Dr. Georg Wenz
Goethestraße 5, 67454 Haßloch
Diese Frage berührt mehrere Problembereiche und Ebenen. Sie fordert uns zu einer persönlichen Meinungsbildung heraus und verlangt auch theologische Antworten. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen dazu anstellen. Sie sind sicher noch nicht ausgereift, können aber vielleicht helfen, eine Diskussion in den Gemeinden und Gremien unserer Landeskirche über das Verhältnis zum Islam anzustoßen. Sie zu führen, halte ich über die Einzelfrage hinaus angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung für wichtig, auch, um latente Positionen gegenüber dem Islam zu klären. Dass hierbei auch weltweite Ereignisse und Entwicklungen in die Diskussion einbezogen werden, wie in den bereits abgedruckten Leserbriefen zum Muezzinruf, zeigt, dass lokale oder regionale Fragen nicht (mehr) von globalen Zusammenhängen getrennt verhandelt werden können. Interreligiöses Begegnen betrifft so auf der einen Seite die Gegebenheiten vor Ort. Es wird aber auch durch die Zustände in anderen Teilen der Welt beeinflusst und ist selbstredend auch nicht frei von den geschichtlichen Erfahrungen miteinander.
Die Frage, ob ein Muezzinruf in einer Kirche zu Gehör gebracht werden soll, verzweigt sich daher schnell. Sie verlangt die Beschäftigung mit dem Muezzinruf als solchem – mit seinem Wortlaut, mit der Rezitation, mit der Person eines Muezzins und seiner Aufgabe. Sie fragt nach der kompositorischen Einbindung des Rufes in die Friedensmesse, nach der Intention des Komponisten und nach den Folgen eines Eingriffs in die Komposition bei der Auslassung. Sie tangiert das evangelische Kirchenverständnis und die Fragen, was geistliche Musik ist und worin ihr religiöser oder auch theologischer Anspruch liegt. Sie konfrontiert den Wahrheits- und Geltungsanspruch des Christentums mit dem des Islams und verweist auf den internen und externen Symbolgehalt des Rufes, insbesondere im Blick auf die im Namen des Islams begangenen Gewalttaten.
Darüber hinaus rückt sie die christlich-islamische Begegnung vor Ort ins Blickfeld: Findet eine solche statt, auf welchen Ebenen, mit welchen Erfahrungen? Oder umgekehrt: Aus welchen Gründen begegnet man sich nicht. Auch der an der Aufführung beteiligte Imam spielt eine Rolle. Wer ist er, welcher Moscheegemeinde gehört er an, welchem islamischen Verband? Wie versteht er seine Rolle, seinen Einsatz, sein Mitwirken?
Grundsätzlich muss erwogen werden, ob islamische Glaubensaussagen in einer Kirche zum Ausdruck gebracht werden können und dürfen und falls ja, welche, und in welchem Rahmen. Sind sie als Zitat zulässig, als Original jedoch abzulehnen? Ist ein Unterschied zu machen zwischen einem Konzert und einem multireligiösen Gebet? Schließlich wäre noch zu fragen, ob mit gleichem Maß gemessen werden muss: Sind islamische Glaubensbekundungen in Kirchen von christlichen in Moscheen abhängig? Oder umfassender formuliert: Muss sich eine christliche Verhältnisbestimmung zum Islam an der islamischen zum Christentum orientieren?
Es ist offenkundig, dass diese Fragen im Rahmen eines Leserbriefes nicht erschöpfend behandelt werden können, manche nicht einmal ansatzweise. Ich möchte sie eher als Grundlage für die künftige Diskussion verstanden wissen. In diese werden weitere Fragestellungen einfließen müssen.
Soweit ich weiß, hat Jenkins die Messe angesichts der damaligen Kosovo-Ereignisse den Opfern des Balkankrieges gewidmet. Über diesen Krieg gäbe es viel zu schreiben, auch über seine lange Vorgeschichte und über die Nachkriegsjahre bis heute. Aus meinem Kontakt zu ehemaligen bosnischen Flüchtlingen und zu bosnischen Kollegen und Kolleginnen im akademischen Bereich weiß ich, welche hochgradigen Traumatisierungen vorliegen und welche Anstrengungen unternommen werden, einen Islam zu praktizieren und zu lehren, der kompatibel ist mit einer pluralen Zivilgesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, die auf gemeinsamen demokratischen Grundüberzeugungen fußt und darauf aufbauend Raum für die individuelle religiöse und weltanschauliche Lebensführung im Rahmen der allgemeinen Gesetze lässt.
Ein solcher Islam unterscheidet sich von anderen Formen, die auch in Deutschland praktiziert werden. Zu diesen gehören religiös eine Überlegenheitslehre gegenüber dem Christentum und politisch das Ziel einer möglichst umfassenden Selbstbestimmung in religiösen Angelegenheiten. Diese wiederum umfassen nicht nur die Kultusausübung und Lehrfragen, sondern auch Rechtsbereiche wie das Familien- oder Erbrecht. Darüber hinaus gibt es radikale Gruppierungen, deren djihadistische Gewaltverherrlichung auch vor Muslimen nicht Halt macht.
Mit welcher Variante identifizieren wir den Muezzinruf in Jenkins Messe? Und aufgrund welcher Vorentscheidungen? Welche Intentionen hegte der Komponist, als er den Ruf integrierte?
Ob Jenkins bei seiner Entscheidung speziell den bosnisch europäischen Islam im Blick hatte, müsste man bei ihm nachfragen. Sicher ist, dass er den Muezzinruf ebenso wie hinduistische, säkulare oder jüdische Textpassagen eingebunden hat, um mit der Friedensbotschaft der Messe „alle Menschen zu erreichen“, wie er in einem Interview mit „Die Welt“ geäußert hat. Indem er nicht-christliche Texte integriert, öffnet er formal die katholische Messliturgie, die seiner Komposition zugrunde liegt. Zu fragen ist, ob das Oratorium dadurch ein geistliches Werk bleibt und ob die verwendeten außerchristlichen Passagen ihre Wirkkraft aus den eigenen Kontexten beibehalten. Bejaht man beides, so wäre die Aufführung einer multireligiösen Feier gleichzusetzen und wären deren Kriterien für die Bewertung anzulegen.
Eine zweite Frage ist, ob durch das Hinzuziehen eines legitimierten Vertreters einer Religion, hier eines Imams, der in der Komposition zitierte Muezzinruf zu einem religiösen Akt wird: Transformiert ein Imam das Zitat in eine religiöse Handlung, indem er es als Imam rezitiert? Würde es einen Unterschied machen, wenn anstelle eines Imams oder Muezzins ein muslimisches Chormitglied diese Passage rezitierte? Oder ein Christ? Oder wenn es vom Band eingespielt würde? Oder wenn es nicht rezitiert, sondern gesungen oder gesprochen würde? Und wie sieht es mit den anderen Texten aus den anderen Religionen aus, die der Chor singt?
Eine dritte Frage ist, mit welcher Motivation der Imam den Ruf vorträgt. Erkennt er sich als Teil einer Aufführung oder interpretiert er die Situation als Bekenntnisakt, um die anwesenden Christen zum „wahren Gebet“ einzuladen? Welchen Sinn schreibt er dem Ruf zu, wenn er außerhalb des Gebetsrahmens und der Gebetszeit in einer fremdreligiösen Einrichtung erfolgt? Ist das Wort/der Vortrag entscheidend oder die Motivation oder sind es die kultischen Richtlinien? Wenn man zu dem Schluss kommt, dass die innere Haltung des Imams eine Rolle spielt, würde ich im Vorfeld einer Aufführung mit dem betreffenden Imam das Gespräch suchen und beide Motivationen, warum ich ihn einbeziehen und warum er mitwirken möchte, thematisieren.
Nach islamischem Verständnis ist ein Muezzinruf die Einladung an die Gläubigen, zum Gebet zu kommen. Er ist an ein muslimisches Umfeld gerichtet und an die Gebetszeiten gebunden. Außerhalb dieses Rahmens verliert er seine kultische Bedeutung. So wird insbesondere ein Imam nicht davon ausgehen, dass seine Konzertbeteiligung Nichtmuslime zu einer Gebetsteilnahme motiviert.
Bleibt die Frage nach den theologischen Aussagen des Muezzinrufes. Er beginnt mit „Allahu akbar“, Allah/Gott ist größer. Zu prüfen ist, ob dieses Bekenntnis die Abgrenzung zu Nichtmuslimen in dem Sinn ausdrückt „mein Gott ist größer als deiner“. Oder wird es auch im Islam im Sinne Anselm von Canterburys verstanden: „Gott ist das, wovon gilt, nichts Höheres/Größeres kann gedacht werden“? Eine solche Aussage ist weder konfessionell noch religionsabhängig. Und sie bedeutet, dass Gott sich immer weiter dem entzieht, was wir uns unter ihm vorstellen: Gott ist größer. Der Muezzinruf im Rahmen der Friedensmesse kann daher auch als fremdreligiöses Versatzstück bewirken, dass ich mich innerhalb meiner eigenen Glaubensüberzeugungen frage, was es heißt, wenn „Gott größer ist“ als meine Vorstellungen von ihm.
Der Muezzinruf beinhaltet auch das islamische Glaubensbekenntnis, das im ersten Teil dem „sch‘ma Israel“ verwandt ist – „es gibt keinen Gott außer Gott“, „Gott ist eins“, „es gibt nur einen Gott“. Mit diesen Aussagen haben wir Christen kein Problem. Wir unterscheiden uns von Muslimen und Juden erst in den theologischen Aussagen über Gott. Doch gerade in der Kontrastierung der Trinität mit dem islamischen Verständnis von Monotheismus müssen wir fragen: Glauben Muslime an einen anderen Gott? Es ist interessant, dass auf christlicher Seite so gut wie keine Vorbehalte gegenüber der Wertung bestehen, Juden und Christen beziehen sich auf denselben Gott. Man kommt dann in theologische Schwierigkeiten, wenn das Urteil gegenüber Allah anders ausfällt und erklärt, dass Christen und Muslime nicht denselben Gott anbeten. Die Schwierigkeiten entstehen dadurch, dass Juden und Muslime sich darin einig sind, denselben Gott zu verehren. So gibt es lediglich zwei Möglichkeiten: Entweder man bestätigt den gemeinsamen monotheistischen Glauben oder man spricht Muslimen ab, überhaupt an Gott zu glauben. Denn der eigene monotheistische Glaube verbietet es, in Allah einen anderen Gott zu sehen. Dies wäre Polytheismus. Spricht man Muslimen indes ab, an Gott zu glauben, landet man bei der besagten Problematik der jüdisch-muslimischen Übereinkunft. Beide Alternativen haben Konsequenzen für die interreligiöse Begegnung.
Probleme gibt es mit dem zweiten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist. Doch auch hier gilt die Frage, ob dieser Teil der Aufführung ein religiöser Bekenntnisakt ist und falls ja, wie generell die Problematik eines fremdreligiösen Zeugnisses in einer Kirche gewertet wird.
Ich möchte noch einmal einen Blick auf Jenkins werfen. Er hat sein Werk als geistliche Musik komponiert. Wenn er darin verschiedene Religionen zu Wort kommen lässt, kann man es im Sinne der Begegnung von authentischen Religionen verstehen. In diesem Fall wäre es allerdings um so authentischer, wenn ein gemischt-religiöser Chor, in dem Repräsentanten der verwendeten Traditionen mitwirken, das Werk vortrüge. Das Oratorium konfrontierte uns dergestalt noch expliziter mit unserer Verhältnisbestimmung zu anderen Religionen, mit deren Geltungsanspruch und mit unserem Umgang mit solchen Ansprüchen. Damit wäre der Bogen von einer „bloßen“ Aufführung in die Praxis des Zusammenlebens und in die Theologie gespannt. Wenn Jenkins mit der Messe nicht „l’art pour l’art“ betrieben hat, müsste dies seiner Intention entsprechen und wir würden gezwungen, uns als Publikum mit dem auseinanderzusetzen, was Frieden konkret bedeutet.
In diesem Zusammenhang möchte ich gerne ein Beispiel aus dem vom Krieg zerstörten Syrien erwähnen: Der Großmufti von Damaskus hat vor wenigen Jahren ein Projekt genehmigt, bei dem in der großen Umayyaden-Moschee in Damaskus ein in Norwegen sehr bekannter christlicher Sänger, Sondre Bratland, mit einem ebenfalls berühmten Sufi-Sänger, Javed Bashir, aus Pakistan in einen geistlich-musikalischen Dialog getreten ist. Während des Konzerts sind einige explizit christliche Zeugnisse in der Moschee vorgetragen und dokumentiert worden. Weltweites Aufsehen hat die Aufnahme aufgrund ihrer interreligiösen Intensität erregt. Beide Sänger bewegen sich authentisch in ihrer Religion und begegnen sich darin. Sie tragen den eigenen inneren Frieden nach außen.
In einem ähnlichen Sinn verstehe ich das Jenkinssche Werk als Ausdruck des Friedenswillens. Den martialischen Aufmärschen und Gräueltaten auch im Namen von Religionen wird die friedensstiftende Kraft eben dieser entgegengesetzt. Doch wie kann Frieden verinnerlicht werden, wenn man nicht sein eigenes Haus öffnet? Gibt es Frieden zum Anschauen? Wer geht den ersten Schritt und unter welchen Rahmenbedingungen?
Am Ende möchte ich noch zwei weitere Aspekte nennen, die in die Diskussion einbezogen werden müssen, ohne dass ich dies an dieser Stelle tun kann: zum einen die „shitstorms“ mit denen an der Aufführung Beteiligte unter Rekurs auf christliche Zeugnisschaft beschimpft, beleidigt und bedrängt wurden; und zum anderen die Frage, was die beteiligten Imame aus den Aufführen mitnehmen. Welche Nachwirkungen zeitigt ihr Mitwirken bei ihnen persönlich und in ihrer Arbeit? Hat es Konsequenzen für ihre islamische „Theologie der Religionen“?
Ich hoffe, mit meinen Anmerkungen einen Beitrag zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem Islam zu leisten. Diese allein hilft, um in den konkreten Fragestellungen vor Ort Handlungssicherheit zu erlangen.
Der Autor ist Beauftragter für Islamfragen der Evangelischen Kirche der Pfalz und Studienleiter an der Evangelische Akademie der Pfalz.