Dr. Ludwig Burgdörfer
Westbahnstraße 4, 76829 Landau
Bei meinem zweiten theologischen Examen musste ich, wie alle Kolleginnen und Kollegen auch, vor der Prüfungskommission in Speyer antreten und u.a. glaubhaft nachweisen, dass ich weiß, wie ein Gottesdienst in unserer Evangelischen Kirche der Pfalz (Prot. Landeskirche) abläuft. Sämtliche Gottesdienstordnungen habe ich mir damals eingeprägt und bei der Prüfung offenbar den Eindruck erweckt, ich wisse wirklich darüber bestens Bescheid.
Jetzt nach 30 Jahren im Verkündigungsdienst würde ich diese kühne Behauptung nicht mehr aufrechterhalten können. Inzwischen bin ich nämlich bei der Erkenntnis angelangt, dass ich definitiv nicht weiß, wie ein Gottesdienst abläuft.
Und das kam so: Seit zehn Jahren bin ich nun im Auftrag des Herrn als Wanderprediger in unserer Landeskirche unterwegs. Das macht viel Freude. Bis an die Hecken und Zäune hat es mich geführt.
Ich kenne jetzt fast jede Ecke unserer schönen pfälzischen Kirche. Stadt, Land, Fluss mit Auto und zu Fuß. Anfangs bin ich noch im Blindflug unterwegs gewesen. D.h.: Ich habe Termin, Ort und Uhrzeit gekannt – und dann bin ich am Sonntag ganz früh losgefahren und mit viel Glück und Gottes Hilfe angekommen, um dann immer wieder in letzter Minute zu erfahren, wie ich mich korrekt verhalten muss. Daraus habe ich dann bald meine Lehren gezogen und mir angewöhnt, grundsätzlich Tage vorher beim zuständigen Pfarramt anzurufen und nachzufragen, wie denn der Gottesdienst vor Ort zu halten ist. Auf diese Frage bekam ich Jahr um Jahr die standardisierte Antwort: „Bei uns ist alles ganz normal!“
Übersetzt heißt das, wir machen unseren Gottesdienst so, wie wir ihn immer machen, nämlich eigenartig. Normal – diese Kategorie ist also nur der Tarnbegriff für ein völlig insulares Drehbuch, das zwei Kilometer weiter schon wieder ganz anders geschrieben wird.
Inzwischen weiß ich, dass jeder kleine Schritt im Ablauf zu besprechen ist. Manche Gottesdienste beginnen nämlich mit den Abkündigungen nach dem Orgelvorspiel und vor dem ersten Lied. Anderswo wird der Gastprediger an genau dieser Stelle begrüßt oder er stellt sich selber vor. Wann die Leute aufstehen und wann nicht, wie lange sie stehen bleiben und wenn ja wie viele, das werde ich in diesem Leben nicht mehr auf die Reihe kriegen. Ob Psalm oder biblisches Eingangswort, ob Psalm im Wechsel und wenn ja in welcher Art von Wechsel, ob am Ende mit gesungenem Gloria oder nicht… Wer macht von welchem Ort aus die Schriftlesung – und wird ein Glaubensbekenntnis gesprochen? Wann und wie und gehen die Kinder überhaupt zum Kindergottesdienst?
„Unser Pfarrer geht nicht auf die Kanzel, der will nahe bei den Leuten sein!“ Eine falsche Bewegung, und du bist als Außerirdischer entlarvt.
Fürbittengebet auf der Kanzel oder am Altar? Muss ich den Knopf für die Vaterunser-Glocke selber drücken? Ist die Bibel auf der Kanzel Dekoration oder verwendbar? Brauche ich ein Stühlchen, um von den Leuten gesehen zu werden? Wie geht die Tür zur Kanzeltreppe auf?
Wie ist es mit den Abkündigungen bzw. Mitteilungen. Warum muss ich drei DIN A4-Seiten vorlesen? Und warum sitzen da schwarz gekleidete Leute in der zweiten und dritten Bank und ich habe keinen Namen von einem verstorbenen Menschen in den Händen? Wie kann ich verhindern, dass der Organist einfach weiter spielt, obwohl ich gar keine vier Strophen angegeben habe? Wie ist es zu erklären, dass ich nach dem Segen plötzlich mit dem Liedvers „Verleih uns Frieden gnädiglich“ überstimmt werde? Was mach ich bloß, wenn ich mich als einziger zum Orgelnachspiel wieder hinsetze, an der Tür aber bereits alle Leute verabschieden soll?
Nein, ich will jetzt nicht anfangen, das Ausmaß der Missverständnisse auszubreiten, die erst dann entstehen, wenn im Gottesdienst oder danach oder überhaupt auch noch das Heilige Abendmahl gefeiert wird. Ob mit Einzelkelchen und/oder Gemeinschaftskelch, mit rotem, weißen oder gar keinem Wein. Nein, das will ich jetzt nicht ausführen, weil mir mein Doktor ausdrücklich empfohlen hat, Aufregungen möglichst zu vermeiden.
Jetzt weiß ich natürlich schon auch, dass wir eine erneuerte Agende haben. Und die ist zu dem auch noch wunderbar gelungen. Man hätte also für einen verheißungsvollen Augenblick auch annehmen können, dies sei der Kairos, der rechte Zeitpunkt, um endlich die Normalitäten allerorten zu synchronisieren. Der Zeitpunkt wäre wirklich günstig gewesen. Aber er ist still und leise an uns vorüber gegangen, wie das verschwebende Schweigen Gottes an Elia.
Pfälzer Protestanten eine Agende verpflichtend zu verordnen, das wäre geradezu ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Wir sind gerne selbständig und wollen möglichst wenig agendarisch verordneten Gleichklang. Das Problem würde ja auch in einem einzigen Augenblick aus der Welt geschafft sein, wenn einfach alle Anderen unsere einzig sinnvolle Ordnung übernehmen würden.
Ich befürchte, ich würde heute das zweite theologische Examen, im Fach Liturgie zumindest, nicht mehr bestehen. Alles ganz normal. Das ist wundersam und liebenswert. Und deshalb soll es auch so sein und bleiben. Polyphon wird’s darum auch im Himmel zugehen.
Wir werden schon sorgen für diese Normalität
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