Gesetzes geworden. (Zitiert nach Gerd Theißen: Paulus – sein Weg vom Fundamentalisten zum Universalisten. Vortrag im Stift Neuenburg und Klösterle Buchen am 21.6.2009)
Den ersten Vorwurf kann Paulus selbst entkräften. Er schreibt Phil 3, 5f: „…, der ich am achten Tag beschnitten bin, einer aus dem Volk Israel, vom Stamme Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit im Gesetz gewesen unsträflich.“ Der zweite Vorwurf, er sei ein Gegner der Beschneidung, des Sabbats und des Gesetzes geworden, zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben und die Briefe des Apostels. Interessant ist hier nur die Begründung mit dem erfolglosen Werben um die Tochter aus der Familie eines (Hohen-?)Priesters. Zu diesem Vorwurf passt die Metaphorik der verschmähten Liebe, wie ich sie unabhängig von dem Zitat in meinem Beitrag aufzuweisen versucht habe. Auch sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Briefe des Apostels.
Dass Paulus aus der Diaspora stammte und dass seine Muttersprache das Griechische war, mag zu dem Verdacht geführt haben, er sei Grieche gewesen. Da er in Jerusalem die Tora studiert hat, muss er aber ebenfalls des Hebräischen mächtig gewesen sein. Die Kernaussage, die mich zu meinen Überlegungen geführt hat, steht in Rm 11,28: Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach Gottes gnädiger Wahl sind sie Geliebte um der Väter willen. Trägt man hier den Genetiv „Gottes“ ein und liest: Sie sind Feinde Gottes, bzw. Geliebte Gottes, kann man die Aussage des Satzes nicht verstehen. Gemeint ist vielmehr: Sie sind meine Feinde um des Evangeliums willen und meine Geliebten um der Väter willen, also des Paulus Feinde und des Paulus Geliebte. Setzt man den Singular „Geliebte“ an die Stelle des Plural, so tritt die Werbung um die widerspenstige Geliebte, sei es das Kollektiv Israel, sei es die Tochter irgendeines Priesters, deutlich zu Tage. Aber das ist grammatikalisch unzulässig.
Anmerkung des Autors: Die Schriftzitate wurden zitiert nach der Lutherübersetzung von 1966.
Anmerkung der Redaktion: Eine frühere Version dieses Beitrags war bereits veröffentlicht in: Pfälzisches Pfarrerblatt 4/2012, S. 174-176. Kollege Helmut Aßmann bitte um die zusätzliche Veröffentlichung dieser ergänzten Fassung.
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