Rede zum Gedenken der Reichspogromnacht von 1938 am 9. November 2016 in Homburg*
Frank Matthias Hofmann
Am Ludwigsplatz 11, 66117 Saarbrücken
„In diesem Augenblick sah ich es. Ein Gesicht im gegenüberliegenden Fenster. Ein Kahlkopf mit plattgedrückter Nase und großen leeren Augen. Ein nichtssagendes, alltägliches, gelangweiltes Gesicht, das nie eine Leidenschaft bewegt hat. Kein Mitleid spiegelte sich in seinen Augen, weder Freude noch Schrecken. Das Schauspiel ließ ihn kalt. Was, diese Leute sollen sterben? Das ist doch nicht seine Schuld. Er ist weder Jude noch Judengegner. Er ist einfacher Zuschauer, sonst nichts.“
Beeindruckend beschreibt der in Ungarn geborene Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel in seinem oft erschreckenden Roman „Gezeiten des Schweigens“ einen Menschen, der gegenüber einer Synagoge wohnt. Er beobachtet, wie ungarische Polizisten, „die schwarze Feder an der Kappe, den Karabiner schussbereit, den Knüppel bereit zum Hieb“, ungarische Juden zur Deportation zusammentreiben. „Der ewige Jude sollte der leiblichen Vernichtung seines Daseins, der ‚Endlösung’ entgegenziehen“, formuliert er. Elie Wiesel selbst wurde mit Eltern und Verwandten in das KZ Auschwitz deportiert. Er überstand als einziger seiner Familie den Todesmarsch von Auschwitz nach Buchenwald und lebte zuletzt in Amerika, wo er am 2.Juli 2016 in Boston verstarb. In dem beeindruckenden Buch „Die Nacht“, ursprünglich auf Jiddisch verfasst, dann erstmals auf Französisch 1958 in Paris erschien, beschreibt er seine Erfahrungen in dieser Zeit.
Viele Mitbürger sahen auch bei uns in Deutschland zu, verharrten in einer Zuschauerrolle: In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, später dann auch als die badisch-pfälzische Judenheit nach Gurs, am Rande der Pyrenäen in Südfrankreich gelegen, am 22. Oktober 1940 abtransportiert wurden. Die meisten der gaffenden nichtjüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger verhielten sich neutral, unternahmen nichts. Auch in vielen deutschen Städten erhob sich keine einzige Hand wenigstens zu einem stillen Gruß an diejenigen, die bis dahin in ihrer Mitte gewohnt haben und in die Gemeinschaft in Dorf oder Stadt meist gut integriert waren – und nun an vorher bestimmten Plätzen zusammengetrieben wurden, etwa in Ludwigshafen im Hof der Maxschule, und dann in Bussen und Zügen mit ein paar Habseligkeiten an Orte der Schande wie Vieh abtransportiert wurden. Mitten unter uns geschah das Unrecht. Nur wenige äußerten sich kritisch dazu. An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen in Deutschland – die in Ludwigshafen lag genau zwischen der protestantischen Lutherkirche und der katholischen St. Ludwigskirche, aber keiner der Gemeindeglieder dieser Kirchen erhob Widerspruch. Die christlichen Kirchen hätten sich doch auch schützend-bergend vor die Synagoge stellen können, haben sie aber nicht. Und wenn die Feuerwehr überhaupt gerufen wurde und kam, dann wie in Ludwigshafen nur, um die umliegenden Häuser vor einem Übergreifen des Brandes zu schützen, aber nicht, um die brennenden Synagogen zu löschen. In Ruchheim wurde die Synagoge vor der Brandschatzung noch geplündert. In Homburg fürchtete man ein Übergreifen des Brandes auf die umliegenden Häuser und verzichtete allein deshalb auf das Anzünden. Aber ein speziell zusammengestelltes sog. „Synagogenkommando“ schmiss die Inneneinrichtung des Bethauses, auch die liturgischen Geräte, auf einen Haufen und zündete das Interieur an. Ganz wollte man freilich nicht auf Publikumswirkung verzichten, wie der Historiker Dieter Blinn in seinem verdienstvollen Buch „Juden in Homburg“ berichtet: Der auf dem Nordgiebel der Synagoge angebrachte Davidstern wurde unter großem Trara heruntergerissen.
Auch in Homburg war der angeblich „spontane Volkszorn“ wegen des Attentates des 17jährigen Herschel Grynszpan auf den Legationssekretär Ernst vom Rath in der Deutschen Botschaft in Paris am 7. November 1938 von den Nationalsozialisten inszeniert: Der örtliche SS-Chef war mit der Durchführung der „Racheaktion“ gegen das noch in der Synagogengemeinde Homburg lebende armselige Häuflein jüdischer Bewohner, die nicht vorher geflohen waren, beauftragt: Er trommelte im Morgengrauen des 10. November seine SS-Kollegen zusammen und man richtete ein Synagogenkommando ein, die anderen nahmen sich das einzig noch weitere brauchbare Zielobjekt vor, das Geschäftshaus von Aron Salmon. Schaufensterscheiben wurden eingeschlagen, Auslagen und das gesamte Warenlager durch Zerreißen oder Zerschneiden unbrauchbar gemacht. Die Familie verängstigt im Obergeschoss. Niemand stand ihr bei.
Der Mob rottete sich zusammen, ihm war nichts heilig, man feierte einen weiteren Höhepunkt in der angekündigten Auslöschung einer Religionsgemeinschaft. Jüdische Menschen wurden für vogelfrei erklärt, „judenfrei“ sollte Deutschland werden. Als erstes geschah dies durch die Deportation nach Gurs 1940 in Baden, der Pfalz und der Saarpfalz, wie es sich die Gauleiter von Baden und der Pfalz, Wagner und Bürckel, auf die Fahnen geschrieben hatten. Zuvor gab es in der Folge der Pogromnacht reichsweit 400 Tote, 1406 verbrannte Synagogen und etwa 7500 demolierte jüdische Geschäftshäuser. Im Saarland wurden 25 Synagogen zerstört. Die Synagoge in Wallerfangen wurde zwar zerstört, nicht aber in Brand gesetzt, weil sie an einem Haus eines NSDAP-Mitglieds angebaut war und man kein Risiko für letztes eingehen wollte. Dass seit 1933 die deutschen Jüdinnen und Juden desintegriert wurden durch zahlreiche juristische Verbote, bezeichnet Dieter Blinn als „ideologische Vorschule“, die die grauenvolle sog. „Endlösung“ während des Krieges vorbereitete. Die Ausgrenzung eines Bevölkerungsteils sei in legislatorische Form gegossen worden mit einer „Mischung aus rassischem Größenwahn, gepaart mit kleinbürgerlichem Ordnungsfanatismus und deutschen Bürokratieperfektionismus“, lächerlich-grausam. In dem Buch von Dieter Blinn kann jeder nachlesen, was mit den verbliebenen Jüdinnen und Juden Homburgs geschah. Sie wissen das als Einheimische gewiss besser als ich.
Aber mitten im und um das Getümmel derer herum, die sich aktiv an den Verbrechen Beteiligten, standen sie wie der Kahlköpfige hinter den Gardinen seines Zimmers in Ungarn in Wiesels Roman: Die Zuschauenden, die sich das Geschehen vom Leib hielten – und die dennoch genauso Schuld trifft wie diejenigen, die sich aktiv an den Gräueln der Reichspogromnacht beteiligten. Es ging wesentlich mehr zu Bruch als die Kiddusch-Gläser in den jüdischen Haushalten und die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte. Weshalb es gut ist, dass der Begriff „Reichskristallnacht“ nicht mehr verwendet wird, weil er verharmlosend wirkt.
Elie Wiesel kritisiert diese Zuschauerrolle, die zu keiner Empathie fähig ist, abgestumpft oder auch ideologieerfüllt ließ man dem Unrecht mitten unter sich, in der Mitte der Dörfer und Städte, auch in Homburg, seinen Lauf, ohne das geringste zu unternehmen.
„Der Zuschauer sieht, ohne gesehen zu werden. Er ist da, ohne sich bemerkbar zu machen. Seine Gegenwart weicht aus und verpflichtet ihn weniger als seine Abwesenheit. Er ist da, handelt aber so, als sei er nicht da. Noch schlimmer: er handelt, als seien wir nicht da.“ Als seien Juden keine Menschen und nicht da. Abgeschrieben bereits zu Lebzeiten.
Mit Erschütterung haben wir vom Herausgeberkreis des Buches „Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus“, dessen Initiator ich bin, feststellen müssen: Auch unsere protestantische Landeskirche als Institution hat eine solche Zuschauerrolle eingenommen: So gab es keinerlei offizielle Verlautbarungen, kein einziges Wort des Bedauerns zur sog. Juden- bzw. Rassenpolitik der Nationalsozialisten: Bereits zum Boykott jüdischer Geschäfte 1933 hüllte sich der Landeskirchenrat am Domplatz in Speyer in Schweigen. Pfarrerschaft und Mitglieder der Presbyterien schwiegen dazu, dass 1938 in der Pfalz dutzende Synagogen in Brand gesetzt und zerstört und hunderte von Wohnungen und Geschäften blindwütig demoliert wurden. Eine öffentliche Stellungnahme des Landesbischofs Ludwig Diehl, NS- Parteigenosse der ersten Stunde, und anderer Mitglieder der Kirchenregierung gegen die Pogrome blieb aus. Kein Wort zu der nach den Pogromen im November 1938 erfolgten Verbringung der Juden ins KZ Dachau. Auch die am 22. Oktober 1940 erfolgte Deportation von über 800 jüdischen Frauen, Männern und Kindern in das Internierungslager Gurs fand keinen Niederschlag in den kirchlichen Blättern. Der Historiker Roland Paul hat in seinem Sachbeitrag zu „Antisemitismus und Haltung zur Judenverfolgung“ in unserem NS-Handbuch auch konstatieren müssen, dass es nicht bekannt sei, dass sich einzelne pfälzische Geistliche zu der Deportation geäußert, geschweige denn für die Deportierten Partei ergriffen hätten.
Im Gegenteil: Durch das Streichen des Bibelwortes von Johannes 4,22 („Das Heil kommt von den Juden her“) aus der bis dahin gültigen Perikopen-Ordnung, also der Ordnung der Bibeltexte, über die sonntags von den Kanzeln zu predigen ist, dokumentierte die Speyrer Kirchenleitung ihre Bereitschaft, antijüdische Ressentiments auch in Predigt und Lehre umzusetzen.
Der Saarbrücker Ruhestandspfarrer Hermann Preßler, der zuletzt als Rundfunkpfarrer beim SR tätig war, hat in einer jüngst erschienenen verdienstvollen Studie „Der Herr Christus und die braunen Herren“ herausgearbeitet, dass die beiden pfälzischen Kirchengebietsblätter, die auch in der Saarpfalz gelesen wurden, „Union“ und „Evangelischer Kirchenbote“, ähnliche Sichtweisen wie die Nationalsozialisten im Hinblick auf die Ausgrenzung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger erkennen ließen.
Auch wenn der sog. „Arierparagraph“ in der pfälzischen Landeskirche nicht eingeführt wurde, wohl, weil es nur einen einzigen sog. „nicht-arischen“ Pfarrer in der Pfalz gab, nämlich Walter Mannweiler, so ist dieser doch resigniert 1934 in die Schweiz emigriert. In seiner Begründung an den Landeskirchenrat schrieb er: „Die Entwicklung in der Deutschen Evangelischen Kirche mit der immer stärkeren Betonung des Rassegedankens macht es mir innerlich unmöglich, ihr mit ehrlicher Überzeugung und freudigem Herzen weiterhin dienen zu können.“ Unter solchen Verhältnissen möchte er in der Pfalz keinen Pfarrdienst tun. In einem Schreiben vom September 1946 an Hans Stempel brachte Mannweiler zum Ausdruck, dass ihm bei der Überquerung des Rheins bei Kehl am 9. April 1934 deutlich geworden sei, dass es für ihn und seine Familie kein Zurück mehr gebe.
Ein weiteres dunkles Kapitel ist auch, dass in dem am 6. Mai 1939 in Eisenach gegründeten „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes“ pfälzische Theologen mitgearbeitet haben, etwa Pfarrer Georg Biundo, der nach dem Krieg eine wichtige Rolle im Kirchengeschichtsverein spielte, über dieses Kapitel seines Lebens aber nie reflektiert hat. Auch der aus Zweibrücken stammende Theologe Friedrich Grünagel und der Ludwigshafener DC-Dekan Karl Emrich wirkten dort mit. Dass ein in Eisenach ganz maßgeblich tätiger Theologe, der damals in Königsberg tätige Neutestamentler Carl Schneider, es nach dem Krieg ausgerechnet in der Pfalz 1961 zum Akademiedirektor bringen konnte, ist noch nicht aufgearbeitet und hängt vermutlich mit alten Netzwerken zusammen, die noch aus der NS-Zeit bestanden. Schneider hatte 1940 eine Schrift über das frühe Christentum als angeblich „antisemitische Bewegung“ veröffentlicht. Er hat auch nach 1945 Thesen zur Hellenisierung des Christentums vorgelegt, die wissenschaftlich bedenklich sind. Noch im Jahr 2015 veröffentlichten ehemalige Schüler des Heuss-Gymnasiums Ludwigshafen eine Eloge auf Carl Schneider als deren ehemaligem Lehrer, in der diese problematische Seite unverständlicherweise fast ganz ausgeklammert wird.
Dass bis zum heutigen Tage das Gemälde des früheren Landesbischofs Ludwig Diehl in der „Ahnengalerie“ der Kirchenpräsidenten unkommentiert im Landeskirchenrat in Speyer hängt und ganze Generationen von Kirchenleitungen und Landeskirchenräten das fraglos akzeptiert haben, ist mir unverständlich. Spätestens nach der Aufarbeitung durch unser Handbuch muss dies geändert werden. Es gibt noch so manches, was der weiteren Aufarbeitung bedarf. Dazu zählt für mich auch eine Untersuchung, ob es aus heutiger Sicht kirchenjuristische zeitgeistbedingte Unrechtsurteile im kirchlichen Raum gab, deren mögliche Opfer der (zugegebenermaßen späten) Rehabilitierung bedürfen.
Dass ein neu sanierter Raum in der Roßmarktschule, wo Teile des Landeskirchenrates untergebracht sind, nach dem religiösen Sozialisten Oswald Damian aus Pirmasens benannt werden und etwas Künstlerisches an ihn erinnern soll, stimmt hoffnungsvoll. Damian war einer der wenigen, der schon sehr frühzeitig in Schriften vor der NS-Barbarei gewarnt hat. Bereits 1932 identifizierte er in seiner Schrift „Die Religion ist in Gefahr!“ als die Hauptbedrohung der Religion nicht den Sozialismus, sondern die deutschnational und nationalsozialistische Haltung vieler kirchlicher Kreise. Dies hatte zur Folge, dass Damian während seiner Gottesdienste unter Beobachtung stand. Nach weiteren Predigten gegen die Nationalsozialisten wurde ein Disziplinarverfahren von der Kirchenleitung gegen ihn eröffnet. Am 20. März 1933 wurde er auf dem Weg nach Hause verhaftet und in das frühe KZ Neustadt/Haardt deportiert, wo er rund vier Wochen inhaftiert blieb. Nach seiner Entlassung hatte er sich täglich bei der Gestapo-Dienstelle zu melden. Durch ein weiteres Verfahren der Kirchenregierung in Speyer wurde er 1933 vorläufig in den Ruhestand versetzt. Eine Entschuldigung bei den noch lebenden Familienangehörigen gibt es – wie auch in anderen Fällen – bis heute nicht. Durch die bruchlose Kontinuität mancher Kirchenleitungsmitglieder vor und nach 1945 wurde Damians Eintreten für die SPD nach Kriegsende von der Kirchenregierung abgelehnt, ebenso sein Wunsch nach Rückversetzung auf seine ehemalige Stelle in Pirmasens.
Eine späte Genugtuung gibt es, da seit Mitte 2016 eine Gedenkplakette (mit QR-Code) für ihn am Pirmasenser Pfarrhaus der Lutherkirchengemeinde in der Hauptstraße angebracht wurde. Und der der Pfalz verbundene Kirchengeschichtler Karlheinz Lipp in Berlin wird ein Quellenbuch mit Texten der Religiösen Sozialisten in der Pfalz in Kürze herausgeben, in denen auch die wichtigen, leider vergessenen aufrüttelnden Texte Oswald Damians wieder abgedruckt sein werden. Auch das ist eine Frucht aus dem Projekt „Protestanten ohne Protest“.
Es gab weitere Einzelne, die den Mund auftaten. Der in Mutterstadt ab 1937 tätige Pfarrer Johannes Bähr, Großvater von Pfarrer Albrecht Bähr, der bei Ihnen hier in Homburg in der Kantorei mitsingt, war aktiv resistent: Weil er den Bund Deutscher Bibelkreise, dessen pfälzischer Landesleiter er war, nicht in die Hitlerjugend überführte, wurde er vorgeladen und verhört. Er zog sich öffentliche Beschimpfungen durch Vertreter der SA und der Partei zu, weil er an der Kirche nicht die Hakenkreuzfahne hisste. Von Dekan Mettel in Bad Bergzabern wurde er gerügt, weil er sich weigerte, jüdische Familien aus dem Diakonissenverein auszuschließen, mit der Begründung „man muss auch die Juden lieben“. Das Gebot der christlichen Nächstenliebe stand bei Bähr über vorauseilendem Gehorsam der Partei gegenüber. Der Alltag seiner Familie war durch Anzeigen, Hausdurchsuchungen und Verhöre geprägt.
Die Maßnahmen gegen Bähr eskalierten im Gefolge der Reichspogromnacht im November 1938: Als einer der wenigen, der den Mut hatte, sich kritisch zu äußern, sagte er am 11. November 1938 im Religionsunterricht, es sei ungerecht, ein Gotteshaus anzuzünden. Nachdem einige Schüler der 5. Volksschulklasse, die beim Brand der Mutterstadter Synagoge zugeschaut hatten, auf die Frage des Pfarrers, ob sie der Meinung seien, dass das, was da geschehen sei, recht sei, geantwortet hatten: „Ja, das ist recht“, entgegnete Bähr: „Merkt euch, mit Menschen muss man menschlich umgehen, und was hier geschieht, ist nicht recht.“ Pfarrer Bähr wurde am gleichen Tag in Schutzhaft genommen. Immerhin hat Landesbischof Diehl durch seine guten Kontakte zu Gauleiter Bürckel dafür gesorgt, dass er bald wieder entlassen wurde.
Nun sagen manche, die den Titel des Handbuches „Protestanten ohne Protest“ als unzutreffend empfinden, dass dies doch Beispiele dafür seien, dass es doch Protest unter den Protestanten gegen das Nazi-Regime gegeben habe. Aus vielen Gesprächen mit Zeitzeigen wie etwa Karl Handrich weiß ich aber, dass diese es gerade nicht gewollt hätten, als Feigenblatt für ein Selbstbild der pfälzischen Landeskirche als Kirche, in der es auch Widerstand gegen das NS-Regime gegeben habe, benutzt zu werden. Die meisten wie Karl Wiedmann, Heinz Wilhelmy und Karl Handrich haben im Gegenteil nach dem Krieg unter der missglückten Entnazifizierung in der pfälzischen Landeskirche gelitten (man lese dazu den Aufsatz von Gabriele Stüber im Handbuch nach). Es gab eben in vielen Bereichen bruchlose Kontinuitäten. Bis weit in die 70er Jahre hinein schwieg man zu den eigenen Taten und deckte sich gegenseitig; gerade auch im Kirchengeschichtsverein tummelten sich viele, die alles Mögliche der älteren pfälzischen Kirchengeschichte en Detail aufarbeiteten, ihre eigene Rolle in der NS-Zeit zu reflektieren aber sich weigerten und diese Zeit totschwiegen. So hat Dr. Ernst Collofong, der als Zweibrücker Oberbürgermeister für die Arisierung jüdischer Geschäfte in dieser Stadt mit verantwortlich war, in der von ihm mit herausgegebenen 1000seitigen 1000jährigen Geschichte meiner Heimatstadt Lambrecht die NS-Zeit auf ganze anderthalb Seiten zusammenschnurren lassen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nicht zu Unrecht hat Kirchenpräsident Christian Schad vor der Landesynode die späte Aufarbeitung der Geschichte der Pfälzischen Landeskirche in der NS-Zeit auch darauf zurückgeführt, dass viele der handelnden Akteure vorher noch am Leben waren und daran kein Interesse hatten, weil sie in dieser Zeit zu sehr in das NS-System verstrickt waren
Die Frauen und Männer, die widerstanden haben, kritisierten wie Elie Wiesel, dass zu viele Mitchristen sich mit einer Zuschauerrolle begnügten, sie nicht resistenter gegen Unrecht und Menschenrechtsverletzungen waren. Das führt uns dazu, wie wir uns heute verhalten sollten. Ich bin während meiner Studienzeit in den Niederlanden in die lehrreiche Schule von Rabbi Yehuda Aschkenasy gegangen, der fast seine ganze Familie in der Shoah verloren hat. Er schärfte uns deutschen Studierenden stets ein. „Die Juden von heute das sind die Türken, weil wieder eine Menschengruppe ausgegrenzt und diskriminiert werden soll.“ Bleibt keine Zuschauer, sondern bringt euch in euren Kirchen ein, im Sinne der Verständigung zwischen Juden, Christen und Muslimen, zwischen den verschiedenen Völkern und Staaten.
Auch heute begeben sich viel zu viele Bürger in eine Zuschauerrolle: Dass sich Demokratie und Menschenrechte auch bei uns tagtäglich bewähren müssen und Menschen brauchen, die sich für Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit über alle vermeintlichen Grenzen der Sprache, der Kultur, der Nationalität und der Religiosität hinweg aktiv einsetzen, ist vielen nicht mehr bewusst.
Man versteckt sich hinter den Gardinen des eigenen Erkers, beobachtet stillschweigend die Szenerie – und lässt geschehen. Zum Beispiel, dass so viele Flüchtlingsheime wie noch nie brennen und Anschläge darauf verübt werden wie in Gersheim; dass jüdische Menschen in Deutschland auf offener Straße angegriffen werden, wenn sie sich durch das Tragen einer Kippa zu erkennen geben. Dass Muslime unterschiedslos mit Islamisten identifiziert werden und manche deswegen die positive Religionsfreiheit beschneiden wollen, die doch ein so hohes Gut in unserer Demokratie ist. Man lässt den Dingen seinen Lauf, denkt „was geht’s mich an, sollen sich doch andere darum kümmern“.
Wer aber den Ideologen der AfD, von Saargida, von rechtsradikalen Kreisen, Wehrsportgruppen oder auch der Idenditären Bewegung oder den sog. Reichsbürgern die wieder sog. „gesunde Volksempfinden“ propagieren oder einen Spitzenkandidat der AfD in Saarbrücken aufstellen, der Hakenkreuze und Geld aus den KZs ohne Skrupel in seinem Antiquitätenladen vertreibt, freien Lauf lässt, der gefährdet die Basis unseres Zusammenlebens: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Mitmenschlichkeit und Fairness im Umgang mit Minderheiten und Andersdenkenden. Gut begründeter und sorgfältig argumentierender Widerspruch gegen rechtspopulistische Thesen sind die Christenpflicht!
Deshalb kann die Botschaft zur Reichspogromnacht 2016 nur lauten: Raus aus der Komfortzone der eigenen gedanklichen Wagenburg, raus aus der Zuschauerrolle, die den Dingen ihren Lauf lässt. Nicht hinter den heimischen Gardinen verstecken und denken: „Was kann ich schon mit meiner kleinen Kraft bewirken?“
Gefragt sind Zivilcourage, das aktive persönliche Einstehen für unseren Rechtsstaat und positive und negative Religionsfreiheit, und die Bereitschaft, sich auf offene Diskussionsprozesse in unserer Gesellschaft einzulassen, damit es nicht wirklich zu einem „postfaktischen Zeitalter“ kommt, bei dem man „seine eigenen Vorurteile nicht durch Fakten stören lassen möchte“. Dass so viele junge Menschen sich an dem Gedenken der Reichspogromnacht hier in Homburg beteiligen und sich mit diesem Thema beschäftigen, stimmt hoffnungsvoll. Ihr, die jungen Leute, habt euer Leben noch ganz vor euch, macht was Gutes draus! Ihr könnt in Zukunft das Gesicht Deutschlands durch Menschenfreundlichkeit und Nächstenliebe prägen. Lasst euch auch weiterhin nicht in Hass und Vorurteile hineintreiben. Prüft die Geister und bildet euch selbständig eure Meinung. Nehmt den Impuls Elie Wiesels auf: Bleibt nicht nur Zuschauer, sondern werdet Akteure in Kirche und Gesellschaft. Mit seinen Worten: Seid da, macht euch bemerkbar. Handelt nicht so, als wärt ihr nicht da.
Euch Jungen und allen denen, die euch zu diesem Engagement hinführen und allen anderen, die sich in Homburg um diese Themen kümmern, um durch die Erinnerung an Geschehenes ethische Impulse für eine verbesserliche Welt heute zu geben, sage ich zum Schluss meiner Rede auf Hebräisch und deutsch ein herzliches „Toda! Danke!“.
*Die Rede wurde in wesentlich kürzerer Form gehalten und wurde für die Publikation im Pfälzischen Pfarrerblatt um viele Teile ergänzt, was die Ergebnisse der Forschungen im Handbuch „Protestanten ohne Protest“ und den Umgang nun im Nachhinein damit betrifft.
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