Die Box (Dunkelkammergeschichten)

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Uwe Schneider
Blumenstr.1, 66989 Höheischweiler

Günter Grass: Die Box (Dunkelkammergeschichten), Steidl-Verlag, Göttingen 2008, Preis knapp unter zwanzig Euro. ISBN 978-3-86521-771-4

„Übriggeblieben.“ (S.7) Lautet die allererste Überschrift. Und: „Es war einmal…“ beginnen die ersten Worte des Romanes „Die Box“.

Das mag dem Lebensgefühl eines alternden Günter Grass entsprechen, der geschickt die Box – gemeint ist ein Agfa-Fotoapparat – der ollen Marie, einer Fotografin, eine übriggebliebene sein lässt. Die Box hat als einzige den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden. Und Grass?

Er sieht sich als „übriggeblieben“ in einer „zusammengestückelten Familie“ (11). Zeit kann doch vergehen und Kindheit dauert nicht ewig. Aber durch das Retroskop der acht zusammengewürfelten leiblichen Kinder des Günter Grass, die ihm den Wunsch, dass „wir erinnerungsmäßig alle drauflos quasseln, freiweg, ohne groß Rücksicht zu nehmen“ (200) zwar nicht zu seinem 70., so doch zu seinem 80. Geburtstag erfüllen, kann „das Väterchen“, wie er oft genannt wird, oder „der Alte“ Märchen erzählen. So werden es ihm die Söhne und Töchter entgegenhalten (211): „Das sind doch nur Märchen…“ (…) „Stimmt, …doch es sind eure, die ich euch erzählen ließ“, hält der alte Grass dagegen.

Man merkt Grass die Freude am künstlerischen Umgang mit Material an. Das alte Mariechen, die Fotografin, hat ihm ein Leben lang Material geliefert, aus der er Geschichten gefertigt hat.

Und das Instrument dazu war eben jene übriggebliebene Box.

„Meine Box macht Bilder, die gibt’s nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch im Traum nicht einfallen. Ist allsichtig, meine Box. Muß ihr beim Brand passiert sein. Spielt verrückt seitdem“ (19).

„Nie wussten wir genau, wer nicht mehr richtig tickte. Sie (erg.: Marie) oder die Box oder alle beide“, erklärt der älteste Sohn stellvertretend für alle anderen Kinder (19).

Und dann wird im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Taufen bzw. Nicht-Taufen der verschiedenen Kinder (Hat jedenfalls nix geschadet, dass wir alle getauft wurden – oder? S. 53) die alte Marie selbst zitiert: „Meine Box ist wie der liebe Gott: sieht alles, was ist, was war und was sein wird. Die kann keiner beschummeln. Hat einfach den Durchblick“ (56).

Die Kinder beschrieben die Box als „zaubermäßig“. So recht konnte man ihr nicht trauen. Ob da nicht doch ein einfacher Trick dahinter steckte?

Viel Unausgesprochenes, was in der Luft liegt, will Grass mit einem Kunstgriff wohl ausgesprochen sein lassen. Etwas überheblich, sich zurücklehnend, bleibt er doch selbst der, der die Fäden in der Hand hält. Dirigiert, bestimmt seine Kinder vom Hintergrund aus. Korrigiert ihre Ansichten, indem er sie relativiert. „Kuddelmuddel gehört zum Leben“ (94).

Und wenn der aufmerksame Leser es richtig sieht, dann ist das Buch ein „Familien-abwasch“ (98), in manchen Teilen recht langweilig, wenn man es auf seinen Realitätsgehalt hin befragt, aber doch auch spannend, wenn man beobachtet, wie der Autor mit dem Material umgeht. Und besonders spannend für Menschen, die an alten Fotoapparaten und solchen Details interessiert sind. Zu den Menschen gehört der Verfasser des Artikels nicht.

Seine Lebenslinien interessieren mich mehr:

„Ne starke Frau am Steuer, und er kann tun, was er grad in der Mache hat…“ (118), oder „abarbeiten“, wie Grass es selbst nennt, „… weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, solang er noch da ist…“ (211).

Immerhin lässt der altersmilde Autor durchblicken, dass er sein Leben lang kein Spielvater war, keiner, der für seine Kinder da war, weil er körperlich oder in Gedanken oft abwesend war. Und dass seine Projekte immer wichtiger waren als die Kinder, ja als seine Frauen. Sein Verhältnis zur Fotografin, „diese besondere Spielart der Liebe, die nebenbei läuft und nicht auf Sex angewiesen ist, beweist sich offenbar als dauerhafter…“ (197). Und doch stirbt die alte Marie letztendlich einsam: „War leider niemand dabei von uns, als sie starb, die Arme … Selbst unser Papa nicht“ (205).

Falls ich richtig lese, schaut da zwischen den Zeilen auch ein Stück weit Bitterkeit hervor.

„Und immer erfuhr man alles, wenn überhaupt, erst hinterher, scheibchenweise …“ (112).

Dieser Vorwurf, der dem Günter Grass in den letzten Monaten und Jahren seit dem Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ gemacht wurde, scheint doch an ihm zu nagen, auch wenn er in Fernsehinterviews versucht, reif und alterserfahren, lächelnd darüber hinwegzugehen bzw. darüber hinwegzusehen. „Hör wohl nicht richtig. Schon wieder Mitleid mit ihm!“ (113). Nein, kein Mitleid, denn sein Lebenswerk, sein Monument steht – sturmerprobt – auch wenn einzelne Kritiker mit Hammer, Meißel, Schlagbohrer oder Kettensäge versuchen, einzelne Teile herauszunehmen und das Gesamtwerk zu (zer-)stören.

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