Winfried Anslinger
Emilienstraße 45, 66424 Homburg
Wenn es im Sommer wochenlang nicht regnet, Felder verdorren, Flüsse das Gebiss ihrer Kiesufer entblößen und die Zeitungen schreiben, so schlimm war es seit Menschengedenken nicht, erleben wir gerade einen Jahrhundertsommer. Jahrhundertsommer kommen jetzt häufiger vor, das letzte Mal war 2003. Damals standen in unserem Park Leute unter den Wasserfontänen der Springbrunnen, während andere, die im Ahornschatten Zuflucht gefunden hatten, schlapp auf Gartenstühlen hingen und dem Treiben von ihren Biergläsern aus zuschauten. Die Kellner im Venezia schwitzten ihre Hemden durch, aber keinen interessierte das. Alle waren wie in Trance, sogar meine Armbanduhr blieb stehen.
Wahrscheinlich wäre diese Frau damals von jedem übersehen worden. Oder vielleicht gerade nicht, weil es jedem so passiert wäre wie mir. Ich war jedenfalls nach stundenlanger Schwitzkastenfahrt durchs Tessin ausgestiegen und halb besinnungslos zum Container gewankt – beide Hände voll mit Chiptüten, Plastikflaschen und zerknüllten Zeitungen. Das Schild an der Einfahrt zum Rastplatz hatte 24 Kilometer bis Mailand angezeigt. Als ich den Containerdeckel hob, kam mir ein Wespenschwarm entgegen. Beim Zurückweichen wäre ich fast über ihren Rollstuhl gefallen.
Er stand neben dem Behälter, als sei er nicht mehr hineingegangen. Ein beiger Sommermantel hing von hinten über die Lehne. Ich ging um das Gefährt herum, da saß die Frau drin. Schief, nach vorne gekrümmt, die Augen halb offen. Wie bei einer Katze, die zusammengerollt in der Sofaecke döst. Geblümte Bluse, grauer Rock, weiße, verbeulte Schuhe, die Unterlippe hing herab. Dann ihre Hand: ein Zweig mit trockener, adriger Haut darüber, wie zuletzt bei meiner Mutter.
Wie soll man einen Namen erfahren, wo so jemand hingehört, was das alles soll, wenn sie auf nichts reagiert? Immer nur geradeaus starrt und sich anscheinend völlig vergessen hat? Die jemand anders scheinbar ebenfalls vergessen hatte. Im Jahrhundertsommer auf einer Autobahnraststätte in Italien, neben dem Müll.
Als erstes brauchte ich eine freie Hand und dann ein Taschentuch für ihren Mund. Wer weiß, wie lange sie schon in der prallen Sonne stand. Von Haustieren hatte ich gelesen, deren Besitzer sie, an Bäume gebunden, auf Parkplätzen vergaßen. In diesem Fall konnte aber kein Tierheim helfen.
Ich packte die Rollstuhlgriffe und schob sie die Magnoliensträucher entlang neben unseren Kleinbus. An und für sich sind die Italiener nette Leute. Leider verstehen die meisten wenig Deutsch. Dafür reden und gestikulieren sie viel. Vom Getränkekiosk schickte man mich zur Tankstelle und wieder zurück. Niemand fühlte sich zuständig, es gab kein Büro, auch keine Carabinieri.
Als ich zum Wagen zurückkam, stand Gudrun mit einem ratlosen Gesicht daneben: „Hast du die bei uns reingesetzt?“
Auf der mittleren Sitzbank geblümte Bluse, grauer Rock.
„Keine Ahnung, die stand beim Container“, sagte ich verblüfft.
„Und du willst sie mitnehmen?“ Gudruns Augen flackerten.
„Nein, Omi hierbleiben!“, rief Johannes, unser Jüngster. Er kletterte auf ihren Schoß und begann an der Bluse herum zu spielen.
Meine Mutter war im Frühjahr zuvor gestorben. Wir hatten sie nachmittags im Lehnstuhl gefunden. Johannes lag an ihrer Brust und schlief, er hatte nichts gemerkt. Er wollte nicht mehr runter von ihr. Wollte die Blumen von ihrer Bluse pflücken, sie hatte Wochen vorher ein Ländchen mit ihm angelegt – Stiefmütterchen. Ihr Garten stieß an unser Grundstück. Wenn wir unsere Kinder suchten, mussten wir nur zur „Blumenomi“ rüber. Erst an der Toten erkannten wir die Veränderung: Papierhaut, ihre Augen eingesunken, Hände, die man sich gar nicht mehr traute anzufassen. Wochenlang hatten wir ihren heiseren Husten überhört, das Rasseln in der Lunge. Wir hatten einen Bogen um sie gemacht wie um eine ansteckende Krankheit. Wahrscheinlich taten wir ihr damit einen Gefallen. Uns selbst auch. Sie hinterließ kein Testament und jetzt hat mein Bruder mich verklagt. Fast mit Gewalt haben wir unseren Jüngsten von ihr wegholen müssen.
Mir blieb nichts übrig als mich erneut auf die Suche zu machen. Nach mehreren Stationen fand ich endlich ein Telefon. Der Hörer glühte, sämtliche Münzschlitze waren mit Kaugummi verklebt. Meine Armbanduhr war wieder stehengeblieben, allzu große Hitze verträgt er nicht, und die Sonne röstete wirklich alles was nicht flüchten konnte. Schweiß nass kehrte ich zurück. Da standen zwei von uns an der Schiebetür, auf dem Schoß der Frau hockten auch zwei.
„Wir müssen was unternehmen!“ befahl Gudrun. „Hilf mir mal!“
„Alles auf die Plätze, wir fahren weiter!“, rief ich ins Auto.
Dann griff ich ihr von hinten vorsichtig unter die Arme, Gudrun schob den Krankenstuhl zurecht, doch beim Anheben schrie sie auf mit einer Stimme, die mich an die Christkindlglocke von Heiligabend erinnerte. Wahrscheinlich kam das vom Rheuma.
„Dann zur Autobahnpolizei!“ rief meine Frau, „So was muss es doch geben!“
Als ich unseren Kleinbus startete, saß rechts von der Frau Johannes und las ihr mit dem Zeigefinger aus seinem Bilderbuch vor, während Marie versuchte, sie von links mit Chips und Nüssen zu füttern. Auf der Rückbank blickte der Älteste leicht enttäuscht aus dem Fenster. Zum Glück war mein Surfbrett daheim geblieben, sonst hätte der Fahrstuhl nicht mehr aufs Dach gepasst.
Milano, Corsico, Lodi, San Colombano al Lambro: Flach lag das Land vor uns, in der Hitze fingen die Pappelreihen an zu tanzen, Getreidefelder wogten wie ein Ozean. Da, auf der Standspur ein Streifenwagen! Vollbremsung, ich stieg aus und rannte zurück, zwei verdutzte Polizisten hielten gerade Siesta. Mit vielen Gesten ließen sie sich zu unserem Fahrzeug bewegen. „Look, old woman!“
Die beiden schauen einander an. Gudrun versuchte es auf Französisch. Ich holte den Rollstuhl vom Dach, kaum hoben wir sie auf, ging die Christkindlglocke wieder an. Da schüttelten die Carabinieri den Kopf. Wir sagten „malad“ und „help“, ließen unsere Hände vorm Gesicht kreisen, ernteten bloß Schulterzucken. Ihre Gesichter sagten: Wenn ihr Streit habt mit eurer Mutter, ist das eure Sache, das ist nichts für uns. Meiner Frau traten Tränen in die Augen, als sie auf den Beifahrersitz zurückkehrte.
Unsere gestorbene Blumenomi war in ihren letzten Jahren wie umgedreht. Nie hatte sie früher so viel gelacht. Sie konnte die schönsten Kindergeburtstage im Viertel ausrichten. In ihrem Garten haben die Kinder Heuschrecken erbeutet, Junikäfer, regenbogenfarbige Raupen, was immer in die kleine Box mit Vergrößerungsglas passte. Sie wusste die Namen von Schmetterlingen und Wanzen; in dem Winzerdorf, wo sie her stammte, hatte jeder seine Stücker gekannt mit allem was darin lebte. Ab elf Uhr stand sie am Herd und brachte den Kindern Kochen bei. Waren die Zwetschgen reif, stand tagelang ein Riesentopf mit Latwerg auf dem Feuer und ihr Siedlungshäuschen roch nach Bonbonladen vom Keller bis unters Dach. Diese da konnte weder Latwerg kochen noch Vanillepudding mit Schokosoße. Früher vielleicht. Inzwischen brauchte sie Pampers. Aber Gudrun hatte natürlich recht, wenn sie sagte: „Ist deine Sache. Du hast sie angeschleppt. Ich versorg das ganze Jahr über schon die Zwerge“.
Im Grund genommen konnten wir uns nicht beschweren. Drei Wochen Toskana, Ferienhaus, wir wohnten ganz für uns in einer ehemaligen Mühle: „Veccio mulino, mitten in alter Kulturlandschaft, idyllisch gelegen.“ Aus den Mahlsteinen hatten sie runde Tische gemacht, ein Bach floss vorbei, in den Wiesen zirpte es, morgens fanden die Kinder junge Kröten auf der Veranda. Unter den Steineichen führte das Sommerlicht ein Ballett auf. Wenn sie oben im Dorf ihren Abwasch machten, wehte eine Wolke von Abwassergestank über unseren Frühstückstisch. Doch von hier brauchte man keine fünf Minuten bis zur Autobahn und nach Pisa fuhr man höchstens eine Stunde. Allerdings waren wir nicht dort.
Die Italiener sind meistens unkompliziert. Ich weiß zwar nicht, ob unser Vermieter alles verstanden hat, als ich bei der Ankunft erklären wollte, warum wir einer mehr sind als im Prospekt vorgesehen. Doch er hat gegrinst und mit dem Kopf gewackelt. Da war ich erleichtert und habe das alte Kanapee mit der großkarierten Reservebettwäsche bezogen.
Auf den letzten fünfzig Kilometern hatte es nämlich zwischen Fahrer und Beifahrersitz gewaltig gefunkt. Kurz vor La Spezia wäre Gudrun beinahe ausgestiegen. Sie habe sich nicht freigenommen, um ihren Urlaub mit einem Pflegefall zu verbringen, am liebsten würde sie mit der Bahn heimfahren. Ohne uns. Doch als unsere Drei am ersten Abend mit der Omi im Rollstuhl übers Pflaster holperten, immer bis zur Hauswand und zurück bis alle japsten, schien sie fürs erste beruhigt. Ich tat mein Bestes. Nachmittags fand sie sogar Zeit für ihre Krimis, die sie ursprünglich zu Hause lassen wollte. Jetzt reichte es, wenn einer von uns unter der Weinrebe saß und gelegentlich ein Auge über den Buchrand warf. Alle waren beschäftigt. Abends erzielte Gudrun Fortschritte bei ihren Yogaübungen, schon nach der ersten Woche hatte sie sämtliche Reiseführer und Prospekte durch. „Veccio mulino, mitten in alter Kulturlandschaft, idyllisch gelegen.“ Wenn bloß diese Hitze mal nachgelassen hätte.
Meine Frau wollte zum Rolling Stones Konzert nach Rom. Ich sagte: „Vierhundert Kilometer und wahrscheinlich gibt’s längst keine Karten mehr.“ Als ich vorschlug, zum großen Preis von Italien nach Monza zu fahren, sagte Gudrun: „Frisst Körnerbrot und fährt mit dem Rad ins Büro! Jetzt will er mit hunderttausend Formel-eins-Deppen Dosenbier saufen gehn.“
Wir einigten uns auf Lucca. Kirchen, Mauern, drei oder vier Geschlechtertürme. „Erleben Sie Lucca, die Stadt zwischen Tradition und Moderne.“ Vor Jahrhunderten waren die Türme von Familien gebaut worden, die sich bekriegten. Über Generationen. Deswegen unten eine einzige Haustür, neben der die Alten wohnten, alle übrigen lebten in den Stockwerken darüber. Mit meiner Mutter wär das nicht gegangen. Ihr hätte es vielleicht gefallen: Jeden, der uns besucht, gleich ausfragen, danach bei allem ihren Senf dazu geben, selbst wenn sie keine Ahnung hatte. Ich wär nach der ersten Nacht ausgezogen. Unsere neue Großmutter bekam nichts unter Kontrolle, wollte bloß ihre Ruhe.
Von Lucca sahen wir wenig. Kinder interessieren sich für Eisstände und Trattorias. Wir sind schließlich nur in eine Kirche hinein gegangen.
Im kühlen Seitenschiff lebensgroße Heiligenfiguren. Eine hatte lauter Pfeile in sich stecken. Ein junger Mann, der sah aus wie unser Osterhase, wenn Gudrun ihn mit Speck und Salbei gespickt auf den Tisch stellt. Er guckte schräg von unten Richtung Himmel, ziemlich klagsam und doch wiederum nicht richtig. Eher wie einer, der sich bei der Domina Gewichtchen an die Brustwarzen hängen lässt.
Unsere Omi sagte plötzlich: „Je nu, so jeht et im Leben! Mein Mann hat Krebs jehabt und ich hab ooch schon keene Briste mehr.“ Sie sprach ja. Sie sprach ja deutsch. Mir blieb der Mund offen stehen. Es gab auch nichts zu sagen, denn ihre Bemerkung meinte nicht uns. Sie schien sich an eine andere Instanz zu richten, eine, die über den Heiligen rangiert. Wegen ihrem Mann vielleicht, oder wegen sich selbst. Allerdings konnte man abends beim Duschen sehen, was an einer alten Frau noch dran war. Von wegen. Gudrun half beim Ausziehen, das machte sie dann schon. Gemeinsam setzten wir sie auf einen Hocker, ganz vorsichtig, dann ging es mit der Brause von oben nach unten und sie ließ es sich gefallen. Unser Badezimmer war nicht mehr als ein abgetrenntes Eck mit Fliesen und Vorhang. Im Abfluss bildeten sich kleine Seifenstrudel.
Einmal stand unser Vermieter vor der Tür. Er wolle nach dem Rasen sehen, es wär jetzt alles so trocken. Er berichtete, die Dorfjugend veranstalte eine Disco oben auf der Piazza, auch Touristen wären willkommen.
Am Abend ging es unserer Omi schlecht. Sie hustete vom Herzen her, als wollte sie unsere Arbeit mit einem raschen Abgang belohnen. Ich erschrak: Was machen wir mit einer Toten? Gudrun meinte: „Seh zu wie du klarkommst!“ Ich sah mich mit dem Auto losfahren, einen Teppich kaufen, so einen billigen, aber breit genug, dazu eine große Rolle Klebeband. Die Kinder hätten natürlich nichts merken dürfen. Wir sagten: „Gestern Abend, als ihr schon geschlafen habt, sind Leute gekommen und haben die Omi abgeholt. Es war ein Versehen.“ Im Appenin gibt es jede Menge Schluchten und Brücken. Da konnte man zwischendurch kurz mal anhalten und sagen: „Mama und ich, wir steigen jetzt aus und tun was weg. Ihr wartet so lang.“ Gudrun hätte helfen müssen, den Teppich vom Gepäckträger, dann über die Brüstung und – runter. In Italien kümmert sich keiner darum, die Täler liegen voll mit Müll. Ach ja, der Rollstuhl. Entweder im Haus verstecken oder abends noch mal losfahren, im Gebüsch schaut auch keiner nach.
Jedenfalls, auf dem Wagendach bis nach Deutschland, das wäre gar nicht gegangen. Über all die Mautstellen und Raststätten. In einem Jahrhundertsommer. Eine Woche früher heim und am Ende wäre uns noch was angehängt worden. Wenn bloß diese Hitze nicht wär.
Gudrun meinte: „Lebendig kann es noch schwieriger werden. Kein Ausweis, keine Scheckkarte, neuerdings gibt´s auch Mautkontrollen hinter der Grenze. Wenn jemand ohne Papiere ist und sieht noch so ein bisschen südländisch aus, denken die sofort an Libyen oder Marocco. Und zuhause erst. Wer glaubt uns das? Eine Familie, die sich eine fremde Frau ins Haus setzt, Pflegefall, wo man froh sein könnte, also dermaßen blöd ist niemand.“
Ich musste ihr recht geben. Egal wie es ausging: Keine Rente, kein Arzt, keine Adresse. Dafür lief anderswo ein Konto über. Schön für ihre Verwandten. Sie konnten ein paar Jahre lang die Pension kassieren und sie anschließend als vermisst melden. Behaupten, sie wäre im Gewühl verloren gegangen. Während einer Urlaubsfahrt. Auf einer Autobahnraststätte bei Mailand.
Meine Mutter starb über Pfingsten. Wir waren vom Aldi zurückgekommen, ich fand sie kurz vorm Einräumen ihres Kühlschranks, der Fernseher lief und Johannes schlief auf ihr. In der stickigen Zimmerluft ein Geruch nach Vorwurf. Als ich endlich begriff was los war, stand ich da wie die Birke im Garten, wenn im Herbst ein Sturm rein fährt. Dann drehte sich alles, die Welt ein einziger Strudel. Hinterher schrieb es Gudrun den Nerven zu, aber ich glaube das nicht.
Ich hab mit meiner Mutter nie ein gescheites Gespräch geführt. Entweder ging unten die Ladentür, oder ich musste vor ihr in Deckung gehen. Später hieß es nur: „Kommst wieder so spät heim!“ Seit der Vater weg war, fühlte sie sich für alles zuständig. Ich hab meine Schulfreunde beneidet, weil es bei denen zuhause ruhiger zuging. Aber im Nachhinein muss ich sagen: Es war eine Leistung. Ein Kind erkennt das nicht und sie hätte nichts davon wissen wollen. Aber sie hat eine Leistung erbracht. Heute wäre ich froh, es hätte eine Gelegenheit gegeben, ihr das zu sagen. Nicht aus Dankbarkeit, sondern wegen der Gerechtigkeit. Manches muss einfach einmal gesagt werden, unabhängig davon, ob es passt. Damit es geradeaus geht im Leben.
Nachmittags immer dunstig. Kein Blatt regte sich im kleinen Pappelwald. Aus den Wiesen riefen Zikaden. Marie drehte die weißen Haare der Omi auf Gudruns Lockenwickler, die hielt still und grinste. Später half sie beim Gemüseschneiden: Karotten und Paprika, die Zucchini, alles in gleichgroße Würfel. Ich sah hinterher nach, ob noch alle Finger dran waren. Bei diesem Wetter gab es meistens Eintopf. Wir redeten viel mit ihr und sie lachte dazu, bloß an den Herd ließen wir sie nicht mehr, am Tag zuvor hatte Andreas ihre Brille aus der Lasagne gefischt. Da muss nacheinander Schicht um Schicht gelegt werden, ohne Brille sah sie überhaupt nichts. Es war auch wegen dem Gas. Ich sagte: „Ach Omi, hast doch genug geschafft im Leben. Wir wissen das alle.“
Dann ein schwüler Abend. Nicht mal die Vögel wollten singen. Mit Gudrun quälte ich mich hoch zur Dorfdisko. Der Platz war überfüllt mit Einheimischen, aus allen Lautsprechern dröhnte Gianna Nannini, zwischen Verkaufsbuden eine improvisierte Bühne. Erstes Wetterleuchten zuckte über den Horizont. Während der Musikpausen redete Gudrun nur über Florenz, die Medici, Michelangelo, die Uffizien. Bevor sie eine Stadt besucht, informiert sie sich immer, selbst wenn sie am Ende gar nicht hinfährt. Dann kam der Wind. Um die Piazza schwankten die Platanen, Staub wirbelte auf, an den Weinständen räumten sie eilig Gläser und Flaschen weg, Tischdecken und Zeltplanen flogen weg. Ein heller Donnerschlag knallte über den Platz und jagte Kinder mit ihren Müttern in die Häuser. Im Durcheinander suchten wir unseren Abstieg. Grell leuchteten die Blitze den steilen Pfad aus, im Gegenlicht zerrissen sich Wacholderbüsche, die Böen peitschten uns mit Ästen und erstem Hagel. Wir schafften es gerade noch bis zur Terrasse, dann brach das Unwetter los. Wie dankbar die Gesichter der Kleinen, die uns, an den Großen geklammert in der Küche erwarteten. Es tobte die halbe Nacht. Mehrfach trat ich vor die Tür um nachzusehen, ob der Mühlbach ins Haus kommt.
Der folgende Morgen war vollkommen still. Die Wiese zeigte wieder Grün, der Himmel erschien leicht bewölkt. Nur der Hibiskus hing zerzaust herunter. Schon trockneten die Pfützen. Ein leichter, frischer Wind kam auf und rüttelte an der Weinrebe.
Ich ging in die Küche, stapelte Tassen und Teller auf dem Tablett fürs Frühstück. Längst musste ich nach der Omi schauen, die Zeiger meiner Armbanduhr liefen wieder und zeigten halb zehn. Sie dürfte schlecht geschlafen haben bei dem Krach.
Ihr Kanapee hinter dem Vorhang war leer, die Bettbezüge weg. Im Eck lag das alte Federkissen. Im Bad stand ihr Hocker verlassen da. War Gudrun mit ihr fort gefahren? Das Auto wartete in der Einfahrt.
Meine Frau erschien in der Tür und fuhr sich durchs Haar. Sie gähnte, dann legte sie den Kopf schief und blickte mich ungläubig an.
„Drehst du jetzt endgültig am Rad?“
„Es ist doch kein Problem. Ich will nur wissen, wo du sie hingebracht hast.“
„Wen soll ich wo hingebracht haben? Verträgst du die Hitze nicht?“
„Die Hitze ist vorbei, aber die Omi ist weg.“
„Welche Omi bitte?“