Vor Gott knien? Zu einer nicht nur körperlichen Haltungsfrage

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Dr. Klaus Beckmann

Friedrich-Ebert-Ring 42, 56068 Koblenz

I.

Die konstituierende Sitzung des neu gewählten Presbyteriums war für ein treues, zum ersten Mal in das Leitungsgremium gewähltes Gemeindeglied die lange erwartete Gelegenheit, Dampf abzulassen und anzusagen, wo es künftig „rechtgläubig“ lang gehen sollte. Beim Abendmahl müsse der Gemeinschaftskelch wieder her, Jesus habe doch gesagt: „Trinket alle daraus!“ Mindestens genau so wichtig aber sei, dass die Konfirmanden bei ihrer Einsegnung künftig wieder knieten. Nicht nur sei es früher immer so gewesen, nein, allein diese Haltung drücke die rechte Demut vor Gott aus.

Fromme Entschiedenheit contra „zeitgeistige“ Libertinage, Äußerliches erhoben in den statusconfessionis – Pfarrer und Mehrzahl der Presbyterinnen und Presbyter hörten’s und waren überrascht bis erschrocken. Dennoch fand ich es richtig, dass diese Anfragen gestellt wurden. Es tut der Gemeinde wie der „Geistlichkeit“ wenigstens von Zeit zu Zeit gut, liturgische Vollzüge zu durchdenken – und dies möglichst im Gespräch untereinander und auf biblisch-theologischer Basis. So möchte ich hier darlegen, weshalb ich meine Konfirmanden nicht habe knien lassen zur Einsegnung.

II.

Die Grundbestimmung christlicher Existenz vor Gott finde ich in Röm 5,1: Gerecht geworden durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott.

Zeitgenössischer Hintergrund des Redens von „Frieden“ ist im Neuen Testament die Pax Romana. Davon abgeleitet wird das Verb pacare. Das könnte man neutral mit „Frieden schaffen“ übersetzen, es meint spezifisch aber „befrieden“, also die Völker eroberter Länder unterwerfen und auf Dauer ruhig halten. Dieser römische „Friede“ war Friedhofsruhe, gebaut auf der Überlegenheit römischer Waffen.

Eine offene Auseinandersetzung zwischen Siegern und Besiegten gab es nicht, doch mitnichten hatten die Schwächeren innerlich in diesen Zustand eingewilligt. Vielmehr wuchs in den Unterworfenen von Tag zu Tag der Hass auf jene, die so mächtig waren, ihre Friedhofsruhe durchzusetzen. Welche Art von Friede da herrschte, war äußerlich ablesbar. Die Römer verlangten sichtbare Demütigung. Sie errichteten Statuen des Kaisers; die mussten in öffentlich demonstrierter Demut verehrt werden. „Gerecht gemacht“ wurde durch äußerliche Unterwerfung, der Systemlogik politischer Abschreckung gemäß. Sich Verbeugen oder Knien: Das war der angemessene Ausdruck dafür, dass die Unterworfenen den Frieden der Stärkeren akzeptiert hatten. Im Herzen indes bestand die Feindschaft weiter. Verehrt wurde der römische Kaiser, weil es andernfalls empfindliche Strafen gesetzt hätte – nicht, weil die Unterworfenen sich von ihm Gutes erhofften.

Haben wir Christen immer wieder die Macht Gottes zu fürchten, ist Gott, mit dem wir Frieden haben, dennoch wesentlich ein Feind geblieben, einer, der täglich oder stündlich kontrolliert, ob wir uns ihm auch brav unterwerfen – und wehe, wenn nicht?!

 

III.

Der Friede in Röm 5 ist, offensichtlich in impliziter Polemik gegen die Pax Romana, durch Versöhnung bestimmt, sind wir doch „mit Gott versöhnt worden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren“ (V. 10) . Gott ist nicht nur stärker als wir; er wirbt um unser Herz, möchte nicht Besieger, sondern Freund seiner Geschöpfe sein – obwohl diese „Feinde“ waren! Er hat Frieden nicht gewaltsam erpresst, sondern erkauft am Kreuz Jesu.

Versöhnten Frieden finde ich etwa am Ende der Josefsgeschichte. Da kommen die Brüder zu Josef, der in Ägypten ein mächtiger Mann geworden ist. Sie verspüren Gewissensbisse – und das aus nur zu gutem Grund. Schließlich haben sie ihren Bruder fast umgebracht und an Sklavenhändler verkauft. Sie wollten es böse machen; Gott aber gedachte, es gut zu machen.

Vom schlechten Gewissen getrieben, fallen die Brüder vor Josef nieder. In ihm jedoch ist die Liebe stärker als die berechtigte Aversion und mächtiger als die in Ägypten erworbene Machtstellung. Er bittet sie aufzustehen, tröstet sie. So gehen Menschen miteinander um, wenn Friede der versöhnten Art herrscht. Frühere Feindschaft kann trotzdem angesprochen werden. Was unter den Teppich gekehrt würde, wäre in der Konsequenz gefährlicher als alles Geschehene, das man offen beredet hat. Aber frühere Feindschaft ist eben Vergangenheit und nicht nur machtvoll zugedeckelt.

Um die Brüder aus ihrer demonstrativ devoten Haltung heraus zu holen, fragt Josef: „Stehe ich denn an Gottes Statt?“ (Gen 50,19)

Immerhin: Dass Menschen sich nicht vor Menschen demütigen sollen, sondern allenfalls vor Gott, wird hier im Alten Testament vorausgesetzt. Leider hat diese Maxime der vermeintlich so archaischen jüdischen Bibel sich noch längst nicht verbreitet über unsere Erde.

Nun aber folgt der nächste, biblisch wohl zwingende Schritt.

Wir haben es in der Bibel, im Alten wie im Neuen Testament, mit einem Gott zu tun, der stark genug, so viel „Gott“ ist, dass er aus freien Stücken dem Menschen zur Seite, an seine Stelle tritt. Gott steht von sich aus an Stelle dessen, dem es nicht zusteht, die Stelle des Göttlichen einzunehmen. Auf Augenhöhe gesellt sich der wahrhaft Große zum Menschen, seinem Geschöpf und Feind. Der „fröhliche Wechsel und Streit“ ist nicht nur vielfältig zitablesLutherwort, sondern theologische Grundlinie vom Exodus bis zum Kreuz.

 

Wenn der große Gott an des Menschen Statt steht, sollte Gott dann nicht mit uns so Frieden stiften und wahren können, wie es Josef konnte mit seinen Brüdern?

Das Gerücht, im Alten Testament entspreche das Verhältnis zwischen Gott und Mensch dem zwischen Herr und Knecht, im Neuen Testament hingegen dem zwischen Vater und Kind,  weshalb das Judentum „eine veraltende und unvollkommene Glaubensweise“ sei, wurde klassisch durch Friedrich Schleiermacher formuliert und hielt sich lange, gerade im selbsternannt aufklärungsfreundlichen „liberalen“ Protestantismus. Dem steht – neben vielem anderen – entgegen, wenn in Ex 33,11 erzählt wird, JHWH habe mit Mose gesprochen „wie ein Mann mit seinem Freund“. Mose liegt vor Gott nicht auf der Erde – der Unnahbare einer abstrakten Absolutheit ist dieser Gott ja auch nicht, vielmehr sein in die individuelle Biographie involvierter Gott –, sondern verkehrt gleichsam von Angesicht zu Angesicht. Mose steht, wird in seiner Statur und damit in seiner Person individuell sichtbar, statt sich kauernd zu verbergen. Einen Freund kränkt es, ihm zu zeigen, dass man seiner Güte am Ende doch nicht traut und sich lieber wegduckt. Vor einem Freund sich posenhaftzu „demütigen“, sich fromm zu tarnen, negiert Freundschaft als einvernehmliche Gemeinschaft. Ein Freund will mir begegnen, meiner ganz eigenen Person. Das will Gott bei Mose auch. Das Christentum sollte hinter den Grad an Freundschaft zwischen Gott und Mensch, wie er bei Mose erreicht ist, nicht leichtfertig zurückfallen. So wahr wir Frieden haben mit Gott durch Jesus Christus.

 

IV.

Ich verbinde diesen Verkehr Moses mit Gott gleichsam „von Angesicht zu Angesicht“ in Ex 33,11 mit dem, was in 1. Kor 13,12 als Überwindung allen Missverstehens eschatologisch angekündigt wird. Denn es gehört zur „unerlösten“ conditio humana, Gottes Angesicht nicht schauen zu können und von letzter Erkenntnis ausgeschlossen zu sein. Auch Mose ist in Ex 33,20 gehindert, Gottes Angesicht zu sehen und der Gegenwart des Allmächtigen „Aug’ in Aug’“ Stand zu halten (vgl. Ex 3,6 oder z. B. 1. Kön 18,39). Dann aber, am „Ende der Zeit“, wird der frei erkennende Umgang des Geschöpfs mit dem Schöpfer möglich sein, wie er seit Sündenfall und Brudermord nicht mehr gelang (vgl. Gen 4,6f). Der Glaube hebt die das Menschsein grundlegend kennzeichnende Trennung von Gott antizipatorisch auf. Dass Gottes gewünschtes Gegenüber der Partner „auf Augenhöhe“ ist – und weder der unterworfene Feind noch der devote Sklave –, leuchtet in der Versöhnung auf, die jenseits unerfüllter Gesetzesforderungen Gott als Freund des Menschen annimmt (vgl. 2. Kor 5,20).

Noch leben wir im Glauben, nicht im Schauen. Das ist Voraussetzung jeder kirchlichen Handlung, so auch der Einsegnung bei Konfirmation oder Ordination. Im Glauben nehmen Christen aber vorweg, was sein wird, wenn die Erlösten gültig erkennen und Gottes Angesicht sehen. Im Glauben ist Gott Freund und Partner, keine dunkle Macht, die ich zu fürchten hätte.

Ein kleiner exegetischer Umblick sei erlaubt: Der Prophet Hesekiel fällt, geblendet durch die Gegenwart Gottes, zu Boden. Gottes Anrede heißt ihn dann jedoch aufstehen: „Du Menschenkind, tritt auf deine Füße, so will ich mit dir reden“ (Hes 2,1; vgl. 3,23f). Anscheinend widerstrebt es JHWH, sein Wort an devot zu Boden Geworfene zu richten. Er spricht mit aufrecht stehenden Menschen, Partnern und nicht Sklaven. Entsprechend dürfte es Paulus widerfahren sein vor Damaskus. Am Boden liegend, hört er sofort den Ruf: „Steh auf!“ (Apg 9,6)  Den aufrechten Gang zu pflegen, zählt offenbar zentraler zur biblischen Anthropologie, als die liturgische Praxis es traditioneller Weise realisiert.

Der bis zur Lebensmüdigkeit frustrierte Elia wird durch Engelmund keineswegs aufgefordert, sich dem übermächtigen Willen Gottes zu unterwerfen und dem Kollektiv der rechtgeleitet Anbetenden einzugliedern – wie dies im Koran, unter den Voraussetzungen eines fundamental anderen Gottesverständnisses und Menschenbildes, exemplarisch der angefochtenen Maria geschieht (Sure 3:44; vgl. kritisch Lk 1,52) –, sondern hört vielmehr den Appell: „Steh auf und iss!“ (1. Kön 19,5.7) Er hat einen ganz eigenen Weg vor sich, der zur Geschichte Gottes mit seinem Volk in ganz eigener Weise beitragen wird und auf dem der Gott, der die Niedrigen zu individueller Freiheit erhebt, ihn begleitet. Auch Elia unterliegt der conditio humana und hütet sich, Gottes Angesicht zu sehen; er verhüllt sich mit dem Mantel (V. 13). Als JHWH im Lufthauch an der Höhle vorübergeht, tritt der Prophet jedoch an den Eingang. Er steht vor seinem Herrn, ist mit seiner gekränkten, stützend angeredeten Persönlichkeit sichtbar präsent. Vom Kniebeugen ist hier nur im Zusammenhang des Baalsdienstes die Rede (V. 18).

Es sei nicht vergessen: Die Reformation nahm ihren Lauf von dem Ereignis her, dass in Worms einer sagte: „Hier stehe ich!“

 

V.

Der biblische Gott ist mächtig wie sonst nichts und niemand. Er könnte es mühelos mit dem römischen Kaiser aufnehmen. Wäre er unser Feind und bedacht, uns unten zu halten, wir täten gut daran, am Boden zu kriechen. Wäre er uns feindlich gesonnen – nur nicht auffallen, am besten sich ducken, hinknien, auf den Boden werfen; vielleicht übersieht und verschont er uns…

Aus der Vielfalt der Religionsgeschichte ist auch vielfältig kniende Devotion in die Bibel eingedrungen. So ist der exegetische Befund in dieser Frage keineswegs eindeutig. Das stärkste Gegenargument zu der von mir vertretenen Position dürfte in Phil 2,10 zu finden sein. „Schriftgemäße Theologie“ kann folglich hier wie generell keine blinde Unterwerfung unter das sein, was „geschrieben steht“, sondern nur Resultat verantwortlicher hermeneutischer Entscheidung. Die sollte aber von der Gesamtlinie der biblischen Gotteserzählung geleitet sein; und da wird von einem Gott erzählt, der immer schon an des Menschen Stelle trat, sich nicht zu schade war, mit Abraham, Isaak und Jakob ihre Wege zu gehen, sich nicht schonte, als es galt, die Sklaven aus Ägypten zu befreien. Schließlich hinderte keine Gottheit diesen Gott, selbst ein Mensch zu werden, der alle Erniedrigung des Menschseins auf sich nahm.

Der Gott Jakobs, Moses, Elias, des Hesekiel und Paulus, der Vater Jesu Christi, will nicht, dass Menschen wie Würmer vor ihm am Boden kriechen. Dieser Gott ist so groß, dass er auch Andere groß sein lässt. Nur wer stark ist, hält starke Partner aus. Der biblische Gott will Menschen, die eingedenk ihrer Erlösungsbedürftigkeit ihm als ihrem Erlöser und Freund frei begegnen, ihr eigenes Gesicht zeigen und mit ihm zusammen ihre eigene Geschichte machen, statt ihre Individualität hinter demonstrativer Demut zu verbergen. „Siehe, hier bin ich“ (Ex 3,4), ist die einzig adäquate Antwort auf Gottes anredende Offenheit für das Menschsein, Ausdruck der im Glauben empfangenen Gerechtigkeit. Mit Elia gilt als Bedingung glaubender Existenz: „So wahr JHWH Zebaoth lebt, vor dem ich stehe…“ (1. Kön18,15). Wenn es dem Wesen des biblischen Gottes widerstrebt, am Boden Niedergeworfene anzusprechen, sollte dies im Zuspruchsgeschehen der Einsegnung seine liturgische Entsprechung finden. Überdies scheint es liturgieästhetisch nicht recht schlüssig, zur Einführung junger Gemeindeglieder (oder zur Ordination junger Theologen) eine Demutspose zu kultivieren, die im evangelischen Gemeindegottesdienst – aus trefflichen theologischen Gründen – allgemein keinen Platz hat.

Auf frommes Schauspiel legt derjenige sowieso keinen Wert, der weiß, ob ich sitze oder aufstehe, der meine Gedanken von ferne versteht und um mich ist, ob ich gehe oder liege (vgl. Ps 139,2f). Was er von mir erwartet – und erwarten darf –, ist, dass ich ihm zutraue, an meiner Seite zu sein – selbst dann, wenn sonst niemand mehr zu mir hält. Ihn meinen menschenfreundlichen Gott sein zu lassen: Das ist Glaube. Und dafür steht (!) nicht zuletzt die Konfirmation.

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