Das Volk in seinem Land – Christen und der Staat Israel

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Prof. Dr. Klaus Wengst

Claudius-Höfe 14, 44789 Bochum

1.  „Zeichen der Treue Gottes“ – Diskussion um den Rheinischen Synodalbeschluss von 1980

Unter den „vier Gründen“, warum „ein neues Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk zu gewinnen“ sei, nennt der Rheinische Synodalbeschluss von 1980 an dritter Stelle „die Einsicht, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind“. Der Staat Israel wird hier nicht isoliert erwähnt. Er steht in einer Reihe mit der „fortdauernden Existenz des jüdischen Volkes“ und „seiner Heimkehr in das Land der Verheißung“. Wie immer man das „auch“ vor der dann schließlich erwähnten „Errichtung des Staates Israel“ verstehen mag, so gilt hier eben „auch“ diese als „Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk“. „In dieser Formulierung ist die erste theologische Qualifizierung des Staates Israel in einer deutschen kirchenleitenden Verlautbarung enthalten“ (Johannes Ehmann). Diese theologische Qualifizierung wurde sofort kritisch in Frage gestellt. Wird hier nicht ein bestimmtes historisch-politisches Zeitgeschehen theologisch überhöht und damit rationaler Betrachtung entzogen? Sind wir nicht in Deutschland gebrannte Kinder, sowohl was die traditionell protestantische Staatsüberhöhung im Allgemeinen angeht als auch hinsichtlich der in der deutschen evangelischen Kirche doch recht breit vorgenommenen positiven theologischen Deutung der sogenannten Machtergreifung von 1933? Geschieht hier jetzt nicht im Blick auf „die Errichtung des Staates Israel“ strukturell dasselbe – was deshalb tunlichst zu lassen wäre?

Auf der anderen Seite könnte die Kennzeichnung der Errichtung des Staates Israel als „Zeichen der Treue Gottes“ auch so hinterfragt werden: Wenn es aus irgendeinem Grund den Staat Israel nicht mehr geben, wenn er wieder von der politischen Landkarte verschwinden sollte, wäre das dann theologisch als „Zeichen der Untreue Gottes gegenüber seinem Volk“ zu interpretieren?

2.  Antijüdische Deutung des Falles Jerusalems in christlich-theologischer Tradition

Ich lasse diese Anfragen zunächst so stehen und weise an zwei Beispielen auf eine andere christliche Tradition hin, die meinte, in der theologischen Auseinandersetzung mit dem Judentum aus dessen nichtstaatlicher Existenz Nutzen ziehen zu können. Martin Luther argumentiert außerordentlich oft damit, dass die Juden seit fast schon 1500 Jahren das Land, Jerusalem, den Tempel, das Königtum und Priestertum verloren haben und seitdem im Elend lebten. Das tut er schon wiederholt in der Schrift von 1523 „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“, in der er noch zu einem humanen Umgang mit den Juden rät. So legt er z.B. die Daniel 9,26 angekündigte Zerstörung von „Stadt und Heiligtum“ auf die durch Titus im Jahr 70 erfolgte aus und schreibt: „Das ist alles so ergangen. Denn Jerusalem und der Tempel wurden mit gräulichem Ernst zerstört und sind bisher nie wieder in die Hand der Juden gelangt noch haben sie es vermocht, zu ihrer früheren Macht zu kommen, wie sehr es auch versucht worden ist. Noch am heutigen Tag liegt Jerusalem wüst. So kann man nicht leugnen: Dieser Spruch und das, was vor Augen liegt, ist eine einzige Sache.“ Er zieht daraus das Fazit: „Weil denn die Schrift und die Geschichte so kräftig miteinander übereinstimmen, haben die Juden nichts, was sie dagegen sagen könnten. Denn ihre Niederlage fühlen sie ja, die unermesslich größer ist, als sie sie jemals erlitten haben“.

In seinem „Brief wider die Sabbater an einen guten Freund“ von 1538 erinnert er gleich zu Beginn an „das alte Argument“, das er dann so beschreibt: „Die Juden sind nun 1500 Jahre außerhalb von Jerusalem im Elend, sodass sie weder Tempel, Gottesdienst, Priestertum noch Fürstentum haben. Und daher liegt ihr Gesetz mit Jerusalem und allem jüdischen Reich in der Asche, so lange Zeit schon. Das können sie nicht leugnen, weil sie ihr jämmerlicher Zustand allzu klar und allzu offensichtlich überführt. Ebenso tut das der Ort, der noch heute Jerusalem heißt, weil er vor aller Welt Augen wüst und ohne Judentum daliegt. So können sie das Gesetz des Mose nicht in dem halten, was in ihm als allein in Jerusalem zu tun geboten ist, wie sie selbst auch wissen und bekennen müssen. Denn ihr Priestertum, Fürstentum, Tempel, Opfern, und was Moses für sie und auf sie gestiftet hat aus göttlichem Befehl, können sie außer Jerusalem nicht haben noch hoffen.“ Noch schärfer treibt es Luther in seiner Schrift „Wider die Juden und ihre Lügen“ von 1542/43: „Hörst du, Jude, weißt du auch, dass Jerusalem und eure Herrschaft, samt dem Tempel und Priestertum, nun über 1460 Jahre zerstört ist? Denn dieses Jahr 1542, das wir Christen von der Geburt Christi an schreiben, sind es gerade 1468 Jahre her, und so geht bald ins 1500ste Jahr, dass Vespasian und Titus Jerusalem zerstört und die Juden aus ihm vertrieben haben. Mit diesem Nüsslein lass sich die Juden beißen und disputieren, solange sie wollen. Denn solcher grausame Zorn Gottes zeigt allzu deutlich an, dass sie gewisslich irren müssen und unrecht haben. Das mag sogar ein Kind begreifen. Denn so gräulich muss man nicht von Gott denken, dass er sein eigenes Volk, so lange, so gräulich, so unbarmherzig strafen und dazu still schweigen sollte, dass er es weder mit Worten noch Werken trösten und auch kein Ende dieser Zeit bestimmen sollte. Wer wollte an solch einen Gott glauben, hoffen oder ihn lieben? Darum schließt dieses zornige Werk ein, dass die Juden, gewisslich von Gott verworfen und nicht mehr sein Volk sind, er auch nicht mehr ihr Gott sei.“

Luther ist sich dessen so sicher und eine Rückkehr der Juden ins Land Israel erscheint ihm als so irreal, dass er – im „Brief wider die Sabbater“ – meint, spotten zu können. „Oder ist solches (die Einhaltung nur im Land auszuübender Gebote) bisher versäumt worden und nicht geschehen, so lasst sie künftig hingehen ins Land und nach Jerusalem, den Tempel bauen, Priestertum, Fürstentum und Mose mit seinem Gesetz aufrichten, sodass sie selbst wieder Juden werden und das Land besitzen. Wenn das geschehen ist, so sollen sie sehen, dass wir ihnen alsbald auf den Fersen sind und hinter ihnen herkommen und auch Juden werden.“

Das andere Beispiel, etwa 400 Jahre später, zeigt dieselbe Struktur. Es stammt aus einem höchst respektablen Ereignis, nämlich dem „Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933“ zwischen Karl Ludwig Schmidt und Martin Buber. Der christliche Gesprächspartner hielt es für „die allein belangreiche Frage, ob nicht damals das jüdische Volk […] sich gegen den von Gott gesandten Messias verstockt hat, danach den Mittelpunkt seiner verzweigten Diaspora durch die Zerstörung Jerusalems verloren hat und nun seitdem […] in der Zerstreuung ohne geistlichen Mittelpunkt lebt […] Jesus als der von seinem Volk abgelehnte Messias hat die Zerstörung Jerusalems geweissagt. Jerusalem ist zerstört worden, um niemals mehr jüdischer Besitz zu werden.“

Die Unbrauchbarkeit der negativen christlich-theologischen Argumentation mit der Zerstörung Jerusalems ist mit der Errichtung des Staates Israel deutlich vor Augen geführt worden. Bestärkt das nicht aber zugleich auch die Skepsis gegenüber dem Unternehmen, nun umgekehrt die Errichtung dieses Staates positiv theologisch zu deuten? Andererseits ist jedoch auch zu fragen, ob es möglich ist, diese Staatsgründung ohne theologische Kategorien angemessen zu verstehen.

3. Zur theologischen Dimension des Staates Israel

Selbstverständlich ist der Staat Israel innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft ein Staat wie andere und ist nicht mit anderen Maßstäben zu messen als andere Staaten auch. Zugleich ist aber auch das andere richtig, dass der Staat Israel offensichtlich kein Staat ist wie jeder andere auch. Die Besonderheit des Staates Israel besteht m.E. darin, dass er zugleich auch eine theologische Dimension hat. Daran kommt auch säkulare Betrachtung nicht vorbei. Dass es diesen Staat mit diesen Menschen in diesem Teil der Welt gibt, ist ohne den Bezug auf die jüdische Bibel und damit ohne deren Rede von Gott, also Theologie, nicht zu verstehen. Ich will das an drei Punkten aufweisen.

a) Da ist zuerst der Name dieses Staates zu nennen: „Israel“. Der wahrscheinlich bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, stellte kurz nach der Staatsgründung staunend fest, dass dieser Name Israel „nun so überraschend aus der Sprache der Bibel und der Kirche, aus der ‚Sprache Kanaans‘ plötzlich wieder in die Zeitung“ übergegangen ist. Der Alttestamentler Rolf Rendtorff schrieb in einem Rückblick über die Zeit der Staatsgründung: „‚Israel‘ war für mich als Alttestamentler ein Wort, das ich ständig las, aussprach und schrieb. Aber es hatte für mich keinen Gegenwartsbezug.“ Das änderte sich für ihn, nachdem der Staat Israel in sein Bewusstsein getreten war und er ihn erfahren hatte. Er konnte dann als Alttestamentler den Namen „Israel“ nicht mehr lesen, schreiben und aussprechen, ohne zugleich diesen Gegenwartsbezug zu haben. Der Name des Staates Israel knüpft an die Geschichte des jüdischen Volkes in biblischer Zeit an – und die ist theologisch gedeutete Geschichte.

b) Das Staatssymbol ist die Menora, der siebenarmige Leuchter – ein Kultgegenstand aus der Zeit des Tempels, in der Bibel ausführlich beschrieben, in wenigen Abbildungen aus der Antike archäologisch erhalten. Die berühmteste davon ist das Relief im Titusbogen in Rom, wo die Menora als Beutestück im Triumphzug des Titus den Sieg Roms und die Niederlage des jüdischen Volkes und des Endes eines Restes von eigenstaatlicher Existenz symbolisiert. Daran knüpft die Menora als Wappen des neuen Staates antithetisch an – Symbol der Überwindung von Zerstörung und Zerstreuung. Und es ist alles andere als ein Zufall, dass in Jerusalem gegenüber der Knesset, dem Parlamentsgebäude, eine große Skulptur in Form einer Menora steht mit zahlreichen Reliefs, die Szenen aus der Geschichte des Volkes Israel darstellen.

c) Staatsname und Staatssymbol sind klare Hinweise für die bewusst gewollte und vollzogene Rückbindung des modernen Staates an die in der jüdischen Bibel erzählte und gedeutete Geschichte – so säkular auch immer sich dieser Staat verstanden hat und versteht. Aber der bei weitem wichtigste Punkt ist dabei der biblische Zusammenhang von erwähltem Volk und verheißenem Land. Er wirkt sich darin aus, dass diese Staatsgründung eben nicht in Madagaskar, Uganda oder irgendwo sonst, was alles in der Frühzeit des Zionismus erwogen worden war, erfolgte, sondern eben im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, im Land Israel. Was diesem Volk Identität gibt, ist seine in der jüdischen Bibel erzählte und von dort her geprägte Geschichte; und die ist unlösbar mit diesem Land verbunden. So heißt es in der Einführung zu einem Themenheft über „Solidarität mit dem Staat Israel“: „Dass für jüdische Identität die Beziehung zum Land Israel konstitutiv ist, ist eine Binsenweisheit. Es gilt für Juden in Israel und für Juden in der Diaspora“. Und diese Beziehung ist biblisch-theologisch begründet. Gilt doch nach der jüdischen Bibel der Besitz des Landes durch Israel als von Gott verheißen und gegeben, der dessen eigentlicher Eigentümer bleibt. Ernst Ludwig Ehrlich, 1921 in Berlin geborener Diasporajude, 1943 in die Schweiz geflohen und dort 2007 gestorben, schrieb: „Die hebräische Bibel, mit der ich lebe, weist mich permanent auf dieses Land zurück, und es ist mehr als eine historische Erinnerung.“ Auch das religiöse Brauchtum hält diese Verbindung aufrecht. Es sei nur ein Punkt genannt: Jahrhunderte lang haben Juden, zerstreut in aller Welt, Pessach für Pessach immer wieder gesagt und sagen es weiter: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“

Es ist also festzuhalten: Die Verbundenheit zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel ist eine elementare Vorgabe. Sie lässt sich nur verstehen aufgrund dessen, wie die jüdische Bibel von Gott im Verhältnis zu Volk und Land redet. So frage ich: Wie sollte dann in dem Faktum, dass dieses Volk weiter existiert, zu einem guten Teil in diesem Land lebt und dort die Macht hat, durch staatliche Organisation selbst sein Leben zu gestalten, nicht ein „Zeichen der Treue Gottes“ gesehen werden? Aber müsste eine solche Aussage nicht Juden vorbehalten bleiben? Können und dürfen sie Christen machen?

4. Warum Christinnen und Christen zum Staat Israel in eine besondere Beziehung gestellt sind

In den letzten gut fünf Jahrzehnten konnte es gelernt werden, dass die Kirche nicht nur aus dem Judentum hervorgegangen, sondern bleibend auf es verwiesen ist. Dieser Bezug gehört zur christlichen Identität. Und zwar deshalb, weil der biblisch bezeugte Gott, an den in der Kirche geglaubt wird, nicht – mit Blaise Pascal zu sprechen – „der Gott der Philosophen“ ist. Er ist vielmehr „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“, der selbstverständlich als der Schöpfer Gott aller Welt ist, aber kein Allerweltsgott, sondern eben Israels Gott, der mit diesem Volk seine besondere Geschichte hatte und hat. Rainer Kampling, ein katholischer Theologe, hat deshalb formuliert, „dass die Bindung der Kirche an Israel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem signum ecclesiae wird“. Als Gott Israels gibt es Gott nicht ohne sein Volk Israel. Und wer Gott als Israels Gott ist, kann nicht von außen beschrieben, sondern nur von seinem Volk bezeugt werden. In Jesaja 43,12 heißt es in Gottesrede an Israel: „Ihr seid meine Zeugen, Spruch des Ewigen, und ich bin Gott.“ Von den Rabbinen wird das so aufgenommen: „Wenn ihr meine Zeugen seid, bin ich Gott; wenn ihr nicht meine Zeugen seid, bin ich gleichsam nicht Gott.“

Die jüdische Stellungnahme zu Christentum und Christen aus dem Jahr 2000 mit dem Titel Dabru emet („Redet Wahrheit!“) formuliert in ihrer dritten These: „Christen können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren.“ Gegenüber den ersten beiden Thesen wird hier keine klare Feststellung getroffen. Hier heißt es: Sie können – sie können offenbar aber auch nicht. Mir scheint: Die Stellung zu diesem Punkt, dem Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel, und damit zugleich die Einstellung zum – damit zwar nicht identischen, aber doch heute untrennbar verbundenen – Staat Israel ist hinsichtlich des tatsächlichen Verhaltens von Christen gegenüber Juden so etwas wie ein Lackmustest.

Die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel hat einen bestimmten Ort. Zwar lässt sich Gott nach der jüdischen Tradition mit seinem Volk in jedes von dessen Exilen versklaven, aber der Bezug auf das Land Israel ist in der Bibel und in der jüdischen Tradition fundamental. In der christlichen Tradition gibt es die Behauptung einer Beziehung zum „heiligen Land“, die am jüdischen Volk vorbeigeht und sich allein am Bezug auf Jesus festmacht. Aber eine solche Beziehung wäre eine Abstraktion, die Jesus aus seinem Volk herauszieht und ihn von ihm isoliert, die nicht wahrhaben will, dass er als Jude unter Juden wirkte, dass – wie schon Paulus sagte – „der Messias seiner leiblichen Herkunft nach“, der irdische Jesus, zu den Juden gehört (Römer 9,5).

Diese Abstraktion ist immer wieder vollzogen worden und hat aufgrund kirchlicher Macht höchst konkrete Folgen gezeitigt. Wo man aufgrund der Erzählungen der Evangelien Orte identifizierte, die mit dem Leben und Wirken Jesu besonders verbunden waren, meinte man, kirchliche Besitzansprüche auf „heilige Stätten“ erheben zu können. Als Schlaglicht dafür zitiere ich, was Theodor Herzl als Aussagen von Papst Pius X. aus einer ihm am 25.1.1904 gewährten Privataudienz berichtet: „Wir werden die Juden nicht daran hindern können, nach Jerusalem zu gehen – aber befürworten können wir das niemals. Der Boden Jerusalems war nicht immer heilig, er ist geheiligt durch das Leben Jesu Christi. Als Haupt der Kirche kann ich nicht anders sprechen. Die Juden haben unseren Herrn nicht anerkannt, darum können wir das jüdische Volk nicht anerkennen. […] Ich weiß, es ist nicht angenehm, dass die Türken unsere heiligen Stätten besitzen. Das müssen wir eben ertragen. Aber die Juden in der Erlangung der heiligen Stätten begünstigen, das können wir nicht. […] Und so, wenn Sie nach Palästina kommen und Ihr Volk ansiedeln werden, wollen wir Kirchen und Priester bereithalten, um Sie Alle zu taufen.“

Noch einmal: Die Beziehung von Christen zum Land und Staat Israel ergibt sich aus ihrer Beziehung zum Judentum. In der Handreichung der Niederländisch Reformierten Kirche von 1970 heißt es dazu: „Es geht jedoch nicht nur um die Rückkehr, sondern auch um den Staat. Die Verheißung Gottes gilt wohl der bleibenden Verbundenheit von Volk und Land, aber nicht in gleicher Weise der von Volk und Staat. […] Wie aber gegenwärtig die Dinge liegen, sehen wir einen freien Staat als die einzige Möglichkeit, die das Bestehen des Volkes gewährleistet und dem jüdischen Volk die Möglichkeit gibt, wirklich seinem Wesen zu leben. […] Darum sind wir davon überzeugt, dass der, der aus dem Glauben heraus die Wiedervereinigung von Volk und Land bejaht, unter den gegebenen Verhältnissen auch die Gestalt eines eigenen Staates für dieses Volk bejahen muss. […] Weil diese Bejahung auf dem bleibenden Band mit dem Land kraft der Verheißung gegründet ist, also letzten Endes auf Glaubensgründen beruht, kann dies in der christlichen Gemeinde keine Sache freibleibender Diskussion sein.“

Dass Israel lebt und leben soll, schließt daher nicht zuletzt auch ein, dass es in seiner staatlichen Form Bestand hat. Als ich das erste Mal Israel bereiste, war es für mich die stärkste Erfahrung, in einem Land zu sein, in dem Juden in der Mehrheit sind und in dem sie in aller Selbstverständlichkeit als ihrem Land leben. Es gehört für mich zum Bedrückendsten in der Gegenwart, dass diese Selbstverständlichkeit für viele Israelis ins Wanken geraten ist, dass es ernste Sorgen um die Dauerhaftigkeit des Staates Israel gibt. Der sicher richtige Satz, dass wir nicht verpflichtet seien, jede Maßnahme jeder israelischen Regierung für gut zu befinden, legitimiert für mein Empfinden allzu oft ein schnelles Urteilen, Verurteilen, Richten. Demgegenüber wäre zu erinnern, dass das von Paulus in 1Thess 5,21 geforderte Prüfen („Prüft alles! Das Gute haltet fest!“) seinen Referenzrahmen in der Bibel hat, die einen unlösbaren Zusammenhang zwischen Gott und seinem Volk bezeugt. Die jüdische Tradition hat das bündig auf die Formulierung gebracht: „Jeder, der Israel hasst, hasst gleichsam den, der sprach und es ward die Welt.“ Und positiv: „Jeder, der Israel hilft, hilft gleichsam dem, der sprach und es ward die Welt“. Dieser Referenzrahmen sollte also zur Empathie mit Israel verpflichten und also wenigstens zum Versuch einer Wahrnehmung von innen. Wie Hillel der Alte eine Generation vor Jesus sagte: „Urteile nicht über deinen Mitmenschen, bis du in seine Lage gekommen bist!“

Als einem Neutestamentler möge es mir erlaubt sein, zu diesem Problem etwas ausführlicher von einem neutestamentlichen Textzusammenhang auszugehen. Es gibt im Blick auf die neutestamentlichen Aussagen über Jesus als Messias ein christliches Klischee, das besagt: Die Juden hatten eine national-politische Messiashoffnung, die im Neuen Testament verneint und völlig anders gewendet worden sei. Liest man jedoch einigermaßen unbefangen etwa die ersten beiden Kapitel des Lukasevangeliums, entdeckt man, dass hier im Blick auf Johannes den Täufer und Jesus sehr massiv eine national-politische Hoffnung für Israel entworfen wird.

Bei der Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers ist dessen Wirken nach Lk 1,16–17 ausschließlich auf das Volk Israel bezogen. Wenn er „viele … zu dem Ewigen, ihrem Gott, hinwenden“ soll, geht es aufseiten des Volkes um Restitution des Bundes, der vonseiten Gottes nicht in Frage gestellt ist. Israel – und nur Israel – ist im Blick. Am Ende seiner Ankündigung der Geburt Jesu gegenüber Mirjam sagt der Engel Gabriel in Lk 1,32–33: „Der wird ein Großer werden und Sohn des Höchsten heißen. Der Ewige, Gott, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Herrschen wird er über das Haus Jakob auf immer; seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ Das ist nationale, politische Messianologie. Hier wird auf Jes 9,5f. angespielt. Wie dort wird von nicht endender Herrschaft auf dem Thron Davids gesprochen. Den alleinigen Bezug auf Israel macht die ausdrückliche Nennung „des Hauses Jakob“ unübersehbar. Bei der danach erzählten Begegnung der beiden schwangeren Frauen spricht Mirjam ein Lob Gottes. Dessen zweiter Teil macht politische Aussagen und stellt am Ende klar den Bezug auf Israel heraus. In Lk 1,51–55 heißt es von Gott: „Kraftvoll wirkt er mit seinem Arm, zerstreut die eingebildeten Stolzen, holt Mächtige von ihren Thronen herunter, erhöht die Erniedrigten, sättigt Hungrige mit Gutem, schickt Reiche mit leeren Händen fort, nimmt sich Israels an, seines Knechtes, eingedenk seines Erbarmens, wie er zu unseren Vorfahren geredet hat, zu Abraham und seinen Nachkommen auf immer.“ Die Geburt des messianischen Königs aus der niedrigen Magd (Lk 1,48), die dadurch Erhöhung erfährt, schließt die endzeitliche Erhöhung der Erniedrigten und den Sturz der reichen Machthaber schon ein. Diese Aussagen werden nicht in irgendeiner Allgemeinheit gemacht, sondern auf Israel bezogen.

Nach der Erzählung von Geburt und Beschneidung des Johannes kann der bei der Ankündigung stumm gemachte Zacharias wieder reden. Was er sagt, ist Lob Gottes. In dessen erster Hälfte heißt es in Lk 1,68–75: „Gesegnet der Ewige, Israels Gott: Denn er nimmt sich seines Volkes an, bereitet ihm Befreiung und richtet uns ein Horn der Rettung auf im Hause Davids, seines Knechtes. Wie er von jeher geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten: uns zu retten vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen; an unseren Vorfahren Erbarmen zu üben und seines heiligen Bundes zu gedenken, des Schwures, den er Abraham, unserem Vater, geschworen hat; es uns – befreit aus der Hand unserer Feinde – zu geben, dass wir ihm ohne Furcht dienen in Lauterkeit und Gerechtigkeit, vor ihm all unsere Tage.“ Wiederum ist der Bezug auf Israel evident; das politisch-theologische Ziel ist deutlich herausgestellt. Zweimal ist von der Befreiung bzw. Rettung aus der Hand der Feinde bzw. der Israel Hassenden die Rede; und als Ziel dessen gilt, Gott ohne Furcht dienen zu können. Wenn dieses Dienen näher durch „Lauterkeit“ und „Gerechtigkeit“ charakterisiert wird, geht es um ein Gott entsprechendes, seinen Geboten nachkommendes religiöses und soziales Leben in der Gemeinschaft des Volkes Israel.

Innerhalb der Erzählung von der Geburt und Beschneidung Jesu sagt der Engel nach Lk 2,10–11 den Hirten: „Habt keine Angst! Seht doch: Ich verkündige euch große Freude, die das ganze Volk haben wird. Für euch wurde ja heute in der Stadt Davids der Retter geboren: der Gesalbte des Ewigen.“ Mit der Umschreibung Bethlehems als „der Stadt Davids“ und mit den Begriffen „Retter“ und „Gesalbter“ werden hier die vorher schon gebrachten messianischen Motive aufgenommen und auf Jesus bezogen. Auch der Israelbezug ist eindeutig, wenn es von der verkündigten Freude heißt, dass sie „das ganze Volk haben wird“ – das ganze Volk Israel. (Zu Luthers Übersetzung: „… die allem Volk widerfahren wird“ …)

Die nächste Szene erzählt von der Vorstellung des sechs Wochen alten Jesus im Tempel. Hier tritt zunächst der alte Simeon auf, von dem es in Lk 2,25–26 heißt: „Er wartete darauf, dass Israel Trost erführe, und der heilige Geist war auf ihm. Und er hatte vom heiligen Geist die Zusage, dass er den Tod nicht sähe, bevor er nicht den Gesalbten des Ewigen gesehen hätte.“ Diese Zusage sieht Simeon als erfüllt an, als er den Säugling Jesus auf den Armen hält. Er gilt ihm als „der Gesalbte des Ewigen“, der „den Trost Israels“ herbeiführen wird. So sagt er in Lk 2,29: „Jetzt, Gebieter, lässt Du Deinen Knecht in Frieden sterben, wie Du gesagt hast.“ Was er dann in V. 30–32 weiter über das rettende Handeln Gottes durch dieses Kind ausführt, stelle ich vorerst zurück, weil hier ein über das Bisherige hinaus führender Gesichtspunkt in den Blick kommt. Jetzt weise ich nur noch auf Lk 2,38 hin, wo es von der Prophetin Hanna heißt, dass sie zu derselben Stunde über Jesus zu allen redete, „die auf die Befreiung Jerusalems warteten“. Jerusalem steht hier pars pro toto für Israel.

Nach diesem Überblick ist klar, welche Erwartungen Lukas bei den sein Evangelium Lesenden zu Anfang weckt: dass Jesus als der königliche Gesalbte in der Tradition Davids auftreten wird, um sein Volk Israel aus der Hand seiner Feinde zu befreien und ihm so ein Gott gefälliges Leben ohne Furcht vor Feinden zu ermöglichen. Ebenso klar ist aber auch, dass Jesus nach der Darstellung des Evangeliums diese Erwartungen nicht erfüllt hat. Weshalb ruft Lukas sie dann hervor? Um sie zu dementieren? Aber es sind doch himmlische Boten und inspirierte Menschen, die mit ihren Aussagen diese Erwartung hervorrufen. Wie geht Lukas mit ihr im weiteren Verlauf seines Werkes um? Dazu gehe ich im Evangelium nur auf zwei Stellen ein und auf eine am Anfang der Apostelgeschichte.

Lk 19,11 ist ein markanter Ort im Gesamtaufriss des Evangeliums. Jesus befindet sich auf der Reise nach Jerusalem kurz vor dem Ziel auf der letzten Station, in Jericho. Gerade wurde die Geschichte von dem Oberzöllner Zachäus erzählt, in dessen Haus sich Jesus eingeladen hatte. Bevor er von dort nach Jerusalem aufbricht, heißt es: „Als sie das gehört hatten, fügte er ein Gleichnis hinzu, weil er nahe bei Jerusalem war und man meinte, dass augenblicklich das Reich Gottes in Erscheinung träte.“ Lukas lässt hier in seiner Erzählung die Umgebung Jesu die Erwartung haben, dass mit dessen Zug nach Jerusalem das Reich Gottes komme. Auf der Ebene der das Evangelium Lesenden wird damit die bei ihnen zu Anfang geweckte Erwartung für Israel auf den Begriff „Reich Gottes“ gebracht und in der Erzählung der Umgebung Jesu zugeschrieben. Darauf folgt das Gleichnis von den anvertrauten Geldern, das die angesprochene Erwartung nicht dementiert, sondern lediglich dämpft: Es ist noch nicht an der Zeit, dass sie erfüllt wird.

Die zweite Stelle steht innerhalb der Emmauserzählung. Zwei der Schüler Jesu sind am dritten Tag nach seiner Hinrichtung auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus, auf dem Weg der Resignation. Da gesellt sich ihnen Jesus unerkannt als dritter zu. Er stellt sich im Blick auf ihr trauriges Reden dumm und lässt sich von ihnen über sich erzählen. Da bringt einer ihre enttäuschte Hoffnung so zum Ausdruck: „Und wir hofften, dass er es wäre, der Israel befreien würde“ (Lk 24,21). Da ist sie wieder deutlich ausgesprochen: die am Anfang geweckte, auf Israels Befreiung bezogene Erwartung. Im Rückblick lässt Lukas sie damit als die von Jesu Schülern durchgehaltene erscheinen. Aber nun wird sie als enttäuschte geäußert, weil die Schüler aufgrund der Hinrichtung Jesu von dessen Scheitern ausgehen müssen. Ist damit diese Hoffnung dementiert, sozusagen vom Kreuz Jesu endgültig durchkreuzt? Keineswegs. Das zeigt schon der Umstand, dass die enttäuschte Hoffnung nach dieser Erzählung dem gegenüber geäußert wird, der nicht im Tode geblieben, sondern als Lebendiger bei ihnen ist. Und so dementiert Jesus im Folgenden ja nicht diese Hoffnung, sondern er dementiert vielmehr den Grund, der die Schüler diese Hoffnung als eine enttäuschte annehmen ließ, indem er ihnen von der Schrift her zeigt, dass „der Gesalbte das erleiden und in seinen Glanz eingehen musste“ (Lk 24,26).

Dass die am Anfang des Evangeliums geweckte Hoffnung für Israel nicht dementiert wird, ist in aller Deutlichkeit am Anfang der Apostelgeschichte zum Ausdruck gebracht. Nach Apg 1,6 fragen die mit Jesus Gekommenen ihn unmittelbar vor seiner Himmelfahrt: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ Jetzt, da sie nicht mehr meinen, dass Jesus ein für alle Mal tot sei, halten sie die Hoffnung, dass Jesus es wäre, der Israel befreien würde, nicht mehr für eine enttäuschte, sondern haben sie erneut. Jetzt ist er von den Toten aufgestanden; ob er jetzt diese Hoffnung erfüllt? Wiederum dementiert Jesus diese Hoffnung nicht. Aber er sagt auch nicht ihre sofortige Erfüllung zu: „Nicht euch kommt es zu, Zeiten und Zeitpunkte zu kennen, die der Vater in eigener Souveränität festgesetzt hat“ (Apg 1,7). Dementiert wird das „Jetzt“ der Erfüllung dieser Erwartung, aber zugleich damit wird die Erwartung bestätigt, und zwar als eine, die Gott selbst zur Erfüllung bringen wird. Was den Schülern jetzt zukommt, sagt Jesus anschließend: „Ihr werdet vielmehr Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde“ (Apg 1,8). Wie verhalten sich die Aussage von der Errichtung „des Reiches für Israel“ und die Aussage von der in der Kraft des heiligen Geistes erfolgenden Sendung zueinander, die über Israel hinausgeht „bis ans Ende der Erde“? Stehen sie unverbunden nebeneinander oder besteht hier ein sachlicher Zusammenhang?

Diese Frage lässt sich von der Stelle her beantworten, die ich vorher übergangen habe. Nach der Feststellung, nun in Frieden sterben zu können, fährt Simeon fort: „Haben doch meine Augen gesehen, womit Du retten willst. Du hast es bereitet vor allen Völkern: ein Licht zur Offenbarung für die Völker und zum Glanz für Dein Volk Israel“ (Lk 2,30-32). Hier begegnen im Lukasevangelium erstmals die Völker. Sie sind nicht nur Forum des Handelns Gottes an Israel (vgl. Ps 98,2–3), sondern auch Gegenstand von Gottes Hilfe und Rettung. Lukas nimmt hier die biblische Grundunterscheidung zwischen Israel und den Völkern auf. Er hält an ihr fest und bringt doch beide Größen in einen Zusammenhang miteinander. Von dem Kind, das Simeon in den Armen hält, sagt er: „ein Licht zur Offenbarung für die Völker“. Lukas spricht mit seiner Bibel. In Jes 42,6–7 heißt es in einer Gottesrede an die im Dienst Gottes stehende Gestalt: „Ich, der Ewige, habe dich gerufen in Solidarität, halte dich an deiner Hand und behüte dich. Ich mache dich zum Bund für das Volk (= Israel), zum Licht für die Völker.“ Dieselbe Konstellation findet sich Jes 49,6, wo es am Schluss heißt, dass Gottes „Hilfe reiche bis ans Ende der Erde.“ Was Simeon hier sagt, ist von diesen biblischen Texten gespeist. Eigentümlich ist Lukas an dieser Stelle der Begriff „Offenbarung“; und eigentümlich ist der Bezug auf Jesus. Den Völkern der Welt soll also durch Jesus offenbart werden, dass Israels Gott als der eine und alleinige Gott auch der Gott aller Welt und also ihr Gott ist, der sich in dem hier beschriebenen Kind auch ihnen helfend und rettend zuwendet. Hier, wo Lukas zum ersten Mal in seinem Werk die Völker in eine positive Beziehung zu Jesus als dem Mittel bringt, mit dem Gott hilft und rettet, stellt er sofort Israel positiv daneben. Jesus ist demnach nicht nur „ein Licht zur Offenbarung für die Völker“, sondern auch und eben damit ein Licht „zum Glanz für Dein Volk Israel“. Wie passt das zusammen? Wie kann Jesus als „Licht zur Offenbarung für die Völker“ zugleich damit zum Glanz für Gottes Volk Israel werden? Ich denke, dass Lukas dabei folgende Vision hatte: Wenn die Völker durch Jesus Israels Gott als den einen Gott aller Welt und damit auch als den ihren erkennen, dann können sie doch nicht mehr Gottes Volk Israel bedrängen und bedrücken und sich feindlich gegen es verhalten. Dann müsste sich doch für Israel erfüllen, was Zacharias gesagt hatte, „dass es uns gegeben sei – befreit aus der Hand unserer Feinde – ohne Furcht Gott zu dienen in Lauterkeit und Gerechtigkeit, vor ihm all unsere Tage“ (Lk 1,73–75). Wenn das die Hoffnung des Lukas war, ist sie vom Verlauf der weiteren Geschichte bitter enttäuscht worden. Nach den Schrecken des vorigen Jahrhunderts und dem Erschrecken darüber ergibt sich mir als Konsequenz der vorgelegten Lektüre die Notwendigkeit einer theologischen und praktisch-politischen Wahrnahme Israels als des Volkes Gottes, die in die Pflicht nimmt, dazu beizutragen, dass es diesem Volk gegeben sei, befreit aus der Hand seiner Feinde ohne Furcht in eigener Identität leben zu können.

Was sich hier bei Lukas findet, hat bereits Paulus in prägnanter Kürze in Röm 15,8 zum Ausdruck gebracht. „Ich sage ja: Der Gesalbte ist Diener des Volks der Beschneidung geworden zum Erweis der Treue Gottes, um die den Vorfahren gegebenen Verheißungen zu bestätigen.“ Er stellt hier eine Beziehung des Gesalbten – und dabei denkt er natürlich an Jesus – zum Volk Israel her. Dieser ist in Bezug auf es „Diener“, hat also eine diakonische Funktion. Er vollzieht sie „zum Erweis der Treue Gottes“. Was Paulus in Röm 9–11 ausgeführt hat, wird hier auf eine knappst mögliche Formulierung gebracht: Gott hält Treue zu seinem Volk – unabhängig von dessen Verhalten, vor allem: unabhängig von seiner Stellung zum Messias Jesus. Im Gegenteil: Für diese Treue steht Jesus als Gesalbter auch noch ein. Er tut es so, dass er die den Vorfahren gegebenen Verheißungen bestätigt. Was sind die den Vorfahren gegebenen Verheißungen? Selbstverständlich diejenigen, die Paulus aus seiner Bibel kennt, nämlich vor allem die von Nachkommenschaft und Land und vom sicheren und gesicherten Leben im Land, wie es etwa an der schon zitierten Stelle im Benedictus des Zacharias heißt: „… der Eid, den Gott Abraham, unserem Vater, geschworen hat, es uns zu geben, dass wir ihm – aus der Hand unserer Feinde befreit – ohne Furcht dienen können in Lauterkeit und Gerechtigkeit vor ihm alle unsere Tage“. Als Gesalbter ist Jesus so Diener Israels, dass er solche Verheißungen nicht etwa annulliert, außer Kraft gesetzt hätte, sondern dass er sie bestätigt hat; sie gelten weiterhin unverbrüchlich. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass Paulus mit den Verheißungen nicht die Kategorie der Erfüllung verbindet, sondern der Bestätigung. Wenn von Jesus die Erfüllung der auf Israel bezogenen Verheißungen behauptet würde, ginge das nur durch deren Spiritualisierung beim gleichzeitigen Wegziehen der Israelbezeichnung vom faktisch existierenden Judentum. Beides will Paulus ganz offensichtlich nicht. Jesus als der Gesalbte hat die auf Israel bezogenen Verheißungen nicht erfüllt, aber er hat sie auch alles andere als aufgelöst; er hat sie bestätigt. Was aber heißt das für Christinnen und Christen, wenn die Gemeinde „Leib Christi“, „Leib des Gesalbten“, also messianische Verkörperung ist, wenn der Gesalbte sich in seiner Gemeinde repräsentiert? Müsste sie dann nicht seine dienende Funktion gegenüber Israel in dieser Hinsicht als ihre ureigenste einnehmen und wahrnehmen und also für die Gültigkeit und Realisierung dieser Verheißungen einstehen? Daher ist nach dieser Stelle gegenüber dem Judentum nicht Mission angesagt, sondern Solidarität, wobei es sich hier aufdrängt hinzuzufügen: Solidarität auch gegenüber dem Staat Israel.

5. „Zeichen der Treue Gottes“? „Zeichen der Treue Gottes“! 

Ich komme zurück auf die Ausgangsfrage, ob die Errichtung des Staates Israel von Christen – wie im Rheinischen Synodalbeschluss von 1980 geschehen – als ein „Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk“ bezeichnet werden kann und darf. Ich gehe diese Frage nun zum Schluss so an, dass ich Bedingungen formuliere, unter denen sie bejaht werden kann – Bedingungen, die nicht Christen an den Staat Israel richten, sondern die sie sich selbst stellen.

a) Die Frage kann bejaht werden, wenn diese Bejahung nicht dazu dient, christliche und deutsche Schuldgeschichte gegenüber dem Judentum zu überspielen und zu verdrängen. Ohne Zweifel gibt es einen Zusammenhang zwischen der versuchten und weithin vollzogenen Vernichtung des europäischen Judentums und der Errichtung des Staates Israel. Er ist für mich am eindrucksvollsten zum Ausdruck gebracht in den vier großen Skulpturen, die früher in der Eingangshalle der Gedenkstätte JadVaSchem in Jerusalem standen und jetzt dort an anderer Stelle aufgestellt sind. Die erste von ihnen symbolisiert die Vernichtungslager und die letzte den Aufbau im Land. Dieser positive Schluss darf für Christen und Deutsche die vorangegangenen Schrecken in keiner Weise relativieren und auch das nicht aus den Augen geraten lassen, was zu ihnen führte, wozu insbesondere die christliche Judenfeindschaft gehört. Rolf Rendtorff hatte formuliert: „Als Christen und als Deutsche können wir uns in unserem Verhältnis zu Israel nicht von den Belastungen unserer Geschichte frei machen. Deshalb kann Israel für uns nicht ‚ein Staat wie jeder andere‘ sein.“ Das führt zum nächsten Punkt.

b) Die Frage, ob die Errichtung des Staates Israel als ein „Zeichen der Treue Gottes“ angesehen werden darf, kann von Christen bejaht werden, wenn diese Bejahung Konsequenzen in einem von Solidarität geprägten Verhalten diesem Staat gegenüber hat. Weil und wenn Israel für Christen „nicht ‚ein Staat wie jeder andere‘ sein (kann)“, ist nicht „kritische Solidarität“ gefragt, die nur Irritationen bei denen auslösen kann, denen sie erklärt wird, sondern besondere Solidarität. Mir erscheint es jedenfalls als seltsam, dass selbst in Solidaritätsadressen gegenüber jüdischen Gemeinden und Israel in Krisenzeiten sich oft ein Stück Distanzierung zeigt, womit man nicht einverstanden ist und was zu hinterfragen wäre. Warum nur kann man bei einer Solidaritätsbekundung nichts sonst tun, als einfach Solidarität zu bekunden?

Sich für das Existenzrecht Israels auszusprechen, ist belanglos. Die Aussage: „Ich bin für das Existenzrecht Schwedens“ würde nicht nur in Schweden seltsam klingen. Der Staat Israel existiert, und das zu Recht, auch wenn es Menschen gibt – selbst in Deutschland –, die die Existenz dieses Staates bedauern und meinen, ohne ihn gebe es Frieden im Nahen Osten und keinen islamischen Terror in der Welt. Eine Aussage über das Existenzrecht Israels bekommt nur dann Relevanz, wenn sie sich klar und deutlich gegen diejenigen wendet, die Israels Existenz beseitigen wollen. Das sind Staaten, wie vor allem der Iran, und bewaffnete Organisationen, die von diesen Staaten aus- und aufgerüstet werden. Sie unternehmen es, in die Tat umzusetzen, was sie sagen. Eine diffuse Antikriegsempörung, wie sie immer wieder während bewaffneter Auseinandersetzungen Israels mit Hisbollah und Hamas verbreitet wird, vernebelt und verhindert nur die Wahrnahme dessen, dass der Staat Israel in seiner Existenz real und praktisch bedroht ist und dass er sich dagegen wehren muss. Sicher ist es angemessen und notwendig, in Friedensgebeten während solcher Auseinandersetzungen für die Bewahrung der Zivilbevölkerung und für die Opfer unter ihr zu beten. Aber müsste nicht zugleich auch dafür gebetet werden, dass die Zivilbevölkerung nicht von den eigenen Leuten als Schutzschild missbraucht wird, wie es im Gazastreifen geschehen ist, wenn Kassam- und Katjuscharaketen aus Wohngebieten heraus auf Israel abgeschossen werden? Und müsste nicht vor allem dafür gebetet werden, dass Gott denen das Handwerk lege, die Israel auslöschen wollen, dass er ihre Herzen umkehre zur Bejahung eines Zusammenlebens mit Israel, damit endlich Frieden sein kann?

Für mich kann ich nachsprechen, was Rolf Rendtorff so formuliert hat: „Meine Hinwendung zu Israel geht weit über das hinaus, was für mich jemals gegenüber irgendeinem anderen Staat denkbar wäre. … Zugleich bleibe ich aber ‚draußen‘, weil ich nicht das Geschick Israels und seiner Bewohner teile.“

c) Dass die Errichtung des Staates Israel ein „Zeichen der Treue Gottes“ sei, darf von Christen bejaht werden, wenn sie neben und nach der Aussage, dass Israel für sie kein Staat wie jeder andere ist, doch zugleich auch die andere gelten lassen, dass er ein Staat wie andere ist, und sie ihn deshalb nicht mit Ansprüchen belegen. Eine jüdische Stimme äußert sich dazu so: „Es scheint mir, dass die ganze Welt, bewusst oder unbewusst, von Israel mehr und Besseres erwartet als von jedem anderen Staat der Erde. … Allein, wenn es mir auch legitim scheint, dass das jüdische Bewusstsein von Israel ein so exemplarisches Verhalten erwartet und erhofft, so ist doch eine gleiche Erwartung gegenüber Israel seitens der Außenwelt (und seitens der Kirchen) maßlos und letztlich verdächtig oder gar anstößig. Mit welchem Recht, mit welchem Anspruch und unter welchem Vorwand dürften die anderen Staaten und Gemeinschaften von Israel mehr und Besseres als von sich selbst verlangen?“ (Jean Halperín, 1921 als Sohn russischer Juden in Wiesbaden geboren, Schul- und Studienzeit in Paris, ab 1943 in der Schweiz, dort 2012 gestorben).

Abschließend will ich – allen Widrigkeiten und Schwierigkeiten aktueller Politik zum Trotz – meiner Mitfreude Ausdruck geben, dass es diesen neuen Staat Israel nun schon bald 70 Jahre gibt, meiner Mitfreude darüber, dass jüdische Existenz damit wieder ein auch politisch selbstbestimmtes Zentrum und also auch eine Zufluchtsstätte hat, meiner Mitfreude darüber, dass Juden zu sagen vermögen, wie es Ernst Ludwig Ehrlich getan hat: „Der Staat Israel hat wesentlich dazu beigetragen, dass Juden heute wieder ein Volk des geraden Rückens und des erhobenen Hauptes sein können.“

Der Autor ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum. Der Text wurde zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.

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