Hartmut Ludwig: „An der Seite der Entrechteten und Schwachen”

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Paul Gerhard Schoenborn

Dellbusch 298, 42279 Wuppertal

Hartmut Ludwig: „An der Seite der Entrechteten und Schwachen” – Zur Geschichte des „Büro Pfarrer Grüber” (1938 bis 1940) und der Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945, Logos Verlag, Berlin 2009, 195 Seiten mit zahlreichen Fotos/Dokumenten, ISBN 978-3-8325-2126-4

Hartmut Ludwig habilitierte sich 1988 an der Humboldt-Universität in Ostberlin mit einer Arbeit über das „Büro Grüber“. Diese Arbeit erschien nie im Druck. Nach der Wende wurde weiteres Material zu diesem Thema erschlossen. Unter Verwendung dieser Quellen stellt der Berliner Kirchengeschichtler nun erneut die Geschichte des „Büros Pfarrer Grüber“ dar und berichtet zudem darüber, unter welchen Schwierigkeiten sich Heinrich Grübers Engagement nach 1945 in der Arbeit der „Evangelischen Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte“ fortsetzte. Diese Institution, die heute noch existiert, fungiert als Herausgeberin dieses Werkes.

Die Verfolgung von jüdischen Deutschen steigerte sich seit der Machtübernahme Hitlers in Stufen: 1. Entrechtung: 1933 – 1935; 2. Isolierung: 1935 – 1938; 3. Forcierte Vertreibung: 1938 – 1941; 4. Vernichtung: 1941 – 1945. Die Phasen begannen mit 1. dem Judenboykott (1. 4. 1933), 2. den Nürnberger Rassegesetzen (15. 9. 1935), 3. der „Reichskristallnacht“ (9./10. 11. 1938) und 4. dem Beginn der systematischen Deportationen ab 1941 (S. 21).

Besonders prekär entwickelte sich dabei die Situation der christlichen, und da besonders die der evangelischen deutschen Juden. Während die mosaischen Juden sich gegenseitig halfen und auch aus dem Ausland unterstützt wurden, traten die evangelischen Christen nur selten und meist gar nicht für ihre judenstämmigen Gemeindemitglieder ein. Der Grund: Die deutschen Protestanten bejahten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die nationalsozialistische Rassenpolitik.

Hartmut Ludwig beschreibt, wie schwierig es war, in Kreisen der Bekennenden Kirche Bewusstsein dafür zu schaffen, dass aktive Diakonische Hilfe für Judenchristen dringendes Gebot war. Er zeigt es unter anderem an dem bewussten Unverständnis, dem die Denkschriften von Marga Meusel und Elisabeth Schmitz begegneten. Letztere hatte geschrieben: „… Wie kann sie (die evangelische Kirche) immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder richten?“ (S. 21, nach Manfred Gailus: Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung, Berlin 2008, S. 210)

Erst 1938 kam es nach langwierigen Verhandlungen mit den zuständigen NS-Behörden und der Überwindung von, um es vorsichtig zu sagen, taktischer Zurückhaltung von maßgeblichen BK-Persönlichkeiten zur Einrichtung von evangelischen Hilfsstellen in Berlin und zwanzig weiteren deutschen Städten. Ihre Aufgabe war, evangelischen deutschen Juden sozialen und seelsorgerlichen Beistand zu leisten und ihnen, solange das möglich war, zur Emigration zu verhelfen.

Motor dieser Hilfsaktionen war Pfarrer Heinrich Grüber aus Kaulsdorf/Berlin, der sich Zeit seines Lebens an Jesu Beispielgeschichte in Lukas 10 orientierte (vgl. S. 7–14). Beim Prozess gegen Adolf Eichmann berichtete er von einem Gespräch mit dem SS-Mann. Dieser habe ihn bei einem Termin gefragt: „’Was kümmern Sie sich überhaupt um die Juden? Sie werden keinen Dank für diese Arbeit haben. Warum diese ganze Tätigkeit zugunsten der Juden?’ Ich sagte darauf: ‚Sie kennen die Straße, die von Jerusalem nach Jericho führt?“ Dann sagte ich: ‚Auf dieser Straße lag einmal ein Jude, der unter die Räubergefallen war. Da kam einer vorbei, der kein Jude war und hat geholfen. Der Herr, auf den ich allein höre, er sagt mir: Geh Du hin und tue das Gleiche. Das ist meine Antwort’“ (S. 8).

In einem ersten Hauptteil zeichnet Hartmut Ludwig Vorgeschichte, Aufbau, Konsolidierung und Verbot des „Büro Pfarrer Grüber“ nach (S. 15–86). Wie viel Schwierigkeiten durch schikanöse Behörden und politische, in- und ausländische Unbarmherzigkeit! Viele der Mitarbeiter der Hilfsstellen waren selbst rasseverfolgt. Ihre aufopfernde Tätigkeit ist eine Form selbstloser Gegenwehr gewesen. Sie leisteten sie zugunsten ihrer Schicksalsgenossen, bis die Hilfsstellen verboten und Heinrich Grüber und sein Stellvertreter Pfarrer Werner Sylten ins KZ verschleppt wurden. Nicht nur Werner Sylten, sondern viele andere der „nichtarischen“ Mitarbeiter wurden ab 1941 ermordet.

Der zweiten Hauptteil trägt den Titel: „Zum Gedenken an die ermordeten Mitarbeiter des Büro Pfarrer Grüber und der Familienschule“ (S. 87-139). Hartmut Ludwig hat vierzehn Lebensläufe dieser tapferen Märtyrer quellenmäßig nachgezeichnet und drei, nach denen noch weiter geforscht werden muss, in einem Anhang beschrieben. Für mich stellt dieser Teil des Werkes ein ergreifendes Beispiel notwendiger Erinnerungsarbeit dar – man kann ihn nur mit dem Gefühl großer Scham lesen.

Der dritte Hauptteil (S. 140–160) und das umfangreiche Nachwort von Walter Sylten (S. 161-184) beziehen sich auf die Geschichte der „Evangelischen Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte seit 1945“. Ihre Aktionen waren mehr als notwendig, weil sich das Nachkriegsdeutschland wenig bis gar nicht um die überlebenden Rasseverfolgten kümmerte. Die „Hilfsstelle“ musste einen mühsamen Weg gehen – sowohl im östlichen und westlichen Nachkriegsdeutschland.

Heinrich Grüber versuchte sogleich nach der Befreiung 1945, wieder eine Hilfsstelle für Überlebende des Holocaust aufzubauen – und wieder gegen kirchliche Ignoranz und Widerstände. Im Dezember 1945 äußerte ein Ratmitglied der EKD in einer Sitzung: „Wir sollen die Juden zu Christus rufen, nicht rein karitativ für sie sorgen“ (S. 140). Das entsprach der Einstellung weiter evangelischer Kreise. Eugen Gerstenmeier sah keine Möglichkeit, durch das von ihm gegründete und organisierte „Evangelische Hilfswerk“ Grübers Aktionen besonders zu unterstützen: „Oberster Grundsatz des Hilfswerks ist es, Unterstützungen an Hilfsbedürftige auszuteilen ohne Rücksicht auf religiöse, politische oder rassische Einstellung oder Zugehörigkeit der Hilfsbedürftigen. Diesem Grundsatz würde das Hilfswerk zuwiderhandeln, wenn es die nichtarischen Christen in einer besonderen Kategorie zusammenfasst und betreut“ (S. 145).

Erschreckend die Feststellung Hartmut Ludwigs: „Die Christen jüdischer Herkunft waren in der NS-Zeit einer doppelten Isolation ausgesetzt, weil sie nirgends wohin gehörten und nirgends Halt fanden: da sie mit den Glaubensjuden keine Verbindung mehr hatten und von den deutschnational-antisemitisch denkenden Christen abgelehnt wurden. Sie hatten auch nach 1945 das härtere Los zu ertragen und standen wieder am Rand der Gesellschaft. Sie hatten mehr als alle anderen mit den Folgen von NS-Herrschaft und dem verlorenen Krieg zu kämpfen. Zwischen vor und nach 1945 gab es also eine erschreckende Kontinuität“ (S. 148). Umso höher ist der von Heinrich Grüber und seinen vielen Mitarbeitern geleistete, aufopferungsvolle „Samariterdienst in vielfältiger Gestalt“ zu werten, den Hartmut Ludwig in seinem Werk dokumentiert.

Der Autor ist Pfarrer i. R. der Evangelischen Kirche im Rheinland.

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