Wahrheit und Zivilcourage – wie viel Reformation braucht die Kirche?

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Dr. Ladislav Beneš
Cema 9, P. O. Box 529, CZ-115 55 Prah
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Das Thema ist ein guter Anlass, ein bisschen das reformatorische Alphabet zu repetieren und zu schauen, wie wir mit Hilfe dieses Alphabets unsere Kirchen und unser Leben lesen können.

Wie viel Reformation braucht die Kirche? – lautet die Hauptfrage. Ehrlich gesagt, etwas leichter wäre es mit einer Frage wie: Wie viel Reform braucht die Kirche? Aber hier steht direkt: Reformation. Ab und zu hören wir eher auch: Wir bräuchten eine neue Reformation. Die alte aus dem 15. und 16. Jahrhundert hätte sich irgendwie erschöpft, als sei sie ein Relikt aus dem Mittelalter. Es war damals auch nicht alles gut gegangen, nicht wahr. Wir bräuchten eigentlich nur ein Stück der damaligen Reformation. Es ist in der Tat so – z.B. die Religionskriege wollen wir wirklich nicht mehr, die Plünderungen von Klöstern ist ebenso eine Schande, wie die Verfolgung der Andersgläubigen. Auch bei allem Verständnis dafür, dass die Wahrheit manchmal auch mit Waffen verteidigt werden muss.

Also – eine neue Reformation? Manchmal wünschten wir uns, irgendwie neu von Null an zu beginnen, von Anfang an und diesmal besser – mit unserem Leben, unserer Arbeit, unserer Bildung – ein Re-Start. Ein Neustart auch in der Kirche manchmal. Außerdem – ist nicht eben die heutige Vielzahl der Kirchen, die eigentlich schon zu der Zeit der Reformation ihren Anfang hat, ein Zeichen davon, dass die alte Kirche irgendwie unreformierbar war? Oder ist diese Vielzahl der Kirchen eine Antwort auf eben diese Frage: „Wie viel Reformation“? Ja, warum gibt es heutzutage hunderte von Kirchen, die untereinander nicht immer nur freundlich verkehren? Spielt dabei eben nicht gerade das Thema des heutigen Abends eine Rolle, nämlich die Frage der Wahrheit? Oder vielleicht auch der Zivilcourage? Nämlich des ethisch verantwortlichen Handelns? Es war doch öfters so, dass eine Gruppe eine Wahrheit erkannt hatte, von ihr so ergriffen wurde, dass sie sich gerade gezwungen sah, die alte Kirche zu verlassen und eine neue zu gründen. Als ein Erbe der alten Brüderunität weiß ich etwas davon.

Es gab sicher gute Gründe für Spaltungen. Aber auf der anderen Seite – wir brauchen die alte Reformation, denn der historisch erste Satz der Reformation lautet doch: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‚Tut Buße’ usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ So hatte es Luther in seiner ersten These in die Wiege der Reformation gegeben. Nicht nur einmal, zweimal, wenig oder etwas mehr Buße tun, sondern jeden Tag. Am besten wäre es „hundertmal am Tage“, schreibt Luther in der These 88. Und was für einzelne Christen gilt, gilt ebenso für unsere Kirchen und Gemeinden. Buße tun.

Aber zurück zu der Frage: Wie viel Reformation? Wenn ich das richtig verstehe, könnte man fragen: Wann ist es noch „wenig“ – wann ist es schon „zu viel“ Reformation? Oder wir könnten auch fragen: Was meinen wir mit „der Kirche“? Mit einer Paraphrase aus dem Lukasevangelium (17,21): „Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es!“ Sondern: „Die Kirche, die Versammlung aller Gläubigen ist bei denen, wo das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht wird.“ Mit anderen Worten „Wir sind Kirche“ – so lautet auch eine katholische Initiative. Wenn wir also von Reformen sprechen, dann nicht in erster Linie von Reform eines Amtes (das kommt dann auch), nicht von Strukturen und Institutionen (das kommt dann ebenso) – aber wir reden von uns selbst. Reformation heißt, sich von dem Wort Gottes re-formieren lassen und immer wieder erneuern. Erneuern zum Bilde Gottes, zum Bilde Christi. Und hier besteht keine Frage mehr – wie viel. Sondern: So viel, wie es dem Bilde Christi, nämlich der erkannten Wahrheit entspricht.

Es geht also um die Wahrheit. Was wir darunter verstehen? Mit dem Thema „Wahrheit“ ist ja Magister Jan Hus aufs Engste verbunden. In jedem tschechischen Geschichtslehrbuch könnten wir den Satz lesen: Er hat für Wahrheit gelebt und für die Wahrheit ist er verstorben. Also wie hat er Wahrheit verstanden? Einer von den viel zitierten Sätzen steht im Johannesevangelium (8,32): „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Kurz gesagt, für Hus ist die Wahrheit mit der Person und dem Werk Jesu Christi identisch. Wir können diese Wahrheit mit unserer Vernunft erkennen (aus der Schrift), aber die Wahrheit selbst übersteigt unsere Erkenntnis, ist mehr, als wir erkennen. So wie Gott größer als unsere Vernunft ist. Aber Christus, der als Mensch gekommen war, ermöglicht uns zu erkennen, was die Wahrheit Gottes ist, nämlich in der Geschichte Jesu: in seinem Dienst, in seiner Solidarität mit den Armen, in seinem Opfer. Dadurch hat er uns gezeigt, wie die Wahrheit zu verstehen ist: Eben als Dienst und Bereitschaft zum Opfer für die Nächsten und die Sünde der Welt. So kann man die Wahrheit über Gott nicht von den ethischen Folgen trennen. Wenn wir nämlich Christus erkannt hätten und dabei ihm nicht nachfolgten, weil wir es z.B. nicht für nötig oder für unmöglich hielten, bedeutete das, dass wir Gott selbst für einen Lügner halten. Die Sorge dafür, dass eben diese Wahrheit nicht geschmäht werde, führte Hus nach Konstanz. Um das Konzil von dieser Wahrheit zu überzeugen. Denn er sieht eben die vielen Missstände in der Kirche – Reichtum, Machtsucht der Kirche, zwei, dann auch drei Päpste, Ablasshandel usw. Es gelingt ihm nicht einmal, die Kirche in seinem Lande und den eigenen König zu überzeugen. Und nicht nur einmal hat Jan Hus den Gedanken geäußert: Wenn die Wahrheit nicht wahrgenommen wird und nichts bewirkt, wird die Wahrheit dadurch sehr leiden, wie der Herr selbst. Aber sie werde dadurch nicht besiegt. Denn: Die Wahrheit Gottes siegt.

Jan Hus weiß: Wir Menschen können auch irren. Diese Wahrheit ist eben nicht unser Eigentum. Auch der Kirche und dem Papstes gehört sie nicht. Sie ist außerhalb und oberhalb unserer Manipulationen und Verfügung. Hus hatte in der Realität der damaligen Kirche und Welt direkt vor Augen, dass die Wahrheit zum Schweigen gebracht werden kann, ausgelacht und mit Gewalt bezwungen wird. In den letzten Jahren hatte er geahnt, dass sein Leben selbst sehr unsicher geworden war. Aber immer wieder argumentiert er mit dem Beispiel Jesu: Auch er wurde zum Schweigen gebracht, sogar getötet. Aber doch gerade er hatte bei Gott Gnade gefunden, wurde von den Toten auferweckt. Die Wahrheit Gottes hat gesiegt.

Und wie erkennen wir diese Wahrheit? Zu den Pfeilern der Reformation gehört: Die einzige Quelle ist die Schrift. Auch für Hus. Für ihn war es eine Quelle der Freiheit. Manchmal denken wir, die Schrift ist ein hartes Gesetz, es schnürt uns ein und bedrückt uns, beschränkt uns in unserer Freiheit. Nicht so für Hus. Weil die Schrift sozusagen außerhalb liegt, außerhalb unseres Selbst, außerhalb der Kirche und ihrer Institutionen (z.B. eines Lehramtes), ermöglicht das einen freien Zugang zu der Wahrheit. Es ist eine unendliche Erweiterung unserer Erkenntnismöglichkeiten. Wir können immer von neuem anfangen, unsere Erkenntnis zu erweitern und zu vertiefen. So ist die erkannte Wahrheit frei. Es gibt keine Menschen, die zu der Wahrheit irgendwie durch ihre Ämter oder Begabungen näher stünden als andere. Und wenn wir uns irren, können wir uns besser belehren lassen. Die Schrift ist also eine sehr dynamische Norm, die zur Freiheit führt. Sich an dieser Norm zu halten, erfordert allerdings unseren inneren Mut, ja Courage. Denn – man darf nicht der Verlockung von anderen Kriterien und niedrigeren Autoritäten unterliegen. Das Studium der Schrift braucht auch sehr viel Zeit und Bildung. Die Bildung, die Entwicklung der Sprache – Muttersprache – war auch für Hus, ähnlich wie später für Luther, sehr wichtig. Es ist ja nichts Neues: Die Bildung ist das beste Antibiotikum gegen Fundamentalismen und Intoleranz aller Art.

Als ich vor einigen Jahren die Möglichkeit hatte, im Rahmen einer sehr interessanten Exkursion in eure Pfälzischer Landeskirche zu erfahren, wie viel Energie, Zeit, Menschen- und Finanzressourcen eben dem Bereich Bildung hier gewidmet wird, fand ich das erstaunlich und enorm. Man kann daran sehr gut anschaulich machen, wie der alte reformatorische Grundgedanken aktuell und intensiv weiterentwickelt und getragen wird. Ich weiß nicht, wie es in euerer Kirche und Gesellschaft ist, aber bei uns wäre es sehr schwierig, auch nur die Kosten für diese Arbeit zu erklären und zu verteidigen. Auch wenn wir es als einer von den besten Beiträgen zur Freiheit und Zukunft der Bürgergesellschaft ansehen, können wir – bei uns – nie dem Verdacht entrinnen, dass wir nur unsere Frömmigkeit pflegen, das sei nur unsere Privatsache. (Wie die drei theologischen Fakultäten an der öffentlichen Karlsuniversität, und dann noch andere theologischen Fakultäten an anderen Universitäten im Lande verstanden werden, bin ich nicht ganz sicher) Bei uns in Tschechien von der Religionsbildung öffentlich zu sprechen und sogar dafür Finanzen zu verlangen, ist ein Thema der Zivilcourage.

Jan Hus begründet die Freiheit allerdings auch noch anders: Ganz im Sinne der scholastischen Tradition spricht er von der Erwählung (Prädestination). Die Kirche ist eine Gemeinschaft der Erwählten. Aber wir wissen nicht, wer die Erwählten sind. Unter den Menschen in der Kirche sind doch viele Heuchler, und gleichzeitig: Unter den Menschen, die Jesus nur schlecht, oder gar nicht kennen, sind viele, die in seinen Fußstapfen gehen. Also – die Kirche muss so offen sein, dass jeder kommen kann. Und keine menschliche Macht – auch keine kirchliche – darf nach den Werken oder anderen äußeren Anzeichen entscheiden, wer zur Kirche gehört und wer nicht. Hus war allerdings davon überzeugt – im Sinne der damaligen Zeit – dass die zwei oder drei Päpste zur Kirche doch zu viel seien und die Grenze überschritten würde.

Die Theologie und Philosophie von Jan Hus ist sehr spannend und zeigt deutlich, dass eben die Pflege der eigentlichen Aufgabe der Christen und Kirche, nämlich der Suche nach der Wahrheit, inhärent sozial-politische Folgen hat. Es besteht ein inniger Zusammenhang zwischen der echten Theologiearbeit und der ethischen Verantwortung. Wir wollen nicht verschweigen, dass dies in der Reformationszeit auch viele unselige Folgen hatte. Bis heute gibt es Menschen, die das Christentum ablehnen wegen dieser unseligen Geschichte der Intoleranz, Spaltungen und des Verbunds mit den Reichen und Mächtigen dieser Welt. Wir können das heute erklären, aber die Fastenzeit ist auch Zeit für Buße für die Sünden der Christenheit, die für manche eine Barriere auf dem Wege zu Christus und zum Glauben sind.

Es geht dabei aber nicht nur um Vergangenheit. Es gibt heutzutage viele, die der Meinung sind, dass Christen und Kirchen zu eng mit den Strukturen und der Verfallkultur des Westens verbunden sind, ja, dass die Christen in den liberalen Staaten dafür mitverantwortlich sind. Und das ist zu bekämpfen. Auch mit Waffen. Auch wenn wir solche Anschauungen und Taten eindeutig und entschieden ablehnen, es ist erstmal kein Grund zur Empörung, eher für Buße.

Wenn von Wahrheit geredet wird, vielleicht besonders in der Kirche, meint man, dass es irgendwann doch zur Intoleranz führt. Entweder bist du mit uns oder gegen uns. Die Intoleranz den Andersdenkenden gegenüber, denjenigen, die anders glauben, die andere Wahrheit vertreten, ist manchmal groß. Heutzutage wird natürlich viel darüber diskutiert, ob es eben nicht gerade die Religionen sind, die die Intoleranz erzeugen und anheizen. Ob es also nicht besser wäre, die Religionen aus dem öffentlichen Raum ganz ins Private zu entfernen. Hier brauchen wir, glaube ich, das dritte Thema aus dem Titel dieses Vortrages: Wir brauchen wirklich viel Zivilcourage, um ganz klar und öffentlich zu sagen: Ja, die Kirche, wir Christen haben in der Geschichte, und auch in der Gegenwart ganz Schlimmes verursacht. Aber – das gehört nicht zum Wesen unserer Religion. Das kann man an Jesus veranschaulichen. Er hat die Andersdenkenden, ganz Fremde zu seinem Tisch eingeladen. Ein Kollaborateur namens Levi war z.B. unter ihnen. Jesus macht gesund, und macht gesund nicht nur die eigenen Glaubensgenossen, sondern auch die Tochter einer kanaanäischen Frau. Er macht gesund den Diener eines römischen, nicht-jüdischen Hauptmanns. Das Beispiel der Nächstenliebe ist kein Jude – sondern ein Samariter. Jesus reist, wie später seine Jünger, hin und her und zieht keine Grenze  zwischen den „unseren“ und den „anderen“, Fremden. Er verteidigt die Frau, die gerade von den besonders Gläubigen und Gerechten aus dem Volk Jesu verurteilt und gesteinigt werden soll (Joh. 8,3ff). Er ruft zur Solidarität mit den Armen, Hungrigen, Kranken. Er sendet seine Jünger, auch die Entfernten einzuladen und ihnen diese Wahrheit Gottes zu bezeugen, und möchte diese Wahrheit nicht nur für sich selbst in aller Reinheit behalten und vor Verschmutzung behüten. Diejenige, die so etwas wollen, erfahren Jesu Intoleranz und Zorn.

Die Kirche Jesu Christi braucht also so viel Reformation, wie immer es neu nötig ist, diese Wahrheit auf den Leuchter zu stellen, und sie nicht durch ihre Institutionen, Strukturen, Reden und Tun, ihre Macht und Reichtum unter einen Scheffel zu setzen. Für Hus war es klar: Das Modell für die Kirche sind die Wahrheit, Armut und Dienst Jesu Christi. Nach seiner Gestalt müsse sich die Kirche immer aufs neue re-formieren, erneuen lassen.

Ich bin nicht sicher, ob das Folgende das beste Beispiel für ihre Stadt Ludwigshafen ist, aber für uns in Tschechien ist es sehr aktuell. Nämlich: Wer weiß, ob Jan Hus heute sich aus diesen theologischen Gründen nicht eher um Fragen der Migrationspolitik, der Sorge um Senioren und kleine Kinder kümmert würde, als um Reichtum und Ablasshandel usw. in der Kirche. Wer weiß, ob gerade die Flüchtlinge nicht die Erwählten, von Gott prädestinierte sind, die Kirche zu bilden.

Es wurde doch immer wieder festgestellt, dass zum Wesen der Kirche die programmatische Unstabilität gehört, die Kirche als wanderndes Gottesvolk, „Fremdlinge und Pilger“ (1. Pt 2,11). Wir lernen es jetzt in der globalisierten Welt ganz neu, und es geht dabei gar nicht nur um ein paar kosmetische Änderungen. Es geht um ganz viel, um die Zukunft der Kirche und unseren Gesellschaften überhaupt. Die Erde, das Land, die Stabilität, dürfen wir als eine große Gabe, als ein Geschenk verstehen. Bieten wir sie auch denjenigen an, die ihre Heimat und Vaterländer verlassen mussten und Fremdlinge und Pilger geworden sind? Wer sind die Fremdlinge und Flüchtlinge? Die, die uns nur Arbeitsplätze, Lebensraum, alte Traditionen und Ordnungen und Renten wegnehmen? Oder sind es eben die, für die Jesus Christus pilgerte und unterwegs war und sein Leben gegeben hat?

Wir Tschechen wissen sehr wohl, wie uns die Fremden in der Geschichte bedrohten und alleine im 20. Jahrhundert zweimal unserer Freiheit beraubten. Aber zugleich sind besonders wir Protestanten vielleicht nicht dankbar genug, dass wir in den Zeiten, als wir geschlagen und halbtot auf der Straße lagen, eben von vielen Samaritern, aus dem Ausland, angenommen wurden. Man muss nicht nur an Exilanten wie Johann Amos Comenius und die Böhmischen Brüder denken, man kann auch an die neuere Geschichte denken. Als in der Zeit der kommunistischen Diktatur viele Fremde mit ihrer Solidarität und Opferbereitschaft die berühmten Löcher in den eisernen Vorhang gemacht haben. Manchmal bestehen diese Freundschaften bis in die heutige Zeit. Was haben wir dadurch gelernt? Was können wir davon weiter geben an die vielen Gefangenen und Totgeschlagenen auf den Wegen und an die Flüchtlinge in dieser Welt? Ich bin sehr froh, dass auch unter uns in der Kirche ein bisschen diese Willkommenskultur gepflegt wird. Sicher kann man mit Recht einwenden, man könne damit z.B. das Problem des Terrorismus und Ausländerhasses nicht ganz lösen. Aber man kann damit wieder die Löcher in den eisernen Vorhang machen, die Kultur und Atmosphäre in der Gesellschaft ändern und ebenso die Art und Weise, wie darüber geredet wird.

Dass ich die Thematik der Ausländer angesprochen habe, ist sicher kein Zufall. Ja, es ist kein neues Problem – Völkerwanderungen gab es schon immer. Aber es stellen sich diese Fragen heute ganz neu und mit einer enormen Intensität. Man kann das auch als ein Beispiel verstehen, wo Kirchen mit ihren spezifischen Erfahrungen, und von Zentrum ihrer Theologie und Wahrheitssuche her zur Änderung der Atmosphäre in der Gesellschaft sehr viel beitragen können, ja müssen.

Ich selbst bin persönlich eher mit der Problematik der Menschen mit Behinderung konfrontiert. Auf der einen Seite durch meine Frau, die in einer kleinen Tagestätte für geistig behinderte Menschen arbeitet, und dann durch das Studienprogramm „Sozialarbeit“ an unserer Evangelisch-Theologischen Fakultät in Prag. Es geht um eine andere Problematik als um Flüchtlinge, die wieder ihre eigene Geschichte hat. Vieles haben wir eben von Ihnen, hier in der Bundesrepublik, gelernt, ich selbst habe zwei wirklich unvergessliche Exkursionen direkt hier in die Ludwigshafener Werkstätten absolviert. Auch hier kann man den wirklich enormen Einsatz nur bewundern. Es ist für mich immer ein Zeichen, dass der Mensch hier wirklich nicht nach seinen Werken beurteilt wird, sondern seine Ehre und Würde liegen darin, dass er Schöpfung Gottes ist und sein Preis nicht in seiner Leistung besteht, sondern in der Leistung Jesu für ihn.

Eigentlich egal um welchen Bereich es geht: Das gilt genauso im Bereich des Gesundheitswesens wie in der Industrie, von der Sie hier in Ludwigshafen etwas wissen. Es geht, denke ich, darum, wie die Würde des Menschen bewahrt und behalten werden kann, und wie Menschen vor jeder Art der Instrumentalisierung und „Verzweckung“, vor jeder Manipulation und den Machttechnologien bewahrt werden können. Auf der anderen Seite besteht die Frage, wie wir – eben wir Christen – dieses z.B. an unsere Kinder weitergeben, wie die echte Humanität sich in Solidarität und Mitmenschlichkeit äußert. Dass es eben aus Glaubensgründen nötig ist, unsere Zivilcourage zu zeigen, und sich für z.B. schikanierte Arbeiter, heimatlose und manchmal sprachlose Ausländer oder andere Benachteiligte einzusetzen. Bei uns sind das in letzter Zeit z.B. auch alte Menschen. Oder eben Menschen mit Behinderung. Es ist unglaublich, wie die wenigen geistig behinderten Menschen von der kleinen Einrichtung, in der meine Frau arbeitet, zum politischen Wahlkampf missbraucht werden; es bilden sich da in der Stadt konkurrierende Macht- und Parteiblöcke, es gibt Konkurrenzkampf, so dass es seitens der Behörden echte Schikanierung dieser Einrichtungen gibt, von der Bürokratie gar nicht zu sprechen, wobei es ausgerechnet in diesem Bereich die niedrigsten Löhne gibt. Das Mitmenschliche ist dabei kaum noch zu erblicken. Auf der anderen Seite, genau an diesen paar behinderten Menschen zeigt es sich, wie die Gesellschaft wirklich ist. Und wie wir selbst  uns auch unter diesem Druck verhalten. Ob wir vielleicht der Verheißung gerecht werden: „Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen” (Mt 25,23). Ich glaube, in unserer säkularen Wirklichkeit sind es ganz wichtige Zeichen der Mitmenschlichkeit, die ihren Ursprung in der Wahrheit Christi haben.

Und darin können wir ebenso einen Beitrag von Jan Hus und der Reformation sehen, dass er uns mahnt, sich nicht nach dem, was wir vor Augen haben zu richten. Das klingt natürlich banal. Es ist aber zu betonen, dass das, wonach wir uns richten sollen, nichts etwas abstraktes ist, oder vielleicht eine esoterische Erkenntnisquelle, auch keine rein individuelle Norm. Manchmal denken wir, na ja, Worte sind schön, wichtiger sind die Taten. Im bestimmten Sinne ist das sicher richtig. Aber nicht hier. Auch in der Kirche wurden immer wieder Stimmen laut, dass z.B. die Theologie zu kompliziert ist, es ist eine Sache nur für Fachleute, wir brauchen die Praxis, die spricht ganz klare Worte. Leider ist es nicht so einfach. Wir werden doch immer wieder mit Fragen konfrontiert, wie z.B.: Warum kümmert ihr euch eigentlich um die Armen, Obdachlosen und Menschen mit Behinderung? Warum wird die ganze Diakonie getrieben? Um ein bisschen das Gewissen zu erleichtern? Wollt ihr mehr Wahlstimmen? Habt ihr Langeweile? Wollt ihr durch die Behinderten an europäische Finanzen kommen? Eigentlich sind es Fragen, die uns von außen gestellt werden, aber die auch uns selbst im Herzen oft beschäftigen.

Für Jan Hus war es ein Grundsatz, dass die Norm, dieses „Was-wir-nicht-vor Augen-haben“, wonach wir uns richten, für alle zugänglich und offen ist. Wir selbst können nach dieser von uns gepredigten Norm öffentlich gemessen und beurteilt werden. Und die Öffentlichkeit macht sehr oft davon Gebrauch und ist sehr sensibel, wenn  wir bei unserem kirchlichen Leben, Tun und Reden z.B. irgendwelche Hintergedanken äußern oder unechte Ziele verfolgen. Diese Norm ist die Wahrheit Christi, das Handeln Gottes an und mit uns Menschen, wie es in der Schrift dargelegt wird. Wir wollen und dürfen die Richtlinie unseres Tuns nicht geheim halten, es liegt außerhalb unserer Möglichkeiten es irgendwie zu verfälschen oder zu verschweigen, und zugleich ist es eine Quelle zur Stärkung und Erneuerung – zur re-formatio, wenn wir müde werden. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.” Es geht also darum, um diese Wahrheit zu ringen und sie in unserer säkularisierten Gesellschaft irgendwie kommunizierbar zu machen. Das müssen wir immer wieder und von neuem lernen.

Denn – es geht dabei nicht um weniger als um Freiheit. Viele Leute in unserem Lande vermeiden jede Religion und Kirchen, weil sie der Meinung sind, dadurch wird man in seiner Freiheit beschnitten. Der Raum wird durch verschiedene Vorschriften und Traditionen sehr eng gemacht. Ach, wie viel Schaden wurde Menschen durch die Gesetzlichkeit und den Moralismus eben in den evangelischen Kirchen zugefügt! Für Hus war die erkannte Wahrheit eine echte Befreiung. Keine fremde Autorität mehr, keine Angst vor Menschen, sogar vor einem Konzil und dem Tode keine Angst mehr. Es ist wirklich befreiend, die Schriften von Hus zu lesen und diese Freiheit mit ihm zu erleben. Im Unterschied zu den unmöglichsten Sachen, woran Menschen heutzutage glauben, um ein bisschen innere Sicherheit zu erreichen. Es ist eben die Wahrheit Jesu, die zur Liebe befreit.

Und diese Liebe muss konkretisiert werden. Für die alte Brüderunität war das eindeutig das Leben in konkreter Gemeinschaft, in der Gemeinde. Im Zusammenleben konkreter Kommunität bewährt sich, ob es sich um eine echte Liebe handelt. Dort wird die Wahrheit gesucht, um die Wahrheit gerungen – die Bibelarbeit hatte sehr große Bedeutung gehabt, dort wird gelebt, dass die Wahrheit nicht eine Information oder Theorie ist, sondern sucht Realisierung im konkreten Leben: In der Predigt, Vergebung, beim Abendmahl, im Dienst für Arme und Kranke. Anderenfalls ist es keine Wahrheit. Aus dieser Perspektive kann man kaum den modernen Trend bejahen: Glaube ja, aber ohne Kirche bitte. Ist der Glaube so individuell? Geht es noch um die Wahrheit Jesu?

Nein, es geht nicht um eine Gettoisierung der Kirche, wie es bei uns in den Diskussionen ab und zu abgewiesen wurde, es geht nicht um eine Pflege frommer Nischen, das wäre falsch. Aber es hat sich in unserer sozialistischen Realität wirklich bewährt, dass die konkreten Kirchengemeinden ein Raum waren, wo real vorgelebt wurde, was wir aus dem Glauben empfangen. Und das ist nie ohne Auswirkung auf die Gesellschaft, in der wir leben. Eine Kirchengemeinde zeigt doch die Art und Weise, sie ist ja geradezu eine Didaktik, wie man im Dialog die Wahrheit sucht und wie man das Leben in der Wahrheit gestalten kann.

Wir brauchen also so viel Reformation, dass diese Sachen auch viele Außenstehende erblicken und erleben können. Für viele bleibt es versteckt und undurchschaubar. Wie können wir bezeugen, dass wir als Kirche nicht auf Kosten der Gesellschaft leben und nur unser inneres Leben pflegen? Und wenn wir das tun – was natürlich sehr wichtig ist – dann kommt es der Gesellschaft nur zugute? Wie können wir bezeugen, das wir keine mittelständische, geschlossene Gesellschaft sind, die mit einer anderen, eigentlich sehr ähnlichen Gesellschaft um die Ecke konkurrieren möchte? So wird bei uns das Verhältnis zwischen den Kirchen oft gesehen.

Und hier könnte uns Jan Hus vielleicht noch eine Inspiration liefern. Er hat immer wieder betont, dass er sich von jedem Menschen durch die von diesem Menschen erkannte Wahrheit belehren lässt. Wenn es um Wahrheit geht, muss und kann also auch ganz heftig gestritten werden. (Wie wir wissen, das konnten die Reformatoren meistens sehr gut.) Wir haben das jetzt sehr oft wiederholt, aber vielleicht müssen wir das immer wieder lernen: Die Wahrheit ist doch nicht unsere Wahrheit. Sie ist nicht unser Eigentum – und mehr noch: „unser Wissen ist Stückwerk” (1. Kor 13,9). Wir müssen auf der erkannten Wahrheit nicht um jeden Preis beharren, nur um z.B. nicht in Verdacht zu geraten, dass man schwach wäre, würde man seine Meinung ändern. Christen kennen doch die Buße: eine Änderung des Lebens, die Umkehr, Erneuerung, re-formatio zum Bilde Gottes. Die Fastenzeit erinnert uns daran. Weil wir glauben und wissen, dass die Wahrheit in Christus ja er selbst ist. Und seine Wahrheit, diese Wahrheit siegt, früher oder später.

In diesem Sinne war es für Christen in Tschechien nicht schwierig, die Parole der sogenannten „samtenen Revolution“ im Jahre 1989 zu bejahen: „Wahrheit und Liebe müssen siegen über Lügen und Hass“. Der Autor war Vaclav Havel. Ja, vielleicht brauchen wir in dieser Parole das Wort „müssen“ nicht unbedingt. Aber Havel wollte damit, in Anknüpfung an die hussitische Tradition der siegreichen Wahrheit, zeigen, dass es um die Suche nach der Wahrheit in der Gesellschaft geht, nicht mehr um den Hass allen Andersdenkenden gegenüber. Nur so kann eine offene, erwachsene und demokratische Bürgergesellschaft aufgebaut werden, im Unterschied zu jeder Totalität. Es geht nicht um die Wahrheit, die wir besitzen. Jan Hus hat betont: Es ist die Wahrheit Gottes. Veritas Dei vincit. Er hat auch bis zum letzten Tag geglaubt, dass er über dieser Wahrheit mit dem Konzil diskutieren würde, also einen Dialog führen könne. Das Konzil hatte ihn wortwörtlich mundtot gemacht. Es war nicht an offenen dialogischen Strukturen der Kirche und Gesellschaft interessiert.

Man muss jedoch sagen: Die Reformation hat diese Frage auch nicht zur vollen Zufriedenheit gelöst. Spätestens seit der Reformationszeit kennen wir nämlich eine neue Geschichte der Spaltungen. Die Einheit der Kirche ist zum Problem geworden.

Wir wissen sehr wohl, dass die Spaltung – Uneinheit – der Kirchen eine der größten Barrieren für eine glaubwürdige Mission bedeutet. Viele denken dabei, dass Ringen um eine Wahrheit, ja die Wahrheit selbst fast automatisch zu Spaltungen führe. Aber man kann das auch anders sehen. Jan Hus inspiriert uns zum Dialog über die Wahrheit. Zur gemeinsamen Suche nach der Wahrheit. Es geht nicht um eine Relativierung der Wahrheit, um Kompromisse. Wir sind zur Suche nach Einheit nicht nur eingeladen, sondern gerade durch Jesus aufgefordert. Wenn wir nach einer christlichen Kirche trachten, dann muss das noch lange nicht bedeuten, dass wir unsere liturgischen Traditionen, unsere liturgischen Kleider und die Ausstattung der Kirchen wegwerfen müssten. Aber vielleicht ja, warum  nicht. Aber lehrt uns nicht gerade die moderne ökumenische Bewegung, dass es nicht darum geht, dass alle das gleiche tun und machen und glauben in einer Großorganisation Kirche, sondern dass man den Glauben etwa nach dem Modell der „versöhnten Verschiedenheit“, wie es die lutherischen Kirchen prägten, oder der „Einheit in Vielfalt“, wie es die katholische Kirche betont, realisieren könnte? Lehrt uns nicht die Erfahrung aus der ökumenischer Arbeit, dass ein Grundkonsenses in den wichtigen Fragen zugleich Freiräume für eine Gegenseitigkeit der Kulturen schafft und für die Existenz der Minoritäten? Lehrt uns nicht die ökumenische Erfahrung, dass der Andere, unser Nachbar, für uns nicht immer eine Bedrohung darstellt, sondern eher eine Bereicherung? Sind die Gaben der Anderen nicht auch für uns eine Bereicherung, oder haben wir alleine alle Gaben? Davon weiß man schon ganz viel, Gott sei Dank. Es ist, denke ich, ein Zeichen dafür, dass die echte Wahrheit nicht unbedingt zu Spaltungen, sondern zum Dialog und zum Zusammenleben führt.

Ist diese Erfahrung der Kirchen und einzelnen Gemeinden, die das erleben, nicht zugleich auch eine Inspiration für unsere Gesellschaft und die Welt? Ja, die Wahrheit, die uns befreit zur Offenheit für andere, schenkt uns hoffentlich auch Mut – Courage –, uns selbst und die Kirche zu erneuern. Und dazu brauchen wir ganz viel Reformation.

Ich denke, dass wir Christen in unserer Bürgerverantwortung dazu gerufen sind, Wahrheit und Liebe nicht für irgendwelche Symbole oder nur schöne Parolen zu halten, sondern sie mit konkretem Inhalt zu füllen. Danach zu trachten, dass die Kirche zur Kirche Jesu Christi wird. Es scheint, dass es lebensnotwendig ist für eine freie, offene und demokratische, sozial verantwortliche Gesellschaft, in der sowohl Menschen leben, die die Wahrheit lieben und volles Vertrauen zu ihr haben, als auch Menschen, die diese Wahrheit und Liebe noch nicht erkannt haben. Denen sind wir diese Liebe schuldig. In dem vollen Vertrauen, dass die Wahrheit Gottes siegt.

Dr. Ladislav Beneš ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag. Der am 18. März 2015  in der Friedenskirche Ludwigshafen gehaltene Vortrag wurde zur Veröffentlichung vorgeschlagen von D. Dr. Friedhelm Borggrefe.

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