Antwort an Bernd-Holger Janssen

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Dieter Just
Ameisenbühl 20/5, 71332 Waiblingen

Sehr geehrter Dr. Janssen,

über Ihren Brief vom 24.10. habe ich mich sehr gefreut, weil er doch eine Gelegenheit bietet, in eine Diskussion einzutreten. Gleich vorne weg: Sie haben Recht, wenn Sie mir vorwerfen, wichtige Begriffe wie Deutschtum, Idealismus, nationale Rechte und Judentum nicht zu definieren. Aber das hängt eben damit zusammen, dass ich ein breites Thema auf engem Raum behandelt habe, sozusagen als Vertiefung meiner Bücher, und in denen habe ich die Begriffe definiert. Unter Idealismus, deutschem Idealismus verstehe ich die deutsche Philosophie, die von Kants kopernikanischer Wende ihren Ausgang nahm. Der Kosmos sei ein Produkt der menschlichen Vernunft, das Ich lege sich selbst das moralische Gesetz auf. Gott wird überflüssig, als Schöpfer und als moralischer Gesetzgeber. Fast die ganze deutsche Philosophie stand unter dem Einfluss dieser Überbewertung des menschlichen Subjekts, dieser Egomanie.

Sie schreiben: „Die Entgegensetzung von Deutschtum und Judentum ist z.B. ein unhistorisches, rein ideologisches Konstrukt der völkischen Ideologie und geht nicht auf den Idealismus zurück.” Da muss ich Sie leider enttäuschen. Nur als Religionsgemeinschaft wären die deutschen Juden ins deutsche Volk zu integrieren gewesen, wie es auch im Namen der wichtigsten Interessenvertretung der Juden zum Ausdruck kam: Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Aber Kant sprach den Juden einen religiösen Glauben ab. (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 177f.) Das hatte Konsequenzen, denn Kant galt als größter deutscher Philosoph und den Gebildeten als unangreifbare Autorität. Was waren die deutschen Juden dann, wenn keine Religionsgemeinschaft? Ein fremdes Volk? Kant hat das zwar nicht so deutlich gesagt, aber man musste es seinen Ausführungen wohl entnehmen. Schopenhauer hat das Gerede vom „jü­di­schen Glauben” für eine Lüge gehalten. Hitler hat das übernommen und weiter verschärft, worauf ich noch zu sprechen komme. Kants Fehlurteil hängt sehr wahrscheinlich mit seiner kopernikanischen Wende zusammen, was ich hier leider nicht ausführen kann.

Diese zentrale These von Kants Philosophie ist in sich so widersprüchlich, dass sie zu Missverständnissen geradezu einlud. Und meine wichtigste Entdeckung: H. St. Chamberlain hat den Satz von der Autonomie des Willens in der Moral dazu benutzt, die geltende christliche Moral auszuhebeln. Die Germanen könnten, ja sollten sich ihr eigenes Sittengesetz machen, „Du sollst nicht töten!” spielte dann keine Rolle mehr. Dies wurde angesichts der Brisanz des Themas nicht offen gesagt, viele Leser haben es wohl kaum bemerkt, es ergab sich aus dem Zusammenhang aber eindeutig. Frühere Leser waren nämlich intelligenter als heutige „Forscher”. Während die heutige Wissenschaft nur akzeptieren will, was wörtlich so dasteht – was den Wissenschaftsbetrieb natürlich rationalisiert und sehr erleichtert, weil man die komplizierten Texte gar nicht mehr lesen muss und sich auf immer perfektere elektronische Register verlassen kann -, haben frühere Generationen durchaus noch mitgedacht.

Sie sagen zu Recht, die Nationalisten hätten die Idealisten nur ausgeschlachtet. Aber damals hieß „aus­schlachten” ganz einfach „weiter­ent­wickeln” und das war um 1900 legitim. Chamberlain hatte Kant „weiterentwickelt”. Was sollte daran schlimm sein? Schließlich war ja auch schon Fichte mit Kant genauso verfahren. Nur nach Hitler will natürlich keiner wahrhaben, dass die germanische Weltanschauung aus dem deutschen Idealismus entwickelt worden ist.

Was heißt eigentlich „entwickeln”? Als Darwin seine Lehre über die Entwicklung der Arten publiziert hatte, hieß es, er behaupte, der Mensch stamme vom Affen ab, oder vielleicht gar von Würmern oder Quallen. Ekelhaft. Dabei hatte Darwin ja keineswegs behauptet, höhere oder gar niedrige Tiere seien gleichen Ranges wie die Menschen.

Und ähnlich verhält es sich auch mit meiner ungleich weniger bedeutenden Theorie: Aus dem deutschen Idealismus haben sich das völkische Denken und eine nationale Staatsideologie entwickelt, was leider keine Bewegung nach oben darstellt, wie in Gottes Schöpfung, sondern nach unten, nämlich zur NS-Welt­an­schau­ung und ihrem Antisemitismus. Das heißt nicht, dass es zwischen dem Ausgangspunkt und dem Endpunkt nicht einen großen Rangunterschied gäbe, große Unterschiede in der Qualität, ja sogar in der Intention. Doch möchte ich zu Ihrem Vorwurf, ich würde den Idealismus zu einseitig als Vorstufe des deutschen Nationalismus interpretieren, Stellung nehmen. Ich treibe keine reine Geistesgeschichte, sondern politische Geschichte, Geschichte der Gesellschaft, wenn auch in einem Zwischenbereich, der bisher weitgehend ignoriert wird. Noch befasst sich heute niemand mit den gesellschaftlich-politischen Folgen von Kants Moralphilosophie. Man fragt nicht, was aus seinen Lehren in den diversen populären Weltanschauungen wurde, sondern hält die Fiktion aufrecht, der Philosoph habe exclusiv nur für Fachgelehrte und andere Philosophen geschrieben.

Sie sagen, schuld am Antisemitismus seien zuallererst die antisemitisch redenden und handelnden Menschen. Nun gab und gibt es solche Antisemiten aus welchen Gründen auch immer in fast allen Gesellschaften und Staaten, auch in den USA. Und wer ist schuld, dass es so viele Antisemiten gibt? Die einfachste und mittlerweile wieder von vielen Deutschen gegebene Antwort lautet: Die Juden selbst.

Aber das kann natürlich so nicht stehen bleiben. Und hierin sind wir uns sicher einig. Die Frage stellt sich doch, warum konnte in anderen Staaten und Völkern keine Weltanschauung wie die nationalsozialistische die Staatsmacht erobern. Hannah Arendt meinte, die NS-Welt­an­schauung sei aus der Gosse gekommen. Aber im nächsten Satz melden sich bei ihr natürlich Zweifel. Wie konnte ein Produkt der Gosse in einem Kulturvolk an die Hebel der Staatsmacht kommen? Nun die Antwort ist einfach: die NS-Weltanschauung kam aus der „Gosse” und zugleich auch wieder nicht. Dühring, Treitschke, Lagarde, Chamberlain, Moeller van den Bruck, Goebbels und Hitler waren allesamt keine philosophischen Köpfe, aber sie konnten sich nach Meinung vieler Gebildeter glaubhaft auf die idealistische Philosophie berufen, die in Deutschland noch um 1930 ein ungeheures Ansehen genoss. Hitler hat immer wieder den Idealismus seiner Weltanschauung betont. Und der Niedergang des deutschen Idealismus hatte begonnen, als er unmittelbar im Sinne der deutschen Nation politisch sein wollte. Kant hätte sich im Grabe umgedreht, wenn er bemerkt hätte, was schon Fichte aus seiner Philosophie gemacht hat.

Sie sagen, wenn Schiller den Gott der Bibel, dieses Monstrum, das mit der Gewalt von Tieren herrscht, am liebsten wieder ins Morgenland zurück versetzt hätte, sei das ja noch kein Antisemitismus, sondern im Rahmen der Meinungsfreiheit durchaus zu tolerieren. Da haben Sie Recht und übersehen zugleich einen wichtigen Punkt, den ich allerdings nur in der ausführlicheren Version meine Aufsatzes anführe, die ich im Internet unter www.d-just.de veröffentlicht habe. Die Kritik am jüdischen Gott war keineswegs ungefährlich, da drohte ein Verfahren wegen Gotteslästerung. Also hat H. St. Chamberlain klugerweise nicht den jüdischen Gott angegriffen, sondern die Juden, die sich einen so üblen tyrannischen und rachsüchtigen Gott ausgedacht hätten. Dass die deutsche Justiz hier Einfluss übte, sieht man am besten, wenn man die Lebensläufe von Chamberlain und Theodor Fritsch vergleicht. Letzterer hat den „grausamen”, „unmoralischen” Gott der Bibel kritisiert und wurde dafür zwei Mal wegen desselben Delikts der Blasphemie ins Zuchthaus gesteckt. Chamberlain richtete den Vorwurf der Grausamkeit und Rachsucht gegen die Juden. Gott sei nur eine Projektion des Menschen, also der jüdische Gott eine Projektion des Juden, eine Lehre, die bekanntlich Feuerbach aus der idealistischen Philosophie Hegels abgeleitet hat, und Chamberlain kam nicht ins Zuchthaus, sondern durfte mit dem Kaiser dinieren.

So entwickelte sich der Antisemitismus unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen. Wer genau liest, wird mir keinen Monokausalismus vorwerfen – und das tun Sie auch nicht. Ich bin der letzte, diese Entwicklung Schiller persönlich vorzuwerfen, er konnte einfach nicht ahnen, was sich daraus entwickeln würde. Aber die idealistische These der Egomanie war für Fehlentwicklungen der deutschen Gesellschaft sicher mit verantwortlich.

Über Schelling habe ich noch Einiges auf meiner Homepage nachgetragen, was Sie vielleicht etwas milder stimmen dürfte. Ich will mich jetzt vor allem auf Fichte konzentrieren, über den wir offenbar ganz verschiedener Meinung sind. Sehr hat mich das Zitat von Emanuel Hirsch gefreut, das ich bisher noch nicht kannte. (Zahlen bei Hirsch-Zitaten beziehen sich auf die von Ihnen genannte Ausgabe) Es ist ja nun wirklich Wasser auf meine Mühlen.

Die beunruhigende Frage, warum selbst ein intelligenter Theologe wie Emanuel Hirsch zu Hitler fand, ist leicht beantwortet: über Fichtes idealistische Philosophie der Egomanie. Wenn Hirsch meint, im Atheismusstreit habe das ganze gebildete Deutschland auf Fichtes Seite gestanden, hat er sicher Recht. Dass sich ein Philosoph nicht offen zum Atheismus bekennen kann, widerspricht der besten abendländischen Tradition, schließlich haben sogar fromme Mönche den Lukrez fleißig abgeschrieben und nur so der Nachwelt erhalten. Aber Hirsch meint, Fichte sei gar kein Atheist gewesen. „So wird im Atheismusstreit die idealistische Gottes­idee an den Tag des öffentlichen Bewußtseins geboren.” (360). Die Rede von einer „idea­lis­ti­schen Gottesidee” hat aber nur Sinn, wenn sie einer anderen Gottesidee gegenübergestellt wird, nämlich der „traditionell christlichen”, wie Hirsch sie nennt. Dass die neue Gottesidee des Idealismus oder der Egomanie ein nicht ungefährliches Verwirrspiel war, kann ich hier nur andeuten. In Ein falscher Prophetauf meiner Homepage habe ich mich dazu näher geäußert. Denn was ich da über Lagarde sagte, gilt in gewisser Weise auch für Fichte, den eigentlichen Lehrer Lagardes.

Sie halten Fichte für einen großen Philosophen, der einen Diktator stürzen und ein „Reich der Vernunft” in Deutschland gründen wollte. Hier darf man nun aber nicht Sekundärliteratur aus dem Siedler-Verlag zitieren, sondern muss ran ans Original.

Ich zitiere aus der zehnten Rede an die deutsche Nation:

„Daß die Kinder in gänzlicher Absonderung von den Erwachsenen mit ihren Lehrern und Vorstehern allein zusammenleben sollen, ist mehrmals erinnert.”

Zu den Erwachsenen gehören nun aber auch die Eltern. Fichte will also die Kinder den Eltern wegnehmen, um sie besser in „Idealismus” zu unterweisen. Von einem „Philosophen der Freiheit”, wie E. Hirsch Fichte nennt, (368) hätte man solche Sätzen nicht erwartet. Wahrscheinlich hätten Sie in Fichtes „Reich der Vernunft” nicht leben wollen. Dass sich die nationalsozialistische und die kommunistische Jugenderziehung hier Anregungen holten, ist klar. 

Wenn Sie sagen: „Wahr ist ja, daß der Nationalismus des Kaiserreichs und der NS-Zeit die Befreiungskriege und die Idealisten für die eigenen Zwecke instrumentalisiert hat”, so ist das nicht die ganze Wahrheit. Nationalistischer als Fichte konnte sich kaum jemand gebärden, sprach er doch „den Ausländern”, wie er alle Nicht-Deutschen nannte, nicht nur jegliche Fähigkeit zur Philosophie, sondern sogar zu einer echten Poesie ab. Beides sei nur im Volk der Ursprache, also bei den Deutschen möglich.

Wie er die nationale Erziehung gegen den Willen der Eltern und der deutschen Fürsten durchsetzen konnte – und er fordert ebenda „ohne Verzug” damit anzufangen – bleibt jedoch im Dunklen. Während sich nämlich die preußischen Reformer Stein, Hardenberg, Scharnhorst und Geneiseau mit der preußischen Niederlage vernünftig auseinandersetzen, sich also überlegten, was Preußen von den siegreichen Franzosen übernehmen müsse, um sie demnächst besiegen zu können – das Ergebnis waren die preußischen Reformen, die ersten Ansätze zu einer bescheidenen Demokratisierung und Liberalisierung des preußischen Staates, die in der Tat die Grundlage für den späteren Sieg in den Befreiungskriegen legten -, entwickelte Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation die sogenannte völkische Ideologie. Keine Übernahme französischer Ideen. Keine Revolution, sondern Betonung der Gemeinsamkeiten aller Deutschen, keine Kritik am deutschen Adel und an den deutschen Fürsten. (13.Rede) Fichte verstieg sich sogar zur Behauptung, die Deutschen sollten möglichst keine Kritik an den politischen Verhältnissen in Deutschland üben, obwohl die doch in ihrer Rückständigkeit kaum zu überbieten waren (Kleinstaaterei), den Liberalismus und alle anderen Schätze der französischen Regierungskunst strikt ablehnen, und statt dessen seine Philosophie als Nationalerziehung für alle Deutschen übernehmen. Obwohl Fichte das Wort Vernunft ständig im Munde führte, war seine Lösung unvernünftig, irrational, ohne Selbstkritik, d.h. ohne wirkliche Kritik der politischen Verhältnisse in Deutschland.

Aber Fichte war nicht nur Nationalist, er wurde auch ein ideeller Wegbereiter der Nationalsozialisten. In seiner Philosophie hat Moeller van den Bruck den Rassebegriff gefunden, auch wenn das Wort Rasse bei Fichte noch nicht vorkam. Aber lesen Sie einmal die zehnte Rede an die deutsche Nation. Das Wohlgefallen am Guten kann nicht anerzogen werden, es muß angeboren sein. Hier kann man schön beobachten, wie die hehre Lehre von der Autonomie des Willens in Rassismus umschlägt. Das hier noch fehlende Wort Rasse wurde von späteren Lesern quasi automatisch eingesetzt. Aus der Lehre vom „Geschlossenen Handelsstaat” lässt sich mit Leichtigkeit die Forderung nach Eroberung von Lebensraum ableiten, auch wenn der Begriff Lebensraum selbst nicht vorkommt, aber das wirtschaftliche Ziel der Autarkie, das Hitler sehr bald umgesetzt hat. Auch der Weg, den Fichtes politische Ideen zu Hitler nahmen, ist klar: Fichte war der Hausphilosoph des Alldeutschen Verbandes, der für die äußerste nationalistische Rechte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik steht.

Dennoch war Fichte, trotz einiger Entgleisungen aus jugendlichem Übermut, kein Antisemit. Er bekennt zwar in einem Brief seine Abneigung gegen Juden, betont aber, seine antijüdischen Vorurteile auf Grund positiver Erfahrungen mit jüdischen Studenten revidiert zu haben.

Da er jedoch den Deutschen eine besondere Neigung zum Idealismus zuschrieb, musste er natürlich einräumen, dass es auch nichtidealistische, also eigentlich „undeutsche” Deutsche gab. Aber diesen inneren Feind sah er vorzugsweise bei den Vertretern des trägen Kirchenglaubens. „Träge” heiß hier „träge machend”. Und diese Leute, die leider auch von der Kanzel herab beeinflusst würden, sähen in der Niederlage gegen Napoleon eine Strafe für ihre Sünden. Bei dieser Einstellung entstehe nicht die richtige Kampfmoral. Nun wäre es natürlich unklug, so Chamberlain später, gegen die große Masse der Kirchengläubigen vorzugehen. Besser wäre da schon, wenn man die Anstifter des „Defaitismus”, wie Hitler noch später sagte, isolieren könnte, am besten, wenn diese nur eine winzige Minderheit darstellen. Und da boten sich die Juden als Stellvertreter der Christen geradezu an. 

Chamberlain hat also das Bild vom inneren Feind weiterentwickelt. Schuld am Defaitismus vieler Christen sei eine typisch jüdische Haltung, die Jeremia zu verantworten habe. Er hat als erster den Sieg eines Feindes, Nebu­kad­ne­zars, als Strafe für die Sünde des eigenen Volks gedeutet, und folglich jeglichen Widerstand gegen den äußeren Feind untersagt. In Nietzsches Antichrist finden Sie eine ähnliche Interpretation der jüdischen Propheten. Und so entwickelte sich langsam der Jude zum innern Feind einer idealistischen Staatsphilosophie. Dass der materialistische Marxismus der „vaterlandslosen Gesellen” nach einem Juden benannt ist, trug zu dieser Entwicklung natürlich bei.

Insofern haben Sie Recht, wenn Sie auch eine Interpretation des „Judentums” verlangen, obwohl dieser Begriff doch selbstverständlich sein sollte. „Jude” steht in den von mir interpretierten Schriften sehr oft für „der Fromme”, ja für „der Christ”.

Schwierig wird jedoch vor allem unter liberalen Protestanten die Begriffsbestimmung Christ. War Chamberlain ein Christ? Wenn Sie mir helfen könnten, Kriterien zu finden, wann ein Publizist nicht mehr als Christ bezeichnet werden kann, wäre ich Ihnen dankbar. Natürlich weiß ich, dass der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele nicht das Einzige ist, was Christen auszeichnet. Jeder von uns hat da immer wieder seine Zweifel. Aber ich dachte mir, ein Philosoph, der diese Lehre ganz bewusst überwinden will, weil er sie für egoistisch hält, wie Fichte in den Reden an die deutsche Nation, (8. Rede) wo ebenfalls der philosophische Hintergrund der Rassenlehre deutlich wird, könnte nicht mehr Christ genannt werden. Fichte meint, die Unsterblichkeit des Menschen sei durch das Volk garantiert, das deshalb von fremden Einflüssen rein zu halten sei. Später wurde daraus die Forderung nach der Reinheit der deutschen Rasse. Wenn Fichte den Gedanken einer Schöpfung der Welt durch Gott ablehnt, weil er ganz im Sinne der kopernikanischen Wende die Welt für eine Schöpfung des menschlichen Verstandes hält, ist er dann noch ein Christ? Gibt es neben den christlichen Konfessionen noch ein „jo­han­ni­tisches Christentum” der Philosophen?

Man sagt heute, Hitler habe die Philosophen für seine Zwecke „ausgeschlachtet”. Auch Sie verwenden diesen Begriff. Das trifft sicher zu. In einem Punkt muss ich diese Vorstellung jedoch zurückweisen. Als ob Hitler von Anfang Antisemit gewesen wäre und sich nicht in einer vorwiegend von Philosophen bestimmten deutschen Kultur dazu entwickelt hätte. Antisemitische Vorurteile hatte er, wie übrigens viele, schon recht bald; in einen fanatischen Antisemiten hat er sich noch nicht in Wien, sondern erst später, angesichts der Niederlage 1918 verwandelt. Dazu gibt es Parallelen in der Vita Sombarts. Sein Antisemitismus hatte zunächst die Funktion, diese Niederlage zu „verarbeiten.” Er muss damals völlig durcheinander gewesen sein, denn er tauchte zunächst sogar bei den Sozialdemokraten auf. In dieser wirren Zeit stieß er u.a. auf Schopenhauers Satz: „Die Juden sind große Meister im Lügen.” Ich konnte zeigen, wie dieser furchtbare Satz, der in Mein Kampf und in den frühen Reden öfters zitiert wird, zu Hitlers Wahnbildung beitrug. Also hat nicht Hitler den Philosophen „ausgeschlachtet”, sondern umgekehrt: der Philosoph hat Hitler zu einem ganz einfachen Weltbild verführt: Denn dieser schloss, durch die Juden sei die Lüge in die Welt gekommen.

Schopenhauer selbst hat mit Juden sehr positive Erfahrungen gemacht, denn seine drei „Erzapostel” waren Ju­den, nämlich Julius Frauen­städt, der erste Heraus­ge­ber seiner Werke, Ernst Otto Timotheus Lindner und David Asher. Woher kam also sein katastrophales antisemitisches Vorurteil? Nicht aus der Lebenserfahrung, sondern aus der Philosophie. Und da stößt man auf einen berühmten Namen: Immanuel Kant. (siehe oben)

Die antijüdischen Thesen deutscher Philosophen waren Hitler unter anderen durch Theodor Fritschs Zitatensammlungen bekannt. Schopenhauer kannte er recht gut, zumindest Parerga und Paralipomena. Dort fand er einiges an Völkischem und Antisemitischem, während Die Welt als Wille und Vorstellung davon frei ist. Aber das Hauptwerk wurde lange Zeit kaum beachtet, während dem darüber verbitterten Denker mit den Parerga (Nebenwerken) beim breiteren Publikum eine Art Durchbruch gelang. Heute ist es umgekehrt: man kennt höchstens das Hauptwerk, also hält sich leicht die These, aus der deutschen Philosophie stamme der völkische Antisemitismus ja wohl nicht. Auch bei Fichte verhält es sich ähnlich. Die Reden an die deutsche Nation waren ein typisches Nebenwerk, wurden aber bis 1945 viel gelesen und sind heute kaum mehr bekannt. Der populärste aller Philosophen ist nach wie vor Nietzsche, was fast in jeder Buchhandlung nachzuprüfen ist. Hitler hat auch seinen Antichrist gelesen und auf seine Art in sein antisemitisches Weltbild einbezogen, wie ich beweisen konnte. In Fritschens Handbuch der Judenfrage wird nun allerdings auch aus Luthers Von den Jüden und ihren Lügen zitiert. Für mich war es jetzt sehr spannend: Was blieb bei ihm hängen und was nicht? Auf Luthers Antisemitismus hat er sich, soweit ich das feststellen konnte, kein einziges Mal berufen, wohl aber namentlich auf Schopenhauer.

Von Luther hat Hitler demnach als Katholik und aufgeklärter Zeitgenosse, der er sein wollte, nichts gehalten, auch wenn er manchmal das Gegenteil sagte, von Schopenhauer und Kant aber sehr viel. Diese Feststellung scheint mir für die protestantische Kirche insgesamt wichtig zu sein. Denn mit der Anschuldigung, auch für den modernen, nach 1870 einsetzenden Antisemitismus, der zum Holocaust führte, verantwortlich zu sein, könnten die Kirchen auf die Dauer gar nicht existieren.

Sie werfen mir vor, ich würde methodisch genauso wie B. Grunberger und P. Dessuant verfahren, die ich angreife. Da haben Sie insofern recht, also ich genauso wie sie Hauptschuldige ausmache, nämlich deutsche Philosophen und Publizisten. Ich tue es aber in der Absicht, die Kirchen zu entlasten. Leider gelten in diesem Kampf dieselben Bedingungen wie in einem Krimi. Wer den einen entlasten will, muss einen anderen belasten. Wer das Christentum von dieser schweren Anklage befreien will, muss glaubhaft den eigentlich Schuldigen präsentieren. Anders geht es leider nicht. Ob ich wirklich methodisch genauso arbeite wie die Grunberger und Dessuant, können Sie erst feststellen, wenn Sie beide Bücher vergleichen. Wer hat sich mehr Mühe gegeben, seine These zu belegen etc.? Wer schöpft aus dem hohlen Bauch?

Im Grunde geht es jedoch um mehr, als nur im das Bild der Kirchen in der Öffentlichkeit, nämlich um Selbstfindung. War Emanuel Hirsch wirklich ein christlicher Theologe, wenn er im Banne Fichtes stand? Er schließt seine Auseinandersetzung mit dem spinozistischen Fatalismus mit dem Lob auf Fichtes Philosophie: „Das ist der einzige Weg, auf dem die weiße Menschheit vorm Absturz ins Untermenschliche bewahrt werden kann.” Geschichte der neueren evangelischen Theologie von 1949 (Bd.4, 345). Das Zitat verdanke ich, wie gesagt, Ihnen.

Was hat die idealistische Philosophie mit „weißen Menschen” und mit „Untermenschentum” zu tun? Nun, es gibt einen Zusammenhang. Als deutsche Philosophen unter dem Einfluss der Indogermanistik bemerkten, die deutsche Egomanie könnte durch die Grammatik der indogermanischen Sprachen bedingt sein, hätten sie diese Philosophie eigentlich aufgeben müssen. Denn Kant und in gewisser Weise auch noch Fichte hatten geglaubt, Gesetze entdeckt zu haben, die a priori für alle Menschen, für das menschliche Bewusstsein allgemein gelten würden, also auch für Araber, Chinesen, Japaner und Afrikaner. Aber eine Philosophie, die eine ungeheure Arroganz begründet, gibt man nicht so schnell auf. Also kam über die Sprache die Rasse mit ins Spiel.

„… Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen und deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprachverwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit großer Wahrscheinlichkeit anders ‚in die Welt’ blicken und auf anderen Pfaden zu finden sein als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werturteile und Rasse-Bedingungen. – So viel zur Zurückweisung von Lockes Oberflächlichkeit in bezug auf die Herkunft der Ideen.” (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 20)

Verzeihen Sie, wenn ich jetzt noch mal belehrend wirke, aber Sie haben mir diesen Ball mit dem Hirsch-Zitat nun mal zugespielt. Der Begriff „Indogermane” wurde, wie Sie wissen, von der von Franz Bopp begründeten Sprachwissenschaft der Indogermanistik geschaffen. Von der grammatischen Struktur her ist das indische Sanskrit tatsächlich mit der deutschen, griechischen, lateinischen Sprache verwandt. Aber Araber und Juden wurden durch ihre Sprachen zu den Semiten gezählt, daher der Begriff Antisemitismus. Den Gegensatz zum angeblich hebräisch sprechenden Juden stellte also der Indogermane oder Arier dar. Als „Arier”, die „Reinen” oder die „Weißen” bezeichnete man ursprünglich die obersten Kasten in Indien, mit denen man sich über die Sprache und die helle Hautfarbe verwandt fühlte. Indisches Denken stand z.B. auch bei Schopenhauer hoch im Kurs, er brauchte die indische Philosophie, um sich vom übermächtigen Einfluss der jüdisch-christlichen Religion emanzipieren zu können. Und diese Emanzipation verband sich durchaus mit nationalem Stolz, wie ja Nietzsche an dieser Stelle nicht den Deutschen Kant, sondern Engländer Locke kritisiert, was nicht ganz fair ist.

Die deutsche idealistische Philosophie verstand sich als geistige Entsprechung zur französischen Revolution, als Aufstand gegen den (jüdischen) Gott. Daher der in ihr ständig lauernde Antisemitismus, der sich meist in einem ambivalenten Verhältnis zu Spinoza zeigte, wie auch Hirsch vom „spinozistischen Fatalismus” sprach. Die großen Meisterdenker konnten ihre antijüdischen Gefühle dank ihrer christlichen Erziehung noch kontrollieren. Später brachen diese Barrieren zusammen, was Heinrich Heine als einziger vorausgesehen hat. (Religion und Philosophie in Deutschland, Drittes Buch.) Während Theologen über das Alte Testament und über den Juden Jesus, ob sie wollten oder nicht, immer auch eine Brücke zu den Juden bauten, haben aus der deutschen Philosophie entwickelte Weltanschauungen durch eine in der Sprache vorgegebene „Familien-Ähnlichkeit mit der indischen und griechischen Philosophie” dem Deutschen und manchem anderen Europäer auch etwas sehr Wichtiges gegeben, was er sich bis zur Aufklärung aus manchen schlimmen Stellen des Neuen Testaments geholt hatte, an das er im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr recht glaubte: das Gefühl, dem Juden überlegen zu sein.

Gestatten Sie mir jetzt noch ein paar persönliche Bemerkungen. Sie glauben, wenn Schelling Spinoza Komplimente macht, widerlege er doch die These, er habe in dem jüdischen Philosophen einen Feind gesehen. Nun ehrt es Sie, dass Sie als Pastor von Feindschaft keine richtige Vorstellung haben. Sie meinen, ganz im Sinne des Neuen Testaments, Feindschaft müsse durch Liebe beendet werden, Feindschaft und Liebe seien absolute Gegensätze. Aber von Nietzsche gibt es einen Aphorismus Inwiefern der Denker seinen Feind liebt. (Morgenröte 370) Selbst Chamberlain, der Rassenantisemit, fand noch anerkennende Worte für die Juden. Selbst er war noch ein Denker, wenn auch ein primitiver. Extrem gefährlich wurde es erst, als sich ein Volksführer dieses Themas annahm, der nun wahrhaftig überhaupt kein Denker war. Aber niemand wird ausschließen, dass dieser begabte Demagoge von Denkern beeinflusst wurde. Dass er ein Schüler Chamberlains war, wird allgemein anerkannt; und dieser hätte wohl kaum so auf Hitler wirken können, wenn man nicht bei vielen anerkannten Philosophen immer wieder antijüdische Anspielungen lesen könnte, auf die heute niemand mehr hinweist, die aber damals von Antisemiten in Handbüchern oder Katechismen gesammelt wurden.

Über Emanuel Hirsch können wir uns vielleicht später noch auseinandersetzen. Sie sehen, auch ich liebe meinen Feind. Da Sie ankündigen, Ihren Brief veröffentlichen zu wollen, will ich nicht nachstehen. Und weil Gladiatorenkämpfe immer noch die beste Massenunterhaltung darstellen, sollen am besten beide Briefe veröffentlicht werden, im Pfälzischen Pfarrerblatt. 

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Dieter Just

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