Ungeschminktes Erinnern – Evangelisch in Ludwigshafen 1933-1945

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Rede zur Vorstellung von Friedhelm Borggrefes NS-Kirchengeschichte Ludwigshafens am 9. Dezember 2014 im Stadtarchiv Ludwigshafen

Dr. Christoph Picker
Niedererdstraße 44, 67071 Ludwigshafen

Friedhelm Borggrefe, „Im Gleichschritt marsch … Evangelisch in Ludwigshafen 1933-1945“, (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Ludwigshafen 41), Ludwigshafen 2014, ISBN 978-3-924667-46-7, 14,- Euro

Friedhelm Borggrefes Band „Im Gleichschritt marsch. Evangelisch in Ludwigshafen 1933-1945“ ist ein wichtiges Buch. Es ist eine Weiterführung und Vertiefung seiner Ludwigshafener Kirchengeschichte „Hafen der Hoffnung“, die einen intensiven und überfälligen Blick auf die NS-Kirchengeschichte in Ludwigshafen bietet. Es ist ein sorgfältiges und differenziertes Buch, das sich konsequent auf Quellenzeugnisse bezieht. Und es ist ein lesbares Buch, das ein breites interessiertes Publikum finden wird. So etwas kann nur ein erfahrener und geschickter Autor. Es ich ein echter „Borggrefe“, den der Autor da seinen Lesern geschenkt hat.

Berücksichtigt werden kirchliche, politische und kommunale Gesamtzusammenhänge. Institutionen und Handlungsfelder werden untersucht. Lebensgeschichten erzählt. Ganz besonders beeindruckt hat mich das Kapitel über die Diakonie in Ludwigshafen. Borggrefe erzählt, wie intensiv vor 1933 die sozialdiakonische Arbeit der Kirche im ‚roten‘ Ludwigshafen war. So erfährt man unter anderem, dass die Erlöserkirche in der Gartenstadt in den späten 1920er Jahren nicht nur als geistliches, sondern auch als soziales Zentrum mit einem eigenen Kinderheim konzipiert war: ein sehr modernes Projekt, das nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ins Stocken kam. Die NS-Geschichte der Ludwigshafener Diakonie zeigt paradigmatisch, wie kompliziert Alltäglichkeit und Repression, Verbrechen (bei der Anpassung der diakonischen Leitlinien an rassehygienische Vorstellungen), vorsichtiger Widerspruch und Anpassung (etwa bei der Tätigkeit der Diakonissen) ineinander verschränkt waren. Dieser Blick zurück ist nicht unbedeutend für heutige Debatten über Diakonie, Subsidiarität und kommunale Sozialpolitik. Borggrefes Buch ist Geschichtsschreibung, die Lehrstücke bietet.

Der Autor selbst charakterisiert seine Arbeit als Bußbuch und Beichtspiegel. Vor allem in dieser Hinsicht ist es ein „anstrengendes Buch“, so Borggrefe selbst im ersten Satz seines Vorwortes. Anstrengend ist es vor allem wegen der ernüchternden und beschämenden Ergebnisse, die präsentiert werden. Religiös gesprochen: Das Buch ist eine Anfechtung – jedenfalls dann, wenn man sich seiner Kirche und seiner Stadt eng verbunden fühlt und sie mag. Besonders anstrengend ist es, wenn man viele der kirchlichen und kommunalen Akteure aus der NS-Zeit noch persönlich kennengelernt hat. Friedhelm Borggrefe hat im Blick auf die NS-Kirchengeschichte Ludwigshafens Menschen vor Augen: Kollegen, Gemeindeglieder, Mitstreiter, die er zum Teil auch schätzen gelernt hat. Vor diesem Hintergrund ist es besonders anstrengend, Brüche und traurige Wahrheiten auszuhalten – und zuzumuten. Ein solches Erinnern ist kein kaltes, sondern ein engagiertes – das sich trotzdem um Unbestechlichkeit bemüht. Das merkt man dem Buch und seinem Autor an. Und das beeindruckt mich.

Der größere Zusammenhang, in den das Buch gehört, ist ein Netzwerkprojekt unter Federführung der Evangelischen Akademie, mit dem die Evangelische Kirche der Pfalz derzeit ihre NS-Geschichte aufarbeitet. 2015 wird dazu ein umfangreiches, wissenschaftlich fundiertes und zugleich allgemeinverständliches Handbuch erscheinen. Wir werden dann über die Bedeutung der Ergebnisse für die Weiterentwicklung der kirchlichen Gedenkkultur nachdenken. Der Titel wird lauten: „Protestanten ohne Protest?“ Daran wird schon erkennbar, dass es hier nicht um ein besonders ruhmreiches Kapitel der pfälzischen Kirchengeschichte geht. Faktisch gingen Nationalsozialismus und Protestantismus in der Pfalz weitgehend Hand in Hand. Was Borggrefe im Blick auf Ludwigshafen schreibt, gilt durchaus auch für die Landeskirche als Ganze: „Aus der Perspektive des Jahres 1945 konnten die Jahre von 1933 bis 1945 für die Protestanten in Ludwigshafen nicht anders als eine einzige Katastrophe bewertet werden“ (S. 88). Weiter: „Zusammenfassend wird man sagen müssen, dass die evangelische Kirche im Blick auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Ludwigshafen intensiv mit sich selbst beschäftigt war. 

Es ging ihr um die Erhaltung ihrer eigenen freiheitlichen Tradition, und sie versuchte unter den gegebenen Verhältnissen ihrer Verfassung, die sie sich nach 1918 gegeben hatte, zu entsprechen. Dieses Bemühen sollte letztlich misslingen“ (S. 90). Die NS-Kirchengeschichte ist durchaus eine Warnung davor, wie schädlich es sein kann, wenn man sich zu sehr auf sich selbst und die institutionellen Eigeninteressen konzentriert. Die NS-Kirchengeschichte der Pfalz ist nicht nur ein trauriges, sondern auch ein spät geschriebenes Kapitel Geschichte. Die Kirche ist mit dieser Verzögerung nicht alleine. Aber vielleicht hat sie sich doch besonders schwer mit der eigenen NS-Geschichte getan, weil sie nach 1945 als verhältnismäßig intakte Institution galt – und dieses Image natürlich ein sehr angenehmes war.

Was lehrt die NS-Kirchengeschichtsschreibung? Was kann man lernen aus dem Handbuch, das im Entstehen begriffen ist? Was kann man lernen aus Borggrefes „Evangelisch in Ludwigshafen 1933-1945“? Haben solche Bücher nur für die Kirche eine Relevanz, für die Institution, für die Pfarrerinnen und Pfarrer, vielleicht noch für die Gemeindeglieder? Oder geht das alle etwas an? Es kommt darauf an. In der Beschäftigung mit der NS-Zeit wird eine ganz wesentliche Frage virulent: Wie gehen wir um mit Brüchen und Ambivalenzen: in unseren Institutionen und Organisationen und in den Biographien derer, die dort wirken und gewirkt haben? Borggrefes Buch visualisiert diese Brüche schon auf dem Cover: mit einem in sich verschobenen Foto von Adolf Hitler im offenen Wagen vor der Friedenskirche anlässlich seines Besuchs in Ludwigshafen am 25. März 1936. Die Umschlagseiten zeigen dann dasselbe Foto unbearbeitet (vordere Umschlagseite innen) und die völlig zerstörte Friedenskirche (hintere Umschlagseite innen). 

Das Interesse an Brüchen ist etwas Evangelisches. Denn es gehört zu den Grundüberzeugungen des Protestantismus, dass alle Menschen Sünder sind – also potentiell und auch faktisch fehlbar – und dass sie zugleich gerecht – also von Gott freigesprochen – sein können: Sünder und Gerechter zugleich. Das schützt vor Heiligsprechungen genauso wie vor Dämonisierungen. An meiner persönlichen Lieblingsstelle des Buches kommt das ganz beiläufig zum Ausdruck. Es geht um den Ludwigshafener Kirchenmusikdirektor und Nationalsozialisten Karl Blatter, der durchaus als problematische Figur gezeichnet wird. Über den musikalischen Nachlass Blatters schreibt Borggrefe: „Die wenigen Partituren, die sich noch finden ließen, warten auf eine musikalische Auferstehung, ebenso wie er selbst, der mit seiner Musik der Ehre Gottes dienen wollte“ (S. 58). Ja, so ist das bei uns Christen. Das bedeutet nicht, dass im Lichte des Evangeliums alle Katzen grau (oder weiß) wären. Aber es öffnet den Raum für Differenzierungen. Und es ermutigt zu einem ungeschminkten und zugleich menschenfreundlichen Umgang mit der Vergangenheit, auch mit institutionellem und persönlichem Versagen.

An Ludwigshafen schätze ich besonders, dass es eine ungeschminkte Stadt ist. Eine Stadt, die nicht mehr aus sich zu machen versucht, als sie ist. Manchmal versucht sie es doch – aber das ist meist nicht sehr überzeugend. Dem ungeschminkten Ludwigshafen wünsche ich auch eine ungeschminkte Erinnerungskultur. Eine, die nicht auf Hochglanz poliert ist, sondern Brüche und Ambivalenzen aushält. Ich wünsche mir, dass man meiner Stadt genauso wie meiner Kirche anmerkt, dass die Vergangenheit sie nicht kalt lässt. Herausforderungen hierfür gibt es genug. Die Geschichte der Stadtteile. Eine überzeugende Würdigung der kleinen Gedenkinitiativen. Ein Stadtmuseum, das bisher noch unter eher prekären Bedingungen arbeitet. Der Umgang mit der Restitutionsforderung an das Hack-Museum. Das Bild der BASF, die nicht die IG Farben ist, aber eben auch nicht nicht die IG-Farben ist. Unpolierte Erinnerung. Das ist anstrengend, wie auch das Borggrefe-Buch ein anstrengendes Buch war und ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich solche Anstrengungen lohnen. Sie sind so etwas wie Übungen gegen die Versuchung, sich und anderen etwas in die Tasche zu lügen. Und das brauchen wir dringend, um die Herausforderungen und Versuchungen unserer Zeit zu bewältigen.

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