Steffen Schramm
Luitpoldstr. 8, 76829 Landau
1. Evangelische Internate und Heime oder: »Auch die beste Familie kann ein gutes Internat nicht ersetzen.«2
1.1 Anzahl, Typen, Organisation
Evangelische Internate und Heime stellen einen eigenständigen Ausdruck des Lebens der Kirche dar. Mit ihrem erzieherischen Auftrag stehen sie im Kontext von Seelsorge, Verkündigung und gesellschaftsdiakonischer Arbeit der Kirche. Hinter dem Stichwort »Evangelische Internats- und Heimerziehung« verbirgt sich ein differenziertes pädagogisches Angebot, mit dem Kirchen auf die Bedürfnisse und Nöte von Kindern und jungen Menschen in besonderen Lebenslagen antworten.
Etwa die Hälfte der 120 evangelischen Grund-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien haben Internate mit zusammen ungefähr 9500 Plätzen. Einige Internate nehmen auch Grundschüler auf.3 Die 225 evangelischen Sonderschulen für behinderte und verhaltensauffällige Jugendliche sind in der Regel mit Heimen verbunden.4 Evangelische Internate finden sich auch an beruflichen Schulen und Berufsfachschulen, vornehmlich für Krankenpflege, Altenpflege, Kinderpflege Sozialpädagogik/Sozialwesen und Hauswirtschaft. Mehr als die Hälfte aller evangelischen Schulen und Internate sind vereinsrechtlich organisiert.5
Evangelische Internate und (Schüler-)Heime an allgemeinbildenden Schulen einerseits und Heime für Säuglinge, Kleinkinder, Kinder, erziehungsschwierige Jugendliche, Lehrlinge, Studenten, psychosozial und psychomotorisch Geschädigte sowie geistig und körperlich Behinderte andererseits unterscheiden sich in ihrer Konzeption und personellen Ausstattung erheblich. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vornehmlich auf Internate und Schülerheime, die mit allgemeinbildenden Schulen verbunden sind oder mit ihnen zusammenarbeiten.
In diesem Segment evangelischer Internats- und Heimerziehung können drei Typen von Internaten unterschieden werden: 1. Reine Internatsschulen mit nur wenigen oder gar keinen externen Schülern. 2. Internate, die an eine Schule angeschlossen sind. Die externen Schüler bilden die – meist überwältigende – Mehrheit. 3. Schülerheime, die mit den ortsansässigen Schulen kooperieren.6
Die Struktur dieser Heime und Internate ist unterschiedlich. In reinen Internatsschulen leben Lehrer mit ermäßigtem Deputat in einem Internatshaus mit Schülern zusammen oder sind abwechselnd für Dienste im Internat eingeteilt. In Schulen mit Internat leben meist Erzieher – in manchen Internaten auch Lehrer – und ihre Familien in familienähnlichen Gruppen mit Internatsschülern unter einem Dach.
Die Heime sind entweder nach Jahrgangsstufen unterteilt oder vertreten bewußt das Konzept der Altersmischung. Dann wohnen Schülerinnen und Schüler nach Geschlechtern getrennt von der fünften bzw. siebten bis zur 13. Klasse in einem Haus. Die Gruppengröße schwankt zwischen ca. 15 und ca. 20 Schülerinnen und Schülern.
Obwohl evangelische Internate und Schülerheime geschwisterlich miteinander verbunden sind, handelt es sich bei ihnen um »geprägte Individualitäten«. Dementsprechend gewagt ist es, in allgemeiner Weise über evangelische Internate, ihre Erziehungsgrundsätze, ihre Probleme und Chancen zu schreiben.
1.2 Evangelische Internate und Heime – pädagogische Diakonie konkret! oder: Ergänzen – Auffangen – Begleiten
Die meisten kirchlichen Internate sind diakonisch ausgerichtet und gehören – wie ihre Schulen – zum Diakonischen Werk. Kollegien und Leitungen, die sich ihres diakonischen Auftrages bewußt sind, wissen um die besonderen Belastungen, denen viele Schüler ausgesetzt sind, und engagieren sich entsprechend – oft weit über ihr Pflichtsoll hinaus.
Mit ihrer pädagogischen Diakonie erweisen sich Internate als genuin kirchliche Einrichtungen. Was viele Internatsmitarbeiter motiviert und die Grundhaltung evangelischer Internate beschreibt, kommt in den Grundsätzen des Christlichen Jugenddorfwerkes zum Ausdruck: »Jeder ist angenommen. Keiner darf verlorengehen. Keiner ist ohne Gaben.«7
»Wir wohnen in einem kleinen Dorf,« sagt eine Mutter beim Aufnahmegespräch, »unser Sohn besucht als einziger seines Jahrgangs das Gymnasium. Er hat niemanden, mit dem er am Nachmittag spielen könnte. Deshalb sitzt er nur vorm Fernseher und am Computer. Wir glauben, es würde ihm guttun, mit andern Jugendlichen zusammen zu leben.«
Internate sind Orte, an denen soziales Lernen in komprimierter Form stattfindet. In Internaten werden Erfahrungsdefizite ausgeglichen, die in Kleinfamilien oder durch ungünstige Situationen am Wohnort entstehen können. Soziales Lernen, von Schulen immer wieder eingefordert und doch nur begrenzt leistbar, findet in Internaten in verdichteter Form statt. Im intensiven Zusammenleben mit Gleichaltrigen finden junge Menschen ihre Identität. Schulisch Schwache verbessern sich, Introvertierte lernen, sich in Gruppen zu bewegen und sich durchzusetzen, Egozentrische gewinnen Einsicht in die Notwendigkeit von Regeln und lernen die Interessen von anderen Schülern (und Mitarbeitern) in ihr Denken und Handeln mit einzubeziehen. Labile stabilisieren sich, psychisch Angeschlagene erfahren Hilfe durch Psychologen, Mitarbeiter und auch durch die Gruppe, in der sie leben. Ausländische und deutsche Kinder und Jugendliche leben ohne Ansehen von Hautfarbe und Nationalität zusammen. Neben den Erziehern wirkt die Gruppe, in der ein Schüler lebt, als erzieherische Realität. Internatserziehung ergänzt die Erziehung in der Familie.
»Wenn ich nicht ins Internat gekommen wäre,« sagt Jochen, 23, Medizinstudent, »hätte ich nicht gewußt, was ich hätte tun sollen. Familiär war es bei uns damals schwierig, im Internat habe ich mich wieder gefangen. Mit meinem Erzieher und mit den Leuten aus meinem Haus verbindet mich noch heute eine tiefe Freundschaft. Ich möchte diese Zeit nicht missen.«
Internate nehmen einen wichtigen diakonischen Auftrag an Jugendlichen wahr, indem sie Familien in einer an Umbrüchen reichen, nicht unkritischen Lebensphase eine Alternative und Ergänzung zur Erziehung in der Familie bieten. In vielen Internaten kommt ein Teil der Schüler aus Familien, die durch Scheidung, Tod oder schwere Erkrankung eines Elternteils oder schwierige Geschwisterkonstellationen belastet sind. Wo familiäre Probleme auftreten, stellen sich oft auch schulische Schwierigkeiten ein, wo sich schulische Schwierigkeiten einstellen, leidet auch das Familienleben. In solchen Situationen entscheiden sich Eltern für eine Internatsunterbringung ihrer Kinder. Und in den allermeisten Fällen wird das Internat zu einem Neubeginn für die Jugendlichen und ihre Eltern. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern entspannt sich, weil schulische Probleme nicht mehr den Familienalltag sauer machen. Junge Menschen kommen aus konfliktbelasteten Familien heraus. Jugendliche, die zu Hause aufgrund starker beruflicher Eingebundenheit der Eltern weitgehend sich selbst überlassen waren, erleben im Internat die »Therapie des geordneten Alltags«8. Internatserziehung fängt Jugendliche in schwierigen Situationen auf.
»In England darf man ins Internat, in Deutschland muß man« – so wird jedenfalls manchmal behauptet. In einer Zeit, in der die Erziehung in der Familie – und sei sie noch so klein – an allgemeiner Wertschätzung zunimmt, erscheinen Elternhaus und Internat manchem als Konkurrenten. Tatsache ist aber, daß für viele Internatsschüler das Internat zeitweilig die bessere Alternative zum Elternhaus ist. Für viele Alleinerziehende, vor allem Frauen, aber auch für Witwen und Witwer, ist weitere Berufstätigkeit und damit ein Leben ohne staatliche Unterstützung nur durch eine Internatsunterbringung ihrer Kinder möglich. Und wenn eine deutsche Familie lange im Ausland gelebt hat, oder eine ausländische Familie nach Deutschland übersiedelt, dann ist die Eingewöhnung für die Kinder im Internat oftmals leichter zu bewerkstelligen als an normalen Schulen. Ausländische Kinder lernen durch das gemeinsame Leben mit Gleichaltrigen und durch unterstützende Maßnahmen die deutsche Sprache besser als zu Hause bei ihren Eltern, die selbst kein Deutsch können. Internate begleiten Jugendliche auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden.
1.3 Pädagogische Angebote der Internate oder: Persönlichkeit entwickeln – Verantwortung übernehmen – Lernen lernen
Internate bieten Schülerinnen und Schülern anderes und mehr, als eine Erziehung in der Familie und an normalen Halbtages- oder Tagesschulen leisten kann. Gerade in einer Zeit der Ein-Eltern-Ein-Kind-Familie bzw. Zwei-berufstätige-Eltern-Ein-Kind-Famile machen Jugendliche in einem Internat wertvolle persönliche Erfahrungen im Umgang mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen, die im späteren Leben vorteilhaft sind. Internate setzen einen Contrapunkt zu gesellschaftlichen Entwicklungen der Vereinzelung. Sie fördern und begleiten Jugendliche in einer schwierigen Lebensphase der Identitätsfindung mit einem eigenständigen Erziehungsangebot, das die Erziehung in der Familie ergänzt, strukturbedingte Erziehungsdefizite von Kleinfamilien ausgleicht und biographisch belasteten Jugendlichen eine neue Chance gibt.
Ziel der pägdagogischen Arbeit im Internat ist die Stabilisierung und Unterstützung der Entwicklung der Persönlichkeit auf dem Weg des Erwachsenwerdens sowie die Förderung von Verantwortungsbereitschaft für andere. In einer Zeit, die durch wachsende Individualisierung und Privatisierung gekennzeichnet ist, üben Internate Solidarität und gemeinsames Leben ein.
»Ich war auch auf dem Internat«, sagen viele Väter und Mütter bei Aufnahmegesprächen, »und es hat mir sehr gut getan. Aber damals war das noch ganz anders, alles war noch viel strenger und wir waren zu fünft auf einem Zimmer.« Manche Väter berichten noch von Schlafsälen, die der zuständige Erzieher durch eine Glasscheibe jederzeit beobachten konnte.
Doch diese Zeiten sind vorbei. In evangelischen Internaten und Heimen leben Schülerinnen und Schüler in der Regel in Zweibettzimmern zusammen, oft auch in Einzelzimmern. Klare Regeln gibt es immer noch, aber die sind diskutierbar und auch veränderbar.
In evangelischen Internaten übernehmen Schüler Verantwortung für die Gestaltung des gemeinsamen Zusammenlebens. Sie engagieren sich in Gremien (Internatsrat, Internenvertretung, Essensausschuß), als Haussprecher oder als Helfer, die Verantwortung für das Leben im Haus und für jüngere Schüler übernehmen. Sie sind zuständig für die Sauberkeit im Haus, die Pflege des Biotops oder das Einsammeln des monatlichen Beitrags für das indische Patenkind. Auf Hausversammlungen lernen Jugendliche, die Konflikte des täglichen Zusammenlebens zu lösen und Spannungen auszuhalten. Sie beratschlagen, welche Regeln für das gemeinsame Leben gelten sollen und wie Probleme gelöst werden können. An vielen Internatsschulen in evangelischer Trägerschaft werden den Schülern, internen und externen, mehr Mitbestimmungsrechte zuerkannt als an staatlichen Schulen.
Internate bemühen sich, daß ihre Schüler ‘das Lernen lernen’. Dies geschieht zum Teil in speziellen Kursen, zum größeren Teil aber durch Lehrkräfte der Schulen, die bei der Hausaufgabenbetreuung mithelfen und sich individuell um die Jugendlichen kümmern.
Um die Persönlichkeitsentwicklung ganzheitlich zu fördern und einen Ausgleich zur weitgehend intellektuellen Ausbildung in der Schule zu schaffen, bieten Internate eine Vielzahl von Arbeitsgemeinschaften aus dem musischen, sportlichen und handwerklichen Bereich an. Theater, Chor und Musik spielen an vielen Internatsschulen traditionell eine wichtige Rolle. An einigen Schulen mit Internat werden diakonische Praktika oder Diakonie als Fach angeboten. Viele Anlässe dienen dazu, die eigenen Fähigkeiten zu erproben, Talente herauszufordern und neue Entdeckungen mit sich und anderen zu machen; angefangen bei der Organisation gemeinsamer Feste und Tanzverantstaltungen über Hilfsprojekte, der Organisation einer Ausstellung oder einer Fahrradtour, bis hin zum eigenständigen Durchführen von Sport-AGs, Turnieren (Sport, Schach, Dart etc), Computerkursen und ähnlichem.
In vielen Internaten ist der regelmäßige Besuch und die Mitarbeit an der Gestaltung von Gottesdiensten, Andachten vor dem Frühstück, am Gebet vor und nach den Mahlzeiten verpflichtend. In andern Internaten sind diese verpflichtenden religiösen Formen seit Ende der sechziger, anfang der siebziger Jahre durch freiwillige Angebote ersetzt worden. Viele Internatsleiter sind traditionellerweise Pfarrer. Sie leisten auch seelsorgerliche Arbeit und runden die pädagogische Arbeit durch Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit religiösen Fragen ab.
Trotz der unbestreitbaren Verdienste an vielen Jugendlichen ist die Situation evangelischer Heime und Internate nicht ohne Schwierigkeiten. Zum einen sind da die ehemaligen SchülerInnen und ihre Eltern, die dankbar auf die Zeit in »ihrem« Internat zurückblicken. Gemeinsames Leben in einem Internatshaus mit Mitschülern und dem Erzieher über mehrere Jahre, gute Begleitung durch Mitarbeiter und Lehrer begründen oftmals ein Gefühl der Verbundenheit, das über Jahrzehnte anhält. Zum andern drohen Heime und Internate mancherorts in eine Randposition zu geraten, die ihnen auf Dauer abträglich ist.
Evangelische Internate und Heime standen schon immer im Schatten ihrer Schulen, sofern die Schulen keine reinen Internatsschulen waren. Für die pädagogische und theologische Forschung waren kirchliche Schulen in den vergangenen Jahrzehnten wenigstens ein Thema von marginalem Interesse, Internate und Heime dagegen fanden kaum Beachtung. Evangelische Schulen profitieren von steigenden Schülerzahlen und partizipieren am allgemeinen Trend zu Privatschulen. Internate kämpfen ums Überleben. Manchmal vergeblich. Dabei waren viele Internate die Keimzellen ihrer Schulen.
2. Zur Geschichte evangelischer Internate und Heime
Die Wurzeln evangelischer Heime und Internate reichen ins Mittelalter zurück. Klosterschulen mit Internat sind der Ursprung von Schülerheimen, bzw. Internatsschulen, aus den Heimen für Waisen und arme Kinder (»Findelhäuser«) entwickelten sich die heutigen sozial- und heilpädagogischen Heime.9
Vor dem 17. Jahrhundert gab es nur wenige Internate in evangelischer Trägerschaft. Einige protestantische Fürsten veranlaßten in der Reformationszeit die Einrichtung von Internatsschulen in leergewordenen Klöstern. Die evangelischen Internatsschulen in Blaubeuren und Maulbronn (Württemberg) sowie Pforta, Meißen (Sachsen) und Meisenheim (Rheinland-Pfalz) gehen auf diese Zeit zurück.
Im Pietismus und dann im 19. Jahrhundert wurden viele neugegründete evangelische Schulen als Internatsschulen konzipiert. Die Gründe dafür waren pädagogischer, sozialdiakonischer, aber auch missionarischer Art.
Für August Herrmann Francke (1663-1727) stand die Gemütsbildung seiner Internatsschüler »zu einer lebendigen Erkenntnis Gottes und Christi und zu einem rechtschaffenen Christentum«10 im Mittelpunkt der Bildungsbemühungen. Programmatisch weist der Titel seiner Schrift »Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind« (1702) auf die Zielsetzung seiner pädagogischen Bemühungen hin. Der eigentliche Anlaß für die Gründung eines Internates war für Franke allerdings ein seelsorgerlich-diakonischer: Nachdem er 1695 eine Armen-Schule gegründet hatte, richtete er kurz darauf ein Internat für Waisenkinder ein.11 Weitere Internate für adelige und bürgerliche Kinder folgten. In diesem Kernbereich seiner »Anstalt« ging es ihm darum, »die leibliche und seelische und vor allem die sittlich-religiöse Not seiner Mitmenschen zu lindern.«12 Innerhalb von drei Jahrzehnten entwickelte sich das »Waisenhaus zu Glaucha an Halle« zu einer vielgestaltigen Bildungseinrichtung mit einer beeindruckenden Zahl von Lehr-, Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. Als Francke 1727 starb, arbeiteten und lebten ungefähr dreitausend Schüler, Lehrer und Betreuer in seiner Anstalt13, in der das Leben geprägt war von einer genauen Reglementierung des Tagesablaufs und einer Strenge, die von den betreuten Kindern als Lieblosigkeit empfunden werden konnte.14 Neben der Erziehung zur »Gottseligkeit« war die Erziehung zu »christlicher Weisheit« sowie zu »Zucht, Ordnung und Fleiß«15
Ziel der pädagogischen Arbeit in Franckes Anstalten. Auch im 19. Jahrhundert waren es vor allem sozialdiakonische Gründe und der Wunsch, ganzheitlich zu erziehen, die zur Einrichtung von Internatsschulen führten. Nun bemühte man sich allerdings, durch eine familienähnliche Gestaltung der Gruppen den Anstaltscharakter der Einrichtungen zu überwinden. Das Heim sollte – so Heinrich Pestalozzi – eine »Stätte der Geborgenheit« sein. Statt Zwang sollte Freiheit herrschen, statt Dressur fröhliche Geborgenheit, statt Gewöhnung eigenverantwortliche Tätigkeit des Jugendlichen.16 Diese Gedanken wurden von der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts aufgenommen und fanden Eingang in das Modell des Rettungshauses. Die Rettungshausbewegung war nach den napoleonischen Kriegen als Reaktion auf die Not vieler Jugendlicher in sozialdiakonischer und missionarischer Absicht entstanden. Kinder und Jugendliche aus zerstörten Familien sollten im Heim familiäre Atmosphäre erfahren.
Mit der Gründung des Rauhen Hauses in Hamburg 1833 nahm Johann Hinrich Wichern (1808-1881) den Rettungshausgedanken auf und wandte sich der verwahrlosten städtischen Jugend zu. Das Familienprinzip, die Arbeitserziehung und die christliche Zielsetzung waren bezeichnend für diese Heime. Verwahrloste Jugendliche aus armen und zerstörten Familien wurden von der Straße geholt, durch Bildung auf ein eigenständiges Leben vorbereitet und zum christlichen Glauben geführt. Dabei galt allerdings der Grundsatz: »Alle Erziehung ist nur ein Angebot«(Wichern).17 Die Waisen- und Rettungshäuser sind die Vorläufer der heutigen sozialpädagogischen Erziehungseinrichtungen.
Viele der nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereröffneten und neugegründeten kirchlichen Schulen waren zunächst fast reine Internatsschulen. Dem Votum der »Kammer für Erziehung und Unterricht der Bekennenden Kirche« vom 29./30.4.1943 und der Nachkriegsdiskussion über kirchliches Bildungsengagement entsprechend, wollte die evangelische Kirche nicht nur im staatlichen Bildungswesen Mitverantwortung übernehmen, sondern aufgrund der Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus auch mit eigenen Schulen einen Beitrag zum Erziehungswesen leisten.18 Diese Schulen sollten aus dem Geist des Evangeliums heraus erziehen und eine ganzheitliche Bildung gewährleisten. Waren kirchliche Internate zusammen mit ihren Schulen bis dahin hauptsächlich von kirchlichen Vereinen und Werken gegründet und getragen worden, so engagierten sich jetzt auch Landeskirchen als Träger neuer Internatsschulen. Mit ihren neuen Bildungseinrichtungen boten sie einerseits Flüchtlingskindern und Jugendlichen aus schulisch unterversorgten ländlichen Regionen die Möglichkeit höherer Schulbildung. Andererseits wollten sie in ihren Schulen eine echte christliche Gemeinschaft verwirklichen. Internatsschulen schienen dafür die geeignete Form darzustellen, verbanden sie doch Leben und Lernen, Lehrsaal und Heim auch personell in idealer Weise: Lehrer, die am Vormittag die Schüler unterrichteten, waren für den Rest des Tages und am Wochenende für die Betreuung im Internat zuständig. In vielen Fällen wohnten sie mit den Schülern in einem Internatshaus zusammen, das sie leiteten. Diese Schulen wollten nicht »Institute« oder gar »Anstalten« sein, sondern »Heime«; hierin beeinflußt von der Tradition der Landerziehungsheime (vgl. die »Heimschule am Trifels«, heute »Trifelsgymnasium mit Internat für Jungen und Mädchen«)19, die nach dem zweiten Weltkrieg stark in die evangelischen Internate hinein wirkte.20
Mit der Bildungsreform anfang der siebziger Jahre traten jedoch Veränderungen ein, die die Situation von evangelischen Internaten und Heimen tiefgreifend veränderten und noch heute bestimmen21: Die Internatsschülerzahlen gingen zurück, das Verhältnis der Internate zu ihren Schulen änderte sich, eine neue Schülergeneration hielt Einzug. Begleitet wurde diese Entwicklung von gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die Stichworte Wertewandel, Individualisierung, aber auch Globalisierung der Märkte und Bedrohung der Schöpfung markiert werden. Die seit Mitte der siebziger Jahre eingetretenen Veränderungen prägen die aktuelle Situation evangelischer Internate und sollen im folgenden in einer idealtypischen Skizze dargestellt werden.
3. Zur aktuellen Situation evangelischer Internate und Heime – eine idealtypische Skizze
a) Rückgang der Internatsschülerzahlen: Das im Zuge der Bildungsreform dichter werdende Netz an weiterführenden Schulen sowie das Fehlen einer Gesellschaftsschicht, die Internatserziehung bewußt bejaht, führte seit Mitte der siebziger Jahre zu einem kontinuierlichen Rückgang der Internatsschülerzahlen, der auch während des wirtschaftlichen Booms in den 80er Jahren anhielt. Dieser rückläufige Trend wurde verstärkt durch die seit anfang der neunziger Jahre schwierigere volkswirtschaftliche Situation mit steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden Realeinkommen.22 Die damit einhergehenden finanziellen Schwierigkeiten der kirchlichen Träger verschärfen die Situation der Internate nochmals. Gleichzeitig dürfte der aktuelle Trend zu mehr Ganztagsschulen die Situation der Internate weiter erschweren, weil dann ein Teil der bisherigen Internatsschülerschaft auch ohne Internat versorgt werden kann.
b) Veränderung der Internatsschülerschaft: Waren kirchliche Internate und Heime bis Mitte der siebziger Jahre vor allem von begabten Schülern aus ländlichen, schulisch unterversorgten Gebieten sowie Flüchtlingskindern besucht worden23, so nutzte diese Klientel die Vorteile eines enger geknüpften schulischen Versorgungsnetzes und besuchte nun die neuen, wohnortnahen Schulen. Die Schülerschaft der Internate veränderte sich. Internate und Heime wurden für Schüler interessant, die im staatlichen Schulwesen gescheitert waren. Schulische Leistungsschwäche und eine belastete Biographie gehören seitdem mit zu den Gründen, ein Internat zu besuchen. Das Hauptinteresse der Eltern liegt in einer schulischen Verbesserung ihrer Kinder. Von Internaten wird erwartet, daß sie familiäre, persönliche und schulische Probleme bearbeiten, damit die Schüler im Extremfall bereits nach ein oder zwei Jahren wieder vom Elternhaus aus eine Schule besuchen können.
c) Aus Internatsschulen werden Schulen mit Internat: Gleichzeitig wuchsen die einst reinen Internatsschulen. Die Zahl der externen Schüler stieg und übertraf bald die der internen Schüler. Aus Internaten mit Schulen, aus »Heimschulen«, wurden Schulen, die auch ein Internat haben. Das Internat als Keimzelle der Schule wurde zu einer Minderheit im eigenen Haus, die in ungünstigen Fällen mehr als Belastung denn als Aufgabe empfunden wurde. An vielen Schulen mit Internat ist heute das Verhältnis interne-externe Schüler 1 zu 5, an manchen Schulen 1 zu 10. Nicht wenige Internate mußten bereits schließen, andere wurden in Tageseinrichtungen umgewandelt.
d) Strukturelle Probleme der Zusammenarbeit von Schule und Internat: Im Zuge dieser Entwicklungen lockerte sich die personelle Einheit von Schulen und Internaten. An manchen Schulen löste sie sich fast ganz. Lehrer arbeiteten nun nicht mehr als Heimleiter im Internat. Satt dessen wurden für die Betreuung am Nachmittag und Abend Erzieher und Sozialpädagogen eingestellt, in manchen Fällen auch Lehrer oder Theologen, die nicht mehr oder nur noch mit geringem Deputat in der Schule tätig waren. Lehrer halfen bestenfalls noch bei der Hausaufgabenbetreuung mit. Die erheblichen Unterschiede zwischen Schule und Internat in Struktur, Arbeitsweise und Rollenverständnis der Mitarbeiter, die bisher durch die personelle Einheit Lehrer/Erzieher überbrückt worden war, trat nun zutage: »Die Schule zeichnet sich aus durch zielbezogenes, organisiertes, methodisch angeleitetes Lernen in Lernpflichtgruppen und in einer simulierten, gestellten Situation. Der Lehrer geht mit seinen Forderungen auf die Schüler zu. Das Heim übernimmt die Funktion der Familie oder der sozialen Bezugsgruppe…..Analog zur Familie zeichnet sich das Lernen im Heim aus als nicht organisiertes aber lebens- und situationsbezogenes, auf freiwilliger und spontaner Basis sich vollziehendes Lernen…….Leitbild des Erziehers sollte nicht der Lehrer, sondern sollten die Eltern sein.«24
Die Lockerung oder Auflösung der personellen Einheit von Schule und Internat führten seit Mitte der siebziger Jahre zu Divergenzen im Verhältnis beider Teileinrichtungen.25 Eine verringerte Identifikation der Schule mit dem Aufgaben des Internates war in vielen Fällen die Folge. Waren Kommunikation über einzelne Schüler, Erfahrungsaustausch und gegenseitiges Verständnis von Schule und Internat vorher durch die personelle Einheit gewährleistet, so wurde dies nun zu einer manchmal nicht einfach zu bewältigenden Aufgabe. Wer nicht selbst über Internatserfahrung verfügt, kann nur schwer eine angemessene Vorstellung von den Arbeitsabläufen, der Lebenssituation der Schüler und der Arbeitssituation der Mitarbeiter entwickeln. Durch die personelle Trennung von Schule und Internat wird der Informationsaustausch über einzelne Schüler und die Beratung pädagogische Maßnahmen aufwendiger. Die Lösungsmöglichkeiten schwanken zwischen den »kurzen Gesprächen zwischendurch« und regelmäßigen Konferenzen. Internate sind auf eine gute Zusammenarbeit mit Schulen angewiesen, weil in den allermeisten Fällen die schulische Verbesserung der Jugendlichen die Kernleistung ist, die Eltern von einer Internatsunterbringung ihrer Kinder erwarten.
e) Unterschiedliche gegenseitige Erwartungen von Schule und Internat: Die Aufnahme »schwieriger« Schüler ins Internat und die Verminderung des Anteils von Internatsschülern an der Gesamtschülerzahl einerseits, das geringere personelle Engagement der Lehrer im Internat andererseits führten dazu, daß Schulen an ihre Internate hauptsächlich die Erwartung herantrugen, das Internat müsse die schulischen Rückstände und die Verhaltensprobleme der zum Teil als Belastung des Unterrichts empfundenen Internatsschüler möglichst schnell aufarbeiten. Internatsmitarbeiter machen demgegenüber die Erfahrung, daß manche Schüler vor den Ansprüchen der Lehrer und Eltern geschützt und persönliche Stabilisierung und Vertrauensbildung erreicht werden müssen bevor schulische Leistungsanforderungen gestellt werden können.
f) Die Lehrer der Schule, vor allem des Gymnaisums, werden im Gefolge der Bildungsreform primär als Fachwissenschaftler ausgebildet, die curriculare Lernziele zu erreichen haben. Die erzieherische Funktion des Lehrers tritt dahinter zurück. Ein Internat braucht aber Lehrer, die sich auch als Erzieher verstehen.26
Die soeben skizzierten Entwicklungen sind an kaum einer kirchlichen Internatsschule spurlos vorbeigegangen. Durchaus unterschiedlich ist aber die Art und Weise des Umgangs mit den veränderten Rahmenbedingungen.
Manche Schulen haben ihre Internate mit Erfolg in Tagheime umgewandelt oder ein verringertes Internatsangebot (z.B. nur noch für die Oberstufe) durch ein Tagheimangebot ergänzt. Andere Internatsschulen stellen das Internat weiterhin in den Mittelpunkt ihrer konzeptionellen Überlegungen, ihrer pädagogischen Schwerpunktbildungen und werberischen Aktivitäten. Dies wirkt sich auf Fortbestand und Qualität der Internatsarbeit äußerst positiv aus. Wiederum andere Schulen haben den beschriebenen Umfeldänderungen nicht gegengesteuert, was in einigen Fällen zur Schließung von Internaten geführt hat.
4. Herausforderungen und Perspektiven
Die veränderten Rahmenbedingungen stellen für Internate und Heime eine pädagogische und ökonomische, aber auch eine theologische Herausforderung dar.
4.1 Theologische Aspekte
Mit der Lockerung, in manchen Fällen der weitgehenden Auflösung der Einheit von Schule und Internat drohen beide Teileinrichtungen auch ihre theologische Sinnmitte zu verlieren. War es früher das Spezifikum kirchlicher Internatsschulen, daß in ihnen Jugendliche ganzheitlich auf der Basis des Evangeliums erzogen werden sollten, so gerieten kirchliche Schulen in den Sog der staatlichen Schulentwicklung, während Internate stärker pädagogisch-diakonische Aufgaben wahrnahmen, die von den Schulen nur in begrenztem Maße mitgetragen wurden. Für beide Einrichtungen ist es heute nicht leicht, auf die veränderte gesamtgesellschaftliche und pädagogische Lage eine pädagogische und organisatorische Antwort zu finden, die überzeugend als evangelische transparent gemacht werden kann. Die theoretischen und praktischen Bemühungen der letzten Jahre um eine Schärfung des christlichen Profils kirchlicher Schulen darf wohl als Reaktion auf dieses Phänomen verstanden werden. Die Internate und ihre faktische bzw. potentielle Rolle blieben in diesem Zusammenhang allerdings außer acht.27 Dabei halten Internate in besonderer Weise das Bewußtsein wach, daß kirchliche Schulen zum Dienst an jungen Menschen da sind und dem ganzen Menschen zu dienen haben, nicht nur seinen schulischen Leistungen. Wenn Hans-Joachim Schwager konstatiert, kirchlichen Schulen müsse es um »Glaubwürdigkeit« gehen, dann gilt dies auch für kirchliche Internate und Heime. Unter »Glaubwürdigkeit« versteht er allerdings »nicht den Widerspruch von Handlungswirklichkeit und Selbstbild, sondern die Übereinstimmung bzw. den Widerspruch von Handlungswirklichkeit und der Erzählung vom gekreuzigten Jesus. Denn dieses sagt das Adjektiv ‘christlich’, ‘evangelisch’, ‘diakonisch’ immer aus, daß die Einrichtung gemessen werden will an der Erzählung von dem gekreuzigten Jesus.«28
Evangelische Internate tun aus theologischer Sicht gut daran, Angebote für Schülerinnen und Schüler zu machen, die im staatlichen Schulwesen nicht ausreichend gefördert werden. Das können biographisch belastete Jugendliche genauso sein wie Hochbegabte. Hilfe für – in welcher Art auch immer – Hilfebedürftige zu bieten, ist theologisch geboten. Wird Internatsarbeit in diesem Sinne verstanden und betrieben, dann trägt ein Internat wesentlich zur Schärfung des kirchlichen Profils einer Schule bei, dann wird das Internat in nicht wenigen Fällen erst die kirchliche Trägerschaft von in theologischem Sinne profillosen kirchlichen Schulen rechtfertigen.
Träger evangelischer Internate werden die Frage beantworten müssen, aus welchen (theologischen!) Gründen und mit welchen Zielen sie ein Internat unterhalten. Es wird sich dann schnell herausstellen, daß diese Frage auch die Schulen tangiert. Neue Gesamtkonzepte für Schulen und ihre Internate sind aber nicht nur theologisch, sondern auch pädagogisch geboten.
4.2 Pädagogische Aspekte
Gemeinsame Konzepte von Internat und Schule
Aufgrund der skizzierten strukturellen Veränderungen ist es schwieriger geworden, eine gemeinsame pädagogische Linie in Schule und Internat zu finden. Möglich ist dies nur, wenn sich Schule und Internat gemeinsam dieser Aufgabe stellen, was konkret heißt: daß die Schulen ihr Internat auch als ihre Aufgabe begreifen. Internate, deren Schulen dies immer getan haben und bis heute tun, stehen in der Regel vor kleineren Problemen als Internate, die die unter 3. idealtyptisch geschilderte Entwicklung in allen Aspekten erlitten haben.
An zwei Beispielen sei die mögliche und nötige Zusammenarbeit von Schulen und Internaten erläutert:
• Gut möglich wäre eine gemeinsame pädagogische Linie bei der Frage, wie die Hausaufgabenerledigung, wie das Lernen im Internat mit dem Unterricht am Vormittag in der Schule verbunden werden kann. Viele Internate bieten bereits Kurse an, in denen Schüler das ‘Lernen-lernen’ können. Ein wichtiger Schritt wäre es, wenn Schulen und Internate das Studium am Nachmittag und den Unterricht in der Schule am Vormittag personell und konzeptionell so miteinander verzahnen würden, daß daraus ein Lernzusammenhang entstünde. Lernmethodische Übungen für interne Schüler am Nachmittag entfalten vor allem dann ihre ganze Wirkung, wenn sie auch am Vormittag in der Schule abverlangt werden.29
• Internate waren bislang Orte eingeschränkten Fernsehkonsums und weitgehend frei von digitalen Medien. Die Abstinenz der Jugendlichen stellt sich quasi von selbst ein: Im Internat gibt es vieles, was deutlich interessanter ist als Fernsehen oder Gameboyspielen. Allerdings ist ein Trend zum Mitbringen eigener Computer nicht zu verkennen. Angesichts der bedeutenden Rolle der Datenverarbeitung in Gegenwart und Zukunft, werden sich Internate dem Wunsch nach Computern im Internat auf Dauer nicht verschließen können und dürfen. Gewehrt werden muß dem Mißbrauch (Computerspiele etc.), nicht dem Gebrauch, z.B. bei der Hausaufgabenerledigung, dem Anfertigen von Referaten, Programmieren etc. Um Schülerinnen und Schüler in qualifizierter Weise mit dem Gebrauch von Computern vertraut zu machen und eine sinnvolle Nutzung zu ermöglichen, bedarf es entsprechend qualifizierten Personals. Da Internate nicht in jedem Fall über dieses Personal verfügen, ist auch hier eine enge Zusammenarbeit von Schule und Internat nötig.
Zentrale Aufgabe muß es deshalb sein, der an einigen Schulen brüchig gewordenen Einheit von Schule und Internate mit neuen organisatorischen und pädagogischen Gesamt- oder wenigstens Teilkonzepten zu begegnen – um der Schülerinnen und Schüler willen, aber auch aus theologischen und ökonomischen Gründen. Meinen Schulen mit Internat, ein neues Internatskonzept ohne Einbezug der Schule sei ausreichend, ein Gesamtkonzept, in dem das Internat auch bei schwacher Belegung eine gewichtige Rolle spielt, nicht nötig, so schaden sie damit dem Internat und tragen eventuell zu seiner Schließung bei.
Freizeitgestaltung, Gruppengröße
Die klassische Arbeitsgemeinschaft leidet an Akzeptanzproblemen. Erfolgversprechender sind zeitlich überschaubare, projektartig organisierte Freizeitaktivitäten (bis hin zu Segelfreizeiten). Manche Internate beschäftigen deshalb Freizeitpädagogen. Der veränderten Schülerschaft entsprechend muß neu über die Gruppengröße nachgedacht werden. In vielen Internaten beträgt die Erzieher-Schüler- Relation immer noch mehr als 1:15. Dies erscheint als zu hoch.
Sozialität und Individualität
Bedingt durch den Wertewandel und die Tendenz zur Individualisierung werden das gemeinsame Leben und die verbindlichen Ordnungen in den Internaten und Heimen von Eltern und Schülern hinterfragt. Das Verhältnis von Sozialität und Individualität wird neu auszutarieren sein. Individuelle Regelungen zuzulassen ohne das gemeinsame Leben aufzulösen – in dieser Spannung wird sich die Entwicklung wohl vollziehen. Die Schülerinnen und Schüler in ihrer individuellen Entwicklung, die sich in einer Gemeinschaft abspielt, zu fördern und zu begleiten, ist für Internate und Heime eine zentrale Aufgabe. Dazu gehört auch die immer wieder neu vorzunehmende Verhältnisbestimmung von Reglementierung und Verantwortlichkeit.
4.3 Betriebswirtschaftliche Aspekte
Internate und Heime als kirchliche Non-Profit-Unternehmen
Internate sind Non-Profit-Unternehmen, die – anders als Schulen – keine staatlichen Zuschüsse zu den Bau- und Personalkosten bekommen. Reine Internatsschulen und Schulen mit besonderen Angeboten für spezielle (Internats-)Zielgruppen scheinen sich am »Markt« besser behaupten zu können als Internate mit unklaren Profil. Bleibt das Internat auch bei starker Zunahme der externen Schülerschaft Mittelpunkt der konzeptionellen Überlegungen und pädagogischen Bemühungen, dann wirkt sich das in der Regel positiv auf die Belegungszahlen im Internat aus. Internate in vereinsrechtlicher Trägerschaft scheinen flexibler und »unternehmerischer« reagieren zu können als Internate an Schulen in landeskirchlicher Trägerschaft, an denen die Entscheidungsbefugnisse geringer, die Entscheidungswege länger und unüberschaubarer, die Reaktionsfähigkeit langsamer sind. Internate müssen sich aber auf veränderte Bedingungen einstellen können, wenn ihr Überleben gesichert werden soll. Es müssen Strukturen geschaffen werden, die eine professionelle Leitung von Internaten erst möglich machen. Internate sind Non-Profit- Unternehmen, die am Markt bestehen und sich gegen Konkurrenz durchsetzen müssen. Sie müssen handlungsfähig gemacht werden, damit sie adäquate personelle und konzeptionelle Antworten auf neue pädagogische und ökonomische Situationen entwickeln und umsetzen können.
Ökonomischer Erfolg und kirchlicher Auftrag müssen dabei nicht kollidieren. Für die Leitungen von kirchlichen Internaten und Heimen stellt es vielmehr – wie auch in der Diakonie – eine besondere Herausforderung dar, ökonomische, pädagogische und theologische Sachüberlegungen zu gelungenen Synthesen zu verschmelzen.
Durch die schwierige finanzielle Situation von Landeskirchen und anderen Trägern, durch Mindereinnahmen aufgrund sinkender Belegungszahlen steht auch evangelischen Internaten weniger Geld zur Verfügung. Gleichzeitig steigen die Ansprüche von Eltern und Trägern. In dieser Zangensituation liegt es nahe, daß auch das Non-Profit-Unternehmen Internat auf Managementwissen aus dem Profit- und Sozialbereich zurückgreift. Qualitätsmanagement-konzeptionen sowie die Einführung der DIN ISO-Norm 9000 im Bereich der sozialen Arbeit sind Reaktionen auf gesteigerte Qualitätsansprüche bei gleichzeitigem Schwinden finanzieller Ressourcen. Leitbildprozesse zur Neuausrichtung der eigenen Arbeit, in denen pädagogische, theologische und ökonomische Sachüberlegungen sich in Grund- und Leitsätzen einer Einrichtung niederschlagen, werden in Diakonie und Caritas seit etlichen Jahren mit Erfolg durchgeführt. Von diesen Erfahrungen könnten evangelische Internate und Heime profitieren. Ein erster Schritt zur Profilschärfung könnte die zielgruppenspezifische Ausrichtung eines Internates darstellen.
Zielgruppenspezifische Angebote
Evangelische Internate werden gut daran tun, nach Zielgruppen zu suchen, die im staatlichen Schulwesen keine adäquaten Bildungsangebote für ihre spezifischen Interessen bekommen oder staatliche Bildungsangebote aufgrund ihrer besonderen Situation nicht wahrnehmen können. Die Internate des CJD folgen seit langem dieser Maxime und machen besondere Angebote z.B. für Asthmatiker, Diabetiker, Hochleistungssportler. Andere Internate haben ein Konzept zur Betreuung von eßgestörten Jugendlichen erarbeitet. Auch hochbegabten Schülerinnen und Schülern werden von evangelischen Internaten besondere Angebote gemacht.
Neue Finanzierungsquellen
Im Zeichen der kirchlichen Finanzkrise werden Internate nach neuen Finanzierungsquellen suchen müssen, um sich pädagogische Spielräume für ihre diakonische Arbeit offenzuhalten. Ein Blick in die Geschichte kirchlicher Schulen und Heime dürfte Mut machen, hier ganz neue Wege zu gehen.30
Öffentlichkeitsarbeit
Der »Internatsmarkt« ist heute härter umkämpft als noch vor einigen Jahren. Nichtkirchliche Internate schließen sich zu Gruppen zusammen und werben gemeinsam um Schüler. Als Einzeleinrichtungen werden evangelische Internate wohl Mühe haben, am Markt zu bestehen. Kostenintensive Werbemaßnahmen können sich einzelne Internate in den wenigsten Fällen leisten. Für die Öffentlichkeitsarbeit wird zweierlei wichtig sein: Einmal ein gemeinsames Konzept der einzelnen Internatsschule bzw. Schule mit Internat, das eine Corporate Identity erkennen läßt. Andererseits ist eine gemeinsame, langfristig angelegte Öffentlichkeitsarbeit aller evangelischen Internate nötig, um den Bekanntheitsgrad der Internate zu erhöhen. Internate sind ebenso wie evangelische Schulen geprägte Individualitäten, die sich durch große Vielfalt auszeichnen. Eine Corporate Identity (CI) werden sie als Gruppe nicht ausbilden können, sehr wohl aber eine Cooperative Identity (COOPI), die bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Internaten das Gemeinsame betont.
5. Schlußbemerkung:
Die pädagogische Diakonie der Internate und Heime steht nicht im Brennpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Sie leistet jedoch Kindern, Jugendlichen und deren Familien einen wertvollen Dienst.
Die ökonomische Situation vieler Internate und Heime ist schwierig. Sie erfordert mutige Schritte auf Seiten der Träger und Innovationsbereitschaft auf Seiten der Internatsmitarbeiter und der Schulen.
Mit ihren Internaten und Heimen wendet sich Kirche einer Gruppe von Menschen zu, die im gemeindlichen Leben oft zu kurz kommt: Kindern und Jugendlichen. Internate und Heime sind traditionsreiche Einrichtungen der evangelischen Kirchen, in denen die Botschaft des Evangeliums in diakonischem Wirken konkret wird. Diesen Dienst auch in Zukunft zu leisten, wird angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen geboten sein.
Anmerkungen
1 Dieser Artikel wurde 1997 auf Anfrage des Comenius-Instituts Münster verfaßt. Er erscheint im Frühjahr 1999 im Handbuch Evangelische Schule, hrsg. v. Christoph Th. Scheilke und Martin Schreiner im Gütersloher Verlagshaus.
2 Peter Giersiepen, Evangelische Internatserziehung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Udo Beenken/Tobias Engelsing (Hg.), Bildung am See, Gaienhofen 1996, S. 30-33, Zitat S. 30
3 vgl. das Verzeichnis aller Freien Schulen in: Arbeitsgemeinschaft freier Schulen (Hg.), Handbuch Freier Schulen, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 353-540
4 K.H. Potthast, Jürgen Bohne, Werner Kast, Herbert Ochel u.a., Evangelische Schulen und Heime, in: Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen (Hg.), Handbuch Freie Schulen, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 125- 190, vgl. S. 125
5 Karl Heinz Potthast u.a., Evangelische Schulen und Heime, in: Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen (Hg.), Handbuch Freie Schulen, Reinbek bei Hamburg 1993, (S. 125-190), S. 134
6 vgl. Hans-Joachim Feix, Das Schülerheim – eine sozialpädagogische Einrichtung? Eine Untersuchung des Ist-Bestandes, in: Korrespondenzblatt evangelischer Schulen und Heime, 22. Jg. (1981), S. 11- 17
7 vgl. dazu Georg Ballod, Der Auftrag des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschlands »Keiner darf verlorengehen!« als theologisches Problem, Marnheim 1995
8 Udo Beenken/Tobias Engelsing (Hg.), Bildung am See. Perspektiven und Visionen eines kirchlichen Gymnasiums. 50 Jahre Evangelische Internatsschule Schloß Gaienhofen, Gaienhofen 1996, S. 143
9 vgl. Helmut Rünger, Heimerziehungslehre (Handbücherei für die Kinderpflege Bd. 3), 7. Auflage, Witten 1973, S. 42-54
10 Martin Schreiner, Im Spielraum der Freiheit, Göttingen 1996, S. 69
11 a.a.O., S. 64f
12 Albert Reble, Geschichte der Pädagogik, 18. Auflage 1995, S. 132
13 vgl. a.a.O., S. 66
14 Otto Schmeil, Internatsschüler im Waisenhaus der »Franckeschen Stiftungen« im Jahr 1870, urteilt: »Ich habe an ihm (dem Heim) jedoch nur hartherzige Strenge, niemals aber auch nur eine Spur von väterlicher Liebe kennengelernt.« Zitiert nach Rünger, Heimerziehungslehre, S. 51
15 Albrecht Müller-Schöll/Manfred Priepke, Kirchliche Heimerziehung, in: Handbuch der Religionspädagogik, Bd. 3 (Hg. von Erich Feifel/Robert Leuenberger), S. 405-417
16 vgl. Georg Ballod, Ist Internatserziehung noch eine Aufgabe der Kirche?, in: Prot. Landeskirchenrat der Pfalz (Hg.), Bewahren und Erneuern (FS 80. Geburtstag von Theo Schaller) Speyer 1980, S. 13-46,
17 Karl Janssen, Art. Rettungshäuser, RGG Bd.5, Sp. 1073
18 vgl. Martin Schreiner, Im Spielraum der Freiheit, Göttingen 1996
19 vgl. Gerold Becker, Die deutschen Landerziehungsheime, in: Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen (Hg.), Handbuch Freier Schulen, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 231-269
20 Die Evangelische Internatsschule Urspring versteht sich als Landerziehungsheim und weist dessen klassische Merkmale am deutlichsten auf.
21 Die betriebswirtschaftlichen und pädagogischen Folgen dieser Veränderungen werden sehr treffend beschrieben von Dr. Karsten Müller, Die Einheit von Schule und Internat aus der Sicht des Internates, in: Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 24. Jg., Heft 2, S. 54-59; die beschriebenen Probleme gelten offensichtlich nicht nur für Internate an allgemeinbildenden Schulen, sondern auch für solche an Behindertenschulen. Vgl. dazu Walter Wecker, Heimerziehung und Internate, in: Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 21. Jg., Heft 6, S. 177-182
22 Auch in einem Land mit traditionell starker Internatserziehung wie England ging die Zahl der Internatsschüler von 118000 im Jahr 1990 auf 97000 im Jahr 1994 zurück. Als Grund wird die wirtschaftliche Rezession angesehen.
23 Bis Mitte der siebziger Jahre kann dies als die Hauptfunktion von Internaten angesehen werden. Vgl. Schöll/Priepke a.a.O. (Anm. 14), S. 409: »Diese Form von Heimen (Internate, Anm. d. Vf.) bietet sich vor allem für solche Kinder….an, die weiterführende Schulen…oder Sonderschulen besuchen wollen und am Wohnort ihrer Eltern eine entsprechende Einrichtung nicht finden.«
24 Hans-Joachim Schwager, Das Verhältnis Schule-Heim (einige provozierende Thesen) , in: Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 17. Jg. (1976), (141-143), 141f
25 Die beschriebenen Probleme führten zu Untersuchungen zum Verhältnis von Schule und Internat, bestimmten aber auch eine zeitlang die Arbeit der Schulbünde, die Tagungen zum Thema abhielten. Vgl. dazu das Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 24. Jg. (1983) , Nr. 2 mit dem Themenschwerpunkt »Zusammenarbeit von Schule und Internat« sowie Hans-Albrecht Breuning, Welche Hilfen von der Schule braucht das Internat zur Lösung seiner erzieherischen Aufgaben?, Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 25. Jg. (1984), Nr. 6, S. 161-169.
26 vgl. dazu: Hans-Albrecht Breuning, Welche Hilfen von der Schule braucht das Internat zur Lösung seiner erzieherischen Aufgaben?, Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 25.Jg. (1984), Nr. 6, S. 161-169
27 vgl. z.B. Karl Ernst Nipkows großen Entwurf einer Gesamtschau kirchlicher Bildungsbemühungen: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh, 2. Auflage 1992, die zwar ein großes Kapitel über kirchliche Schulen enthält (S. 496-554), Internate und Heime aber nur beiläufig erwähnt.
28 Hans Joachim Schwager, Das kirchliche, diakonische Profil – Was ist das?, in: Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 28. Jg. (1987), (168-172), 169
29 vgl. dazu: Steffen Schramm, Fortbildung am Trifelsgymnasium: Lerntraining für Schüler, in: Korrespondenzblatt Evangelischer Schulen und Heime, 36. Jg. (1995), S. 119-121
30 vgl. z.B. die Finanzierungsmethoden von August Hermann Francke in Halle: Markus Rückert, Diakonie und Ökonomie, Gütersloh 1990, S. 162-186
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