Das neue geistliche Lied als ein Insiderprodukt

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Friedhelm Hans
Horststraße 99, 76829 Landau

„Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder. Ein Angebot für die Gemeinden”, Strube-Edition 6282, Strube-Verlag München. ISBN 3-89912-083-3, 3.– € (Mengennachlaß)

Die 94 Lieder dieses blauen Heftes sind tatsächlich neu. Nur ein einziges ist dem Rezensenten – in einer Textvariante – zuvor vom Sonntagsgottesdienst her bekannt gewesen – dasselbe hat schon Einzug in die pfälzischen Kirchenchorhefte gefunden. Aber musikalisch besteht eine bestimmte Tendenz zur Verarmung; nur 10 der 94 Lieder entfallen auf ungerade Taktarten. Über die entsprechend einseitige Verwendung der verschiedenen Tongeschlechter muß man sich hier nicht länger ausbreiten. Der Gefahr einer Verschlagerung und Sentimentalisierung der musica sacra ist gewiß nicht jedes Stück ausgesetzt, viele davor aber auch nicht gefeit. Es ist nicht leicht, ein Volkskirchenlied zu dichten, das sowohl musikalischen wie theologischen Erfordernissen hinreichend genügt. Aber der Versuch ist erlaubt. Wir werden sehen, ob er sich außerhalb des zu erwartenden ökonomischen Erfolgs lohnt. Leider ist es wie 1994 im regionalen Teil des EG nicht geglückt, das Lied eines Dichters aus der Pfalz unterzubringen – der Rauswurf des Liedes EKG 405 mit der Melodie Imo Schäfers noch zu dessen Lebzeiten bleibt ein Skandal und bestätigt 150 Jahre nach Becker und Riehl den unverändert dürftigen Kunstgeschmack in diesem Lande, zumindest was Musik und Dichtung angeht.

Das Liederheft will ein „Angebot für die Gemeinden” sein. Das EKG ist zwanzig Jahre lang ohne Beiheft ausgekommen. Im Jahre 1971 kam eine schmale Sammlung mit 25 Liedern heraus, von denen relativ viele zu Klassikern in der Gemeinde geworden sind: Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt; Er weckt mich alle Morgen; Gott liebt diese Welt; Herr, deine Güte; Hilf, Herr meines Lebens; O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens; Singet dem Herrn ein neues Lied; Weil Gott in tiefster Nacht; einige weitere sind wenigstens peripher gebräuchlich gewesen oder gebräuchlich geworden. Das ist ein erstaunlicher Prozentsatz in einer über nunmehr mehr als dreißig Jahre währenden Akzeptanz. Das Defizit dieser Sammlung wie des wenige Jahre später folgenden Heftes „Anhang 77″, eine maßgebliche Erweiterung des „Anhang 71″, war die vollständige Ausblendung wichtiger geistlicher Themen, vor allem Tod und Auferstehung. Dagegen war der Weg für das fremdsprachliche Lied geöffnet, vor allem für Gospels und Negro Spirituals (die ersten Schallplatten hat Dietrich Bonhoeffer seinen Studenten und Vikaren nach 1930 vorgespielt), Lieder aus Israel (jahrelang vorher in der „Mundorgel” zu finden) und den Kanon, der einfachste Weise des mehrstimmigen Gesangs, fanden Einzug in einem für den Gemeindegesang approbierten Gesangbuchs. Etabliert haben sich aus diesem Heft: Halleluja. Freut euch ihr Christen; Schalom chaverim; Danke, für diesen guten Morgen; Du hast uns, Herr, gerufen; Du, Herr schufst unsre Erde gut; Eine freudige Nachricht; Ein Kind ist angekommen; Geht, ruft es von den Bergen; Gib uns Frieden; Herr, deine Liebe; Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen; Hört, wen Jesus glücklich preist; Ich liege, Herr, in deiner Hut; In dem Herren freuet euch; Komm, sag es allen weiter; Kommt herbei, singt dem Herrn; Liebe ist nicht nur ein Wort; Nehmt das Brot, eßt das Leben; Stern über Bethlehem; Vater unser (Kalypso); Von guten Mächten; Zwischen Jericho und Jerusalem. Der „Anhang 77″ hat dem Liedgut Jochen Kleppers mit den Weg geöffnet für seine starke Rezeption im EG. Das Heft hat sich durch eine gewisse Vielseitigkeit ausgezeichnet; Taizégesänge waren noch nicht aufgenommen. Verständlich war, daß sich regionale und protektionistische Liedaufnahmen nicht alle haben durchsetzen können – auch beim EG ist das so. Etliche Gemeinden haben schon ein halbes Jahrzehnt später dieses Heft durch Übernahme des „Liederheftes für die Gemeinde” aus Bayern mit seinem fundierten liturgischen Gespür ersetzt.

Nun liegt das neue Heft vor, das im kirchenrechtlichen Sinne anders als die Beihefte von 1971 und 1977 kein Bestandteil des Gemeindekirchengesangs unserer Landeskirche ist, wenn auch fünf Kirchenpräsidenten / Bischöfe ein Vorwort unterschrieben haben und der zuständige Dezernent in einem Verlagsrundschreiben werbend für die Verbreitung des Heftes eintritt. Man darf gespannt sein, wie die Gemeinden auf das Liederheft reagieren. Meines Erachtens kam das Heft zu früh und hat sich durch seine Beschränkung auf das Liedgut der letzten Jahre selbst eine zu enge Grenze gesetzt; die Aufnahme des einen oder anderen aus dem EKG nicht übernommen Liedes wäre ggf. eine Korrektur wert gewesen, wenn auch nur für wenige Lieder, da das EG sehr behutsam mit dem Liedgut des EKG umgegangen ist – vom inkonsequenten Übereifer in der sprachlichen Textänderung und Unterdrückung als schwierig erachteter – gleichwohl reformatorischer – Texte abgesehen. Welcher Ergänzung bedarf das EG nach kurzer Zeit? Das EG ist längst noch nicht „ausgesungen”.

Fortgesetzt hat sich die starke Berücksichtigung französischen, skandinavischen und holländischen Liedgutes, und das ist ein Grund, warum das blaue Heft auf den ersten Blick fremd anmutet. Viele Achtelnoten springen ins Auge, ob das dem Gemeindegesang dienlich ist, bleibt zu fragen. Ein Kirchentagslied findet Aufnahme, das sich eigentlich schon im Abklingen befindet. Biblische Texte finden sich vor allem in Spruchliedern; Nachdichtungen biblischer Texte größeren Umfangs sind selten (Lied 55 nach Hesekiel 36, Lied 68 nach Psalm 103). Ebenso vermißt man Lieder aus Osteuropa oder den jungen Kirchen zwischen Afrika und Ozeanien (nur Nr. 78, das aber nur eine Textzeile wiederholt). Interessant erscheint das Glaubenslied „Ich glaube an Gott” (54), freilich nicht nur – wie angegeben – nach dem Apostolikum gedichtet, sondern versetzt mit Stücken aus dem NC. Die Singbarkeit für eine Gemeinde ist bei den hierin enthaltenen Sprüngen vor eine große Herausforderung gestellt.

Textlich stark vertreten sind die „Ich”- Lieder des aktuellen Zeitgefühls mit Behandlung der menschlichen Befindlichkeit, statt nach der Apostelgeschichte von den „großen Taten Gottes” zu erzählen. Schön, daß ein neuartiges Lied für die Trauung aufgenommen wurde. Schade, daß die Gliederung des EG außerhalb des Registers keine Beachtung gefunden hat, das erschwert den praktischen Umgang mit den 94 Liednummern, soll das Heft für den Gemeindegesang Verwendung finden.

Es ist für jede Mutmaßung zu früh, was vom blauen Heft in dreißig Jahren bleibt. Folgendem sentimentalen Holterdipolder wie dem in Nr. 60,2 enthaltenen gebe ich geringe Chancen: „In der Stille angekommen, leg ich meine Masken ab. Und ich sage Gott ganz ehrlich, was ich auf dem Herzen hab.” Die Herausgeber hätten größeren Wert auf Sprachqualität legen dürfen. „Du bist der Schöpfer des Universums” – das ist keine Gemeindesprache. Die Aufnahme eines Germanisten in die Redaktion von kirchlichen Liederheften wäre in Zukunft kein Schaden. Von seltenen Ausnahmen abgesehen, geht der deutsche Literaturbetrieb an der geistlichen Lied- und Gedichtproduktion meilenweit vorbei. Vielleicht fehlt es an Aufträgen bei namhaften Schriftstellern. Merkwürdig, daß niemand bei Hans Dieter Hüsch und Persönlichkeiten ähnlicher Reputation fündig geworden ist.

Das neue geistliche Lied ist ein Insiderprodukt. Überhaupt sehe man in den Buchhandlungen in der Abteilung „Religion” nach. Protestantische Literatur für die Jugend und Erwachsene ist nur spärlich vertreten. Das ist ein anderes Thema, das aber mit der Misere der protestantischen Dichtung und Schriftstellerei einhergeht. Hefte wie das vorgestellte schaffen es kaum, das Ruder herumzureißen.

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