Literaturbericht: Karl Richard Ziegert, Zivilreligion – Der protestantische Verrat an Luther

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Wie sie in Deutschland entstanden ist und wie sie herrscht, München 2013

Dr. Klaus Beckmann

Friedrich-Ebert-Ring 42, 56068 Koblenz

Manches gelernt, einige Denkanstöße erhalten, oft gestaunt – und doch steht am Ende: Schade! Schade, dass dieses wichtige Sujet so behandelt wurde, dass richtige Ansätze in Ressentiment und Mythenbildung regelrecht erstickt worden sind. Das hätte ein großes Werk werden können.

 

Ein eigentlich überfälliges Thema hat der frühere pfälzische Akademiedirektor Richard Ziegert sich vorgenommen. Es geht um den Einfluss des Protestantismus auf den bundesdeutschen Nachkriegskonsens, der da heißt: Westbindung mit Übernahme der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Prinzipien des Westens, aber unter (temporärem) Verzicht auf die nationale Einheit; Verzicht auf Revanche für die in Folge des Zweiten Weltkriegs verlorenen Gebiete – die im Zuge der europäischen Einigung dann aber großenteils wieder frei erreichbar wurden –, damit verbunden pragmatische Integration der Vertriebenen; Anerkenntnis des „deutschen Sonderwegs“ bis 1945 als Irrgang; Streben nach Aussöhnung mit den Kriegsgegnern. Kirchliche Marksteine, wenn auch stets umstritten, waren die Stuttgarter Schulderklärung, das (erste) Darmstädter Wort, die EKD-Ostdenkschrift.

Dass Ziegerts Herangehensweise heikel sein könnte, signalisiert schon der Umschlagstext: „Die Zivilreligion der Bundesrepublik ist ein gesellschaftliches Tabu. Ihre als Ergebnis der verunglückten Politisierung des Protestantismus aufgearbeitete Genese und ihr Gestaltgewinn als politischer Grundmythus der Republik zeigen, wie seit 1945 eine neue deutsche Staatsreligion herrscht: Sie erhält das Bewusstsein einer weltweit einzigartigen gesellschaftspolitischen Opferbereitschaft und Opferpflicht und sie kontrolliert dessen gesellschaftskulturelle Geltung durch den weitreichenden Ausschluss aller anderen Möglichkeiten und Meinungen.“ Spätestens mit dem nächsten Satz wird der Gedanke an Paranoia unabweisbar: „In einem jahrzehntelangen strategisch verfolgten Machtgewinn in Medien und Kultur, in Bildungsinstitutionen und Wissenschaft, in Kirchenstrukturen und Politik hat diese Zivilreligion alle Fragen nach dem Seins- und Sinngrund dieser deutschen Nicht-Nation in ihre Zuständigkeit genommen und eine religiöse Aufladung von Leitbegriffen des politischen Jargons in der Bundesrepublik erzeugt.“ Donnerwetter! Das erfordert Masterplan und generationsübergreifende Vereinbarungen. Dass das vor Ziegert niemand aufgedeckt hat! Doch nun immerhin: „Diese Studie entmythologisiert die Anfänge des ‚Experimentes Bundesrepublik‘ und begründet, weshalb der 18. Oktober 1945 das geistige Gründungsdatum der Bundesrepublik geworden ist: An diesem Tag wurde in Stuttgart das System einer in allen wesentlichen politischen Hinsichten festgelegten Funktionseinheit von Religion und Staat in Gang gesetzt, aus der die neue deutsche Zivilreligion entstanden ist.“ Manches wird hier berührt, was ein kritisches, freilich allemal bedachtsames Hinschauen verdient hätte. Doch übertönt alles ein Orkan aus aufgeblasenen Backen.

 

Von vornherein ist ärgerlich, wie Ziegert den deutschen Protestantismus des 20. Jahrhunderts auf Karl Barth und seine Anhänger fokussiert, als hätte es innerhalb der EKD-Kirchen und der Hochschultheologie nicht immer ein breites Spektrum theologischer und sozialethischer Positionen gegeben. Ziegerts offenkundige Unzufriedenheit mit dem „Experiment Bundesrepublik“ verbeißt sich in Barth, den er im Stil der Verschwörungstheoretiker wahrnimmt. In der großsprecherischen Absicht, besagtes „Experiment“ zu „entmythologisieren“,  baut Ziegert einen Mythos „Karl Barth“ auf: „Hier stehen wir auch vor einer der Türen zum ‚Versteckspiel‘ Karl Barths, das in seinen politischen Aktivitäten, geheimen Kontakten und daraus resultierenden politischen Geschäften und Abhängigkeiten offensichtlich viel umfänglicher abgeschirmt war[,] als es heute schon am Tage ist“ (S. 180). Im Klartext: Zu erkennen ist nichts, doch Ziegert ahnt’s ganz genau, dass sich wahre Abgründe auftun. Karl Barth eben… Der sei nämlich „Mitglied in einer Geheimorganisation“ gewesen, „die für die innere Abwehr im Fall einer Invasion [der Wehrmacht in die Schweiz] Vorkehrungen traf“. „Welche politischen Beziehungen wohin in das In- und Ausland damit verbunden waren, ist bis heute nicht offengelegt.“ Denkbar sei aber die „konspirative Organisation ‚Aktion Nationaler Widerstand‘“, „die mit vielen Kontakten zu den Alliierten die deutschfreundliche Politik der Schweiz bekämpfen wollte“. Dass Barth während des Zweiten Weltkriegs wegen seiner Kritik an systematischer Verletzung der Schweizer Neutralität zugunsten Nazideutschlands in der Schweizer Politik persona non grata war, bleibt ungesagt. [1]

 

Haltlos ist Ziegerts wiederholte, Falk Wagners antiquierte „Theologische Gleichschaltungs“-Theorie aufgreifende und überbietende Behauptung, Barmen verkörpere kirchliche Zustimmung zum NS-Totalitarismus: Die „Barmer Kirchenelite 1933/34“ habe sich „offen und parteilich mit einer politischen Heilsbotschaft identifiziert“ (S. 266). Zumindest die Nazis scheinen etwa Barths Schrift „Theologische Existenz heute!“ keineswegs als ihrer Sache hilfreich aufgefasst zu haben. Mit der Barth „bis 1935“ von Ziegert (S. 182) zugeschriebenen „Hitler-positiven Haltung“ verträgt es sich schlecht, dass der führende „Deutsche Christ“ in Hamburg, Franz Tügel, schon im August 1933 meinte, ein „Zu-Ende-Denken“ von Barths Position bedeute „den geraden Weg ins Konzentrationslager“. [2] Und bei einigermaßen entspannter Lektüre lässt Barmen V den Staat zweifelsfrei säkular sein, ihn „Recht und Frieden“ gewährleisten, nicht aber „Heil“, wie es sich die Nazis im Gruß zuriefen. Dies will Ziegert nicht wahrhaben, braucht er Barth doch als Erzschurken. Schade, denn für eine fundierte Kritik der zeitgeschichtlichen Rolle Barths und eine seriös in die Breite gehende Aufarbeitung diverser „Kirchenkampflegenden“ wäre längst die Zeit gekommen. Leider ignoriert Ziegert Barths distanzierte Äußerungen zur staatsfrommen Haltung der ungarischen reformierten Kirche nach 1945. Bedauerlicherweise fehlt zudem die Auseinandersetzung mit der neueren Barth-Forschung, die doch einiges von den bei Ziegert fröhlich Urständ‘ feiernden Schubladisierungen relativiert. [3] Ebenso lässt Ziegert die aktuell geführte Debatte um die deutsche Kriegsschuld 1914 beiseite. Sein Werk erreicht so nicht den Stand der Diskussion. [4]

Ziegert rezipiert die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts nach seinen Feindbildern, was stellenweise kurzweilig, jedoch mit den historischen Zusammenhängen kaum in Einklang zu bringen ist. So spricht er vom „Tross der anti-lutherischen Anhängerschaft Karl Barths“. Ein wenig Hinschauen hätte Ziegert merken lassen müssen, dass unter den namhaften, um 1900 geborenen Barth-Gefolgsleuten – mit Ausnahme Otto Webers, der aber bis 1945 im Schlepptau Emanuel Hirschs unterwegs war und erst danach zum „Barthianer“ mutierte (um sich in der von Ziegert, S. 181, wenig tiefenscharf geschilderten Boudriot-Affäre sogleich als „Wendehals“ treibend hervorzutun) – nicht nur herkunftsbedingt zahlreiche Lutheraner, sondern auffallend viele ausgewiesene Lutherkenner waren, was kein Zufall sein dürfte (Helmut Gollwitzer, Hans-Joachim Iwand, Ernst Wolf, Heinrich Vogel). Nicht ganz absurd scheint ferner der Satz einer Biografie Karl Steinbauers: „Tief durch Luther und die Theologie Karl Barths geprägt, wandte er sich kompromisslos gegen jede Vereinnahmung der Kirche durch die Nationalsozialisten und ihre antichristliche Ideologie.“ [5] Was „lutherisch“ ist, definiert sich folglich nicht durch Hirsch, Althaus oder die seinerzeitigen „Lutherdeutschen“.

Ziegerts Versuch, Barth zum totalitären Popanz aufzublasen, stellt die Geschichte auf den Kopf. Als theologisches „Schulhaupt“ konnte Barth Einfluss entfalten durch Ideen und Texte, jedoch besaß er kaum die taktische Möglichkeit, auf (Kirchen-)Politik einzuwirken. Dibelius, Dietzfelbinger, Wurm u. a. verdankten ihre Positionen sicherlich nicht Barth. Und weder er noch seine Schüler hätten verhindern können, dass ein anderer Theologe ein ansprechenderes zeitgenössisches Konzept gegen das Barthsche setzte. Faktisch ist das nicht passiert – was man nicht Barth anlasten sollte. Ziegert selbst erwähnt eine Tagung in Bad Boll im Herbst 1945, auf der Hanns Rückert, „der damals nach Emanuel Hirsch vielleicht erbittertste Feind Karl Barths“, Barth ausführlich kritisierte (S. 229). Ist Barth vorzuwerfen, wenn solcher Widerspruch kein nachhaltiges Echo erzielte? Und mit welcher ominösen Macht – außer der Plausibilität von Aussagen – soll es der „politische Moralismus von Treysa und Stuttgart“ bewerkstelligt haben, dass „jede andere Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ unterbunden wurde (S. 228)? Wie hat man es sich real vorzustellen, wenn „alles gesellschaftlich Streitige […] durch den publizistischen Filter der vom Linksprotestantismus öffentlich besetzten Zivilreligion laufen“ musste? Wer sollte Andersdenkenden untersagt haben, mit nachvollziehbaren Argumenten zu streiten – zumal Ziegert doch immer wieder Zeitgenossen mit „Minderheitsvoten“ zitiert?

 

Ziegert negiert, was seinem Konzept von dem durch „Funktionseinheit von Religion und Staat“ forcierten „ersten zivilreligiösen Glaubenssatz“ widerspricht, wonach ein Deutscher „zuallererst und dauernd wegen der deutschen Schuld Opfer zu bringen“ (S. 116) bzw. die „deutsche Schuldhaftigkeit zu erkennen, zu bereuen und die entsprechenden Strafarbeiten unter transatlantischer Aufsicht ohne Widerstand zu erledigen“ habe (S. 398f), in erster Linie die unübersehbaren national(protestantisch)en Zuckungen. Niemöller ätzte, die BRD sei „in Rom gezeugt, in Washington zur Welt gebracht“. Kurt Schumacher nannte Adenauer einen „Bundeskanzler der Alliierten“. 1949 zog die FDP, fortan über Jahrzehnte Regierungspartei, in den ersten Bundestagswahlkampf mit der Forderung: „Schluss mit Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung!“ [6] Emigranten wie Willy Brandt oder Fritz Bauer, der als einer der wenigen nicht NS-belasteten bundesdeutschen Spitzenjuristen den Frankfurter Auschwitz-Prozess durchsetzte, bekamen öffentlich vorgeworfen, sie hätten es sich im Exil gut gehen lassen, während Deutschland gelitten habe. Hetzerische Züge dieses Zuschnitts hat es, wenn Ziegert die Juden als „die einzig wichtigen“ Opfer apostrophiert (S. 58). Mit aller Vorsicht kann wohl eine „Opferhierarchie“ konstatiert werden, bei der Roma und Sinti, Homosexuelle und Zwangssterilisierte, teils auch politisch Verfolgte, unten standen, doch ist abwegig, wie Ziegert gerade die Vertriebenen als besonders Zurückgesetzte zu beschreiben.

Die Darstellung der Mentalitätsgeschichte nach 1945, in der die Deutschen unentwegt büßend in die „Geschichtsmythologie der Bundesrepublik“ hineinsozialisiert werden (S. 45), bleibt flach. Kein Wort darüber, dass sich die moralische Anerkennung des 20. Juli 1944 ebenso hinzog wie die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Ausgerechnet unter Niemöllers Einfluss verhalf die Kirche einem der schlimmsten NS-Verbrecher im akademischen Milieu, dem Mengele-Förderer Otmar von Verschuer, zur Nachkriegskarriere; anscheinend ist das nicht erwähnenswert. Das Treiben des deutschchristlichen „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ blieb so gut wie unaufgearbeitet; einer der dort Engagierten zählt zu Ziegerts Vorgängern als pfälzischer Akademieleiter. Kanzler Adenauer sprach dieweil im Bundestag vom „Weltjudentum“ als einer „großen Macht“. Die „Wiedergutmachungs“-Debatte fehlt bei Ziegert (er meidet das Thema Staat Israel – von der Bundeskanzlerin immerhin zur Frage der deutschen Staatsräson erhoben – überhaupt; wieso?). Die Linien des Linksterrorismus zum Nationalsozialismus übergeht er, obwohl doch die Feindbilder blieben: das „Bürgerliche“, Amerika, die Juden. Ein spannendes, nach Erhellung lechzendes Feld, zu dem auch antiamerikanische Moralismen der deutschen Friedensbewegung gehören.

 

Besonderes Augenmerk verdient Ziegerts Umgang mit dem Kollektivschuld-Komplex. Hier setzt er voraus, die EKD habe im Einklang mit Siegermächten und „Eliten“ eine deutsche Kollektivschuld behauptet und so die „Umerziehung“ befördert. Diese in ultrarechten Kreisen gängige Sicht hält keiner Überprüfung stand. Die Rezension der „Jungen Freiheit“ beschwört „ein kompliziertes, bis heute von offizieller Seite sorgsam kaschiertes Zusammenspiel zwischen Barth und dem amerikanischen wie dem britischen Geheimdienst, dem entsprechend durchsetzten Ökumenischen Kirchenrat (dessen Generalsekretär Visser’t Hooft Agent des OSS war) und den militärischen Stellen der Sieger. Die köderten die evangelische Kirchenleitung, die sich gerade restituierte und durchaus um ihre ‚Verstrickung‘ wusste, mit einer Art großem Persilschein, wenn sie im Gegenzug die deutsche Kollektivschuld anerkannte. Genau das geschah mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 18. und 19. Oktober 1945. Alle späteren Versuche, die Behauptungen dieses Textes zurückzunehmen oder doch zu relativieren, sind gescheitert.“ [7]

 

Dazu ist zu bemerken: Der Stuttgarter Text redet nirgendwo von „Kollektivschuld“! Die denunziatorisch angesprochenen „Behauptungen dieses Textes“ erschöpfen sich in dem Satz: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Zu mehr „Buße“ sind Deutsche nicht gedrängt worden; in kirchlichen Äußerungen finden sich zwar selbstkritische, doch nie eine Kollektivschuld der Deutschen festschreibende Voten. So sagte der bayerische Landesbischof Meiser, (kirchen)politisch ein Gegner Barths, 1949 in Dachau: „Wir denken daran, dass wir alle durch den Ungeist der Zeit, der zu diesen Gräbern geführt hat, mitschuldig geworden sind.“ [8] Seitens der Siegermächte wurde eine Kollektivschuld dezidiert nicht unterstellt. So sagt das Nürnberger Urteil gegen führende Funktionäre der I.G. Farben im Jahr 1947: „Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt.“ [9] Die Folgen des beginnenden Kalten Krieges für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen übergeht Ziegert. Insgesamt bekämpft er, der die Einwirkung der amerikanischen und britischen Geheimdienste auf die junge EKD übrigens durch einen 1940 in Nazideutschland erschienenen Zeitungsartikel erwiesen sieht (S. 201), eine Schimäre.

 

In seinem Drang, alles in Schubladen zu stopfen, klemmt Ziegert sich ein ums andere Mal die Finger. Ergötzlich die Gedankenordnung auf S. 142: Hier die „Christlich-Positiven“ = rechts = US-Republikaner, dort die „protestantisch Liberalen“ = Deutsche Christen = US-Demokraten. Zumindest Letztere dürften sich die Gesellschaft einer „liberalen“ Gruppierung, die das Führerprinzip durchsetzen und Christen jüdischer Herkunft ausschließen wollte, energisch verbeten haben. Wie verortete Ziegert da denn z. B. den prominenten Liberalen Hans von Soden, den Vorsitzenden des kurhessischen Landesbruderrates, federführend beim Marburger Gutachten gegen den „Arierparagraphen“ und Bekenntnissynodaler in Barmen? Und in der Pfalz lassen sich die DC schon gar nicht mit den Liberalen gleichsetzen; die „Positive Vereinigung“ trat hier 1933 geschlossen den DC bei, Führungspersonen wie Hans Schmidt oder Ludwig Diehl waren „positiv“ geprägt.

 

Der Untertitel postuliert einen „Verrat an Luther“. Luther kommt in dem Buch indes nicht zusammenhängend vor und fehlt auch im Register. Es fragt sich, was an Luthers Erbe Ziegert eigentlich durch Barth und die „kirchlichen Eliten“ verraten sieht. Meint er allen Ernstes, vor Aufkommen der Barthschen Theologie, namentlich unter den Bedingungen des landesherrlichen Kirchenregiments bis 1918, sei im deutschen Protestantismus die Unterscheidung der „zwei Reiche“ besser gewahrt worden als in den zum Schreckensbild aufgebauschten heutigen Versuchen, die öffentliche Wirkung und Verantwortung des Glaubens institutionell zu reflektieren? [10]

 

Man reibt sich die Augen, wenn Ziegert den „im Rückblick doch erstaunlich freiheitlichen Charakter der wilhelminischen Periode der deutschen Geschichte“ rühmt (S. 129). Wer in der Geschichte der Militärseelsorge als herausgehobener Schnittstelle von Kirche und Staat etwas bewandert ist, verbindet den Wilhelminismus mit der Instrumentalisierung des Soldateneides zu totaler (!) Loyalitätssicherung; da waren Leitungsgremien und Geistliche dem Monarchen beigesprungen, um Soldaten mit der Drohung des Verlustes ewiger Seligkeit dazu zu pressen, nötigenfalls auch auf Verwandte, ja die eigenen Eltern zu schießen. Ein norwegischer Offizier diagnostizierte in den 1890er-Jahren, die deutsche Monarchie fordere die „Seele“ ihrer Untertanen. [11] Genau das ist aber, was Luthers Zwei-Reiche-Lehre unterbinden will. Durch den 1957 zwischen der EKD und der Bundesregierung geschlossenen Militärseelsorgevertrag erhalten die in der Bundeswehr tätigen Pfarrer eine (im Praktischen immer neu zu verteidigende!) Unabhängigkeit, die es weder zuvor in der deutschen Militärgeschichte gab noch in anderen westlichen Armeen existiert. Das lässt sich im Wirkungskontext von Barmen V, doch gleichzeitig in der Linie der Zwei-Reiche-Lehre sehen.

 

Eine kritische Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Rolle des Protestantismus seit 1945 wäre durchaus wünschenswert. Ziegerts „Schuldkult“-Lamento entwertet jedoch, was er an interessanten Aspekten benennt. Vorrangig müsste aber theologisch geklärt werden, in wieweit Kirche Grund gehabt hätte, sich bestimmten gesellschaftlichen Tendenzen zu verweigern; waren frühere kirchliche Positionen theologisch „integer“ im Gegensatz zu heutiger „Anpassung“, oder war kirchliche Ordnung ehedem nicht genauso Annex gesellschaftlicher Verhältnisse? In Anbetracht des erfolgreichen politischen Weges seit 1945 – Herfried Münkler weist zurecht darauf hin, dass Deutschland heute einen mit 1914 gleichwertigen Stand als „starker Akteur in der Mitte Europas“ innehat – [12], sollte Ziegert darlegen, welche Alternative ihm vorschwebt zu einem westlich orientierten, pragmatisch versöhnungsbereiten Deutschland und einem hier flankierenden Protestantismus (wie er den Besatzern nach 1945 sicherlich nicht unerwünscht war). Wäre, wo Kirche als öffentliche Größe doch effektiv nie „unpolitisch“ sein kann – die politische Auf- und Überladung des deutschen Protestantismus begann mitnichten erst 1914, wie Ziegert meint (S. 391ff), und erreichte in den antinapoleonischen Kriegen bereits einen traurigen Höhepunkt –, eine Fortsetzung der Gott-mit-uns-Theologie der gesellschaftskritischen, an Wohlfahrt und Aussöhnung orientierten Linie vorzuziehen? Der larmoyante Grundton „Hundert Jahre deutsche Schuld und kein Ende“ (S. 386ff) überspielt Konzeptlosigkeit.

 

Indem er Barth eine Wirksamkeit zuschreibt, die nur staunen lässt, entgleiten Ziegert die Proportionen. Dass die Ostpolitik nicht nur durch die EKD-Ostdenkschrift, sondern z. B. auch durch die westdeutsche Wirtschaft gewollt und vorbereitet war, scheint Ziegert nicht wichtig zu finden. Wenn er vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Moralisierung von Politik die Gewissensfreiheit anmahnt, sollte dies nicht billig abgetan werden. Warum aber übergeht er ausgerechnet hier das Beispiel Karl Barths, der 1934 den Treueid auf den „Führer“ nur mit dem Zusatz: „Soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann“ leisten wollte? Emanuel Hirschs etwas voreilige Jubelschrift aus Anlass der dann folgenden Zwangsemeritierung Barths in Bonn („Karl Barth. Das Ende einer theologischen Existenz“) findet sich aparter Weise in Ziegerts Literaturliste.

 

Ziegert streift Punkte der kirchlichen Gegenwart, die zwar in historischer Sicht allesamt keine Neuheiten, doch mit gutem Recht „wund“ zu nennen sind: Scheu vor theologischer Unterscheidung und Absage, Moralisierung des Evangeliums, konfessorische Aufladung politischer Themen, Anbiederung an zeitgenössische Problembewältigungs-(Management-)konzepte und (unterstellte) Publikumserwartungen. Ziegerts verschwörungstheoretische Tiraden erweisen sich hier aber als Bärendienst an einer Kirche, der kritische Selbstbetrachtung gut anstünde.

 

„Querdenker“ sind für Kirche und Theologie überlebensnotwendig, gebiert „Mainstream“ doch letztlich Stillstand und Auszehrung. So darf Ziegert seit Jahrzehnten als belebende Irritation des kirchlichen Biedermeiers gelten. Beifall von unerwünschter Seite gehört zum Preis des Nonkonformismus, wobei Ziegert die Grenze zum Populistischen wohl des Öfteren mit Absicht überschreitet (S. 301: „Instinktsicher hat die Nomenklatura der Europäischen Kommission wie auch jene des Europäischen Parlaments jedenfalls die ungeheure Nützlichkeit der deutschen Zivilreligion für die umfangreiche Bedienung der Europäischen Union mit finanziellen Leistungen aus Deutschland begriffen“). [13]

 

Dem Querdenker wird indes zwangsläufig argumentativ mehr abverlangt als dem Angepassten. Irritationen nützen nur, wenn sie mehr enthalten als „Dagegen“ und methodischer Überprüfung gewachsen sind. Schade, dass dies dem vorliegenden Buch nicht gelingt, das Thema hätte es, wie gesagt, verdient. Doch Ziegerts konspirologische Konstruktion vom „jahrzehntelang strategisch verfolgten Machtgewinn“ der „Zivilreligion“ trägt insgesamt nicht. Viel zu vieles wird zurechtgebogen, zu viel ausgelassen, zu dominant sind die Voreingenommenheiten. Das Buch wirkt, als habe sein Autor sich zu oft jenem Werbespot ausgesetzt, in dem ein kleiner Eidgenosse um die Geltung seines Miniländchens strampelt. Ziegerts Bild vom Einfluss Karl Barths imaginiert eine ins Riesenhafte gesteigerte Kräuterbonbonreklame.

 

Reizvoll schiene ein öffentliches Streitgespräch der hinsichtlich ihrer zuspitzungsfreudigen Entertainmentqualität vergleichbaren Jahrgangsgenossen Richard Ziegert und Henryk M. Broder. In der kritischen Haltung zum etablierten Gedenken an die NS-Verbrechen treffen beide überraschend zusammen. Doch zeigt Broder nicht nur ironische Distanz zu der ernsten Thematik, sondern begründet den Appell „Vergesst Auschwitz!“ auch mit einer luziden Beobachtung post-nazistischer Unterströmungen. Seine Anmerkungen zum „Revisionismus der gebildeten Stände“, der jene angreife, die durch ihre Militärintervention erst wieder die freiheitliche Grundlage politischer Systemkritik schufen, [14] sollten Ziegert herausfordern.

 

[1] Vgl. Frank Jehle: Lieber unangenehm laut als angenehme leise. Der Theologe Karl Barth und die Politik 1906 bis 1968, 2. Auflage Zürich 2002.

[2] Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1, Frankfurt (Main) u. a. 1977, S. 557.

[3] Vgl. Ulrich Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001; Stefan Holtmann, Karl Barth als Theologe der Neuzeit. Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie, Göttingen 2007.

[4] http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/extras/rezensionen_details?k_beitrag=4107062 

[5] http://de.evangelischer-widerstand.de/html/view.php?type=kurzbiografie&id=39&l=de

[6] http://www.n-tv.de/politik/Die-Maer-von-der-kollektiven-Schuld-article10014216.html

[7] http://jungefreiheit.de/service/archiv/?www.jf-archiv.de/archiv13/201342101193.htm

[8] http://www.landesbischof-meiser.de/wesen-und-wirken/verhaeltnis-zur-schuldfrage.php

[9] http://lernportal.the-unwanted.com/lernstation/self/public/glossar_124.html

[10] Vgl. bes. Ziegerts Bemerkungen zum Bamberger „Masterstudiengang Öffentliche Theologie“ und dessen Berliner Pendant, S. 115ff.

[11] Vgl. Sven Lange, Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, 2. Auflage Bremen 2003, S. 78.

[12] Vgl. Herfried Münkler, Der große Krieg, Berlin 2013, S. 768.

[13] http://www.hans-pueschel.info/politik/karl-barth-verraeter-an-kirche-und-volk.html

[14] http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article129132977/Pazifismus-ist-Lifestyle-fuer-den-andere-bezahlen.html

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