Dr. Paul Metzger
Weinstraße 35, 67278 Bockenheim
Jesus ist zwar die zentrale Gestalt des Christentums, doch wird in der Moderne immer zweifelhafter, wie Jesus im Christentum gesehen werden kann. Dies hängt vor allem mit der Aufklärung und ihren geistesgeschichtlichen Auswirkungen zusammen, da die metaphysischen Selbstverständlichkeiten wegbrechen, die für die Alte Kirche und das reformatorische Zeitalter noch gegeben waren. Die Christusdogmen, vor allem der Glaube an die göttliche Natur Jesu werden fraglich und somit das Verständnis Jesu und sein Verhältnis zum Christentum zu einem Problem.
1. Das Problem der Wunder
In aller Schärfe und Deutlichkeit wird dieses Problem von Hermann S. Reimarus (1694-1768) aufgerissen. Er misstraut den Evangelisten und will wissen, „was Jesu Lehre gewesen, was er gesagt und gepredigt“ [1] hat. Jesus verbleibt für Reimarus „in den Schranken der Menschlichkeit“ [2] und will „die Jüdische Religion in keinem Stücke abschaffen, und stattderselben eine neue einführen.“ [3] Jesus ist für Reimarus demnach nicht Gottes Sohn im dogmatischen Sinn. Seine Jünger sahen in ihm vielmehr einen „weltlichen Regenten und Erlöser“, [4] der ganz auf der Linie eines politischen Messiasverständnisses Israel von der Fremdherrschaft der Römer befreien will. Für Reimarus war Jesus demnach „kein Erlöser des menschlichen Geschlechts, der durch sein Leiden und Sterben die Sünde der ganzen Welt tilgen sollte, sondern ein Erlöser des Volks Israel von der weltlichen Knechtschaft“. [5] Nachdem Jesus aber in Jerusalem gescheitert war, seine Jünger aber ihren von frommen Frauen (Lk 8,2f) finanzierten Lebensstil nicht aufgeben wollten, knüpften sie an die messianische Messiaserwartung an und verkündigten Jesus als den gekommenen Christus, der eine geistige Erlösung gebracht habe. „Die Evangelisten haben folglich, seitdem sie ihr Systema von Jesus [sic!] Lehre und Verrichtungen geändert, Dinge hingesetzt, welche sie vorher würden weggelassen haben, Dinge weggelassen, welche sie vorher würden hineingesetzt haben: und haben dieses in den wichtigsten Punkten gethan, worauf ihr ganzes neues Systema ankommt.“[6]
Jahrhunderte später knüpft Gerd Lüdemann (*1946) an diese Position an und bestreitet die Realität der Auferstehung Jesu. Jesus wird bei ihm zum bloßen Wanderprediger, der zwar „einen grandiosen Verhaltenskodex“ (z.B. Lk 6,20f) lehrte, dessen Auferstehung aber „nur ein frommer Wunsch war.“ [7]
Differenzierter geht David F. Strauß (1808-1874) das Problem an, indem er in Jesus die (von Hegel stammende) Idee der Gottmenschlichkeit realisiert sieht. Für Strauß ist Jesus damit kein gescheiterter, apokalyptischer Prophet, sondern der Gottmensch, der „das jenseitige göttliche Wesen und das diesseitige menschliche Selbst in Eins zusammenschließt.“ [8] Damit sieht Strauß „den inneren Kern des christlichen Glaubens … von seinen kritischen Untersuchungen völlig unabhängig“. [9] Die ewigen Wahrheiten des Christentums bleiben unangetastet, obwohl „ihre Wirklichkeit als historischer Fakta angezweifelt werden mag.“ [10] Um Jesus habe sich „ein unhistorischer Kreis sagenhafter Verherrlichung“ [11] gebildet, und „das einfach historische Gerüste des Lebens Jesu … wurde mit den manchfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen und Phantasieen [sic!] umgeben.“ [12] Historisch sei aber klar, dass „Jesus die Überzeugung, der Messias zu sein, gehabt und ausgesprochen habe“ [13] (Mt 16,16; 26,64; Joh 4,26; 18,37). Die Wiederherstellung des Reiches Israel habe er sich allerdings nicht wie bei Reimarus als militärisch-innerweltlichen Akt gedacht, sondern als die eschatologische Wende, die Gott herbeiführen werde, „der allein die rechte Zeit für diese Katastrophe wisse“ [14](Mk 13,32).
An die historischen Einsichten von Reimarus und Strauß knüpfen produktiv Johannes Weiß (1863-1914; „Die Predigt vom Reich Gottes“) und Albert Schweitzer (1875-1965; „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“) an und erkennen in Jesus „die Enderscheinung des eschatologisch-apokalyptischen Spätjudentums“. [15]
Weiß stimmt mit Strauß überein, dass nach Mk 4,28 allein Gott das neue Gottesreich bringen kann, in dem Jesus mit seinen Jüngern herrschen wird. Schweitzer zeichnet Jesus in den Horizont einer akuten Naherwartung ein (Mt 10,23), der durch seinen Zug nach Jerusalem die in seinen Augen notwendige, dem Kommen des Messias vorhergehende Leidenszeit herbeizwingen will. Nach ihm „setzt Jesus seine natürliche Verurteilung und Hinrichtung mit der geweissagten vormessianischen Drangsal gleich. … Jesus bricht also gegen Ostern nach Jerusalem auf, einzig um dort zu sterben.“ [16]
Für diese Linie lässt sich also zusammenfassend sagen, dass Reimarus, Strauß, Weiß und Schweitzer Jesus als jüdischen Propheten in einem apokalyptischen Horizont sehen und ihn dezidiert als dem aufgeklärten Menschen abständige Gestalt vorstellen.
Das führt in der Gegenwart manche moderne Zeitgenossen dazu, der christlichen Religion einen „Jesuswahn“ [17] zu attestieren und zu erklären, dass das Christusbild, auf das die Kirchen aufbauen, „mit dem historischen Jesus nicht mehr das Geringste zu tun“ [18] habe. Und das sei auch gut so, da Jesus ein „religiöser Extremist“ gewesen sei, dessen Verkündigung „von Gerichtsgedanken und Höllenglauben“ [19] geprägt gewesen sei.
2. Der besondere Mensch
Eine andere Linie versucht, Jesus der aufgeklärten Zeit Gegenwart anzunähern, durchforstet deshalb die biblische Überlieferung rational und eliminiert der Vernunft unzumutbare (also historisch nicht plausibel zu machende) Stellen, um so zu zeigen, dass Jesus als ausgezeichneter Mensch Erlösung bringt. So wird wieder ein Jesusbild gezeichnet, das dem aufgeklärten Bewusstsein zwar nicht zuwider läuft, aber trotzdem zentrale dogmatische Aussagen aufgibt.
Johann F.W. Jerusalem (1709-89) verabschiedet in seinen „Nachgelassene[n] Schriften“ von 1792/93 die überkommene Metaphysik (und damit das eigentliche Christusdogma) und zeichnet Jesus als göttlichen Boten, der eine moralische Vollkommenheit lehrte und selbst verkörperte.
Heinrich E.G. Paulus (1761-1851) bewegt sich auf einer ähnlichen Linie, nimmt in seinem „Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums“ von 1828 vor allem aber die Wundererzählungen der Evangelien in den Blick und reinigt sie von unvernünftigen Zügen, um so „in den vom Wundersamen entfernteren Zeitaltern … die Verständigkeit [zu befriedigen, um] die Gültigkeit der Sache“ [20] zu bewahren: „Das Wunderbare von Jesus ist Er selbst. Sein rein und heiter heiliges, und doch zur Nachahmung und Nacheiferung für Menschengeister achtmenschliches Gemüth.“ [21] So erweckt Jesus für Paulus also nur Scheintote zum Leben (Lk 7,11-14), heilt Kranke durch Öl und Diät und stirbt selbst auch nicht am Kreuz, sondern erleidet dort eine nach innen fortschreitende Erstarrung (Mk 16,2), [22] die durch die „frische Kühlung der neuen Felsengrotte“ und andere „Spezereien“ wieder aufgehoben wird. [23] Paulus geht es also um ein vernünftiges Jesusbild, in dem der antike Wunderglaube keinen Platz mehr hat und gibt dabei das zentrale Wunder des Christentums preis: die Auferweckung Jesu von den Toten.
Willibald Beyschlag (1823-1900) sieht in Lk 2,41-52 einen historisch verlässlichen Beleg für die geistige Entwicklung Jesu und macht die Erzählung zum Ausgangspunkt des Selbstverständnisses Jesu. In Jesus habe die „Fülle der Gottheit“ (Kol 2,9) sich auf Erden gezeigt und es sei daher die wesentliche Aufgabe der Theologie, das Leben Jesu in der Weise darzustellen, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens erwiesen werden kann. Denn schließlich sei der Eindruck, den Jesu Persönlichkeit auf seine Zeitgenossen gemacht habe, der Ausgangspunkt des christlichen Glaubens.
Die Konzentration auf das besondere „Gemüt“ Jesu kennzeichnet das Jesusbild von J.G. Wilhelm Herrmann (1846-1922), der die Gläubigen getäuscht sieht, wenn man ihnen die Berichte der Evangelien als „Hauptsache entgegenhält, an die sie ,glauben‘ müssten, damit sie den Erlöser finden.“ [24] „Verkehr mit Gott“ gewinnt der Mensch aber, indem er „den Menschen Jesus als etwas zweifellos Wirkliches“ [25] antrifft und „durch die Kraft [seines] inneren Lebens“[26] zum eigenen „Verkehr mit Gott“ angeregt wird.
Ähnlich verweist Ernst Troeltsch (1865-1923) in seiner „Glaubenslehre“ auf den „außerordentlichen Eindruck seiner Persönlichkeit“ [27] und fragt lediglich nach der „von Jesus historisch-psychologisch ausgehende[n] Wirkung“ [28] für das eigene Leben. Für ihn sind „die Predigt und das Sendungsbewußtsein Jesu als historische Tatsachen gesichert“, [29] sodass er nicht selbst als Erlöser („Erlöser bleibt Gott“. [30]), sondern als „Führer zu Gott“ [31] anzusehen ist.
Diese Sicht teilt auch Adolf v. Harnack (1851-1930) in seinen Vorlesungen zum „Wesen des Christentums“ und sieht z.B. in Mk 10,45 einen Beleg dafür, dass sich Jesus als Prophet versteht, die Menschen zu Gott führen soll. [32] Zwar gehört er nicht in das Evangelium hinein, weshalb Joh 10,36 seiner Meinung nach dem Evangelium etwas hinzufügt, das Jesus nicht gesagt hat, doch ist Jesus für Harnack die „persönliche Verwirklichung und die Kraft des Evangeliums gewesen“, [33] an dem sich das „Feuer“ des persönlichen Lebens entzünden kann.
Gesteigert wird das Interesse am Menschen Jesus in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im ethischen Bereich. Dazu gehört z.B. Dorothee Sölle (1929-2003), die Jesus „für den glücklichsten Menschen hält, der je gelebt hat“, [34] erklärt Jesus aus der ihm inne wohnenden Freiheit, und sieht in ihm denjenigen, der Gott als „Befreiung“ des Menschen nahebringt und so ein ethisches System grundlegt, das sich auf die „Phantasie Christi [als] Phantasie der Hoffnung“ [35] gründet. Adolf Holl kennzeichnet in dieser Hinsicht den „realen Jesus“ z.B. als „Unmutserreger und Provokateur, Stein des Anstoßes und Skandalmacher“, [36] an dem „sich ein Besserungswille der Gattung Mensch“ [37] ansetzen sollte. In dieser Hinsicht kann Jesus kommunistisch gedacht werden, wie bei Camilo Torres (1929-1966), der Jesus als Revolutionär sieht und für sich selbst behauptet damit, Mt 5,23f umzusetzen. [38] Selbst atheistisch lässt sich Jesus so denken und Mt 4,17 interpretieren als Aufruf zur „vollkommenen Menschlichkeit“ (Milan Machovec; 1925-2003). [39]
Während also eine Linie Jesus als fremden Propheten versteht, rückt ihn eine andere Linie als brüderlichen Lehrer sehr nahe an das Erleben des Menschen heran. Beiden gemeinsam sind die Unterdrückung wesentlicher dogmatischer Gehalte der Christologie und die Betonung des Mensch-Seins Jesu.
3. Das „Leben Jesu“ als Holzweg
Das Bemühen um das Leben Jesu halten andere Denker für einen theologischen „Holzweg“.[40] Für Martin Kähler (1935-1912) geht es zum einem um historische Redlichkeit („Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu.“ [41]) und zum anderen um die theologische Einsicht, dass es im Christentum nicht auf Jesu Leben ankommt, sondern mit Verweis auf Röm 10,10 auf seine Bedeutung als Christus, es geht ihm also um „ein glaubwürdiges Bild des Heilandes für Gläubige.“ [42] Treffend beobachtet Kähler, dass es der Leben-Jesu-Forschung darauf ankommt, hinter der biblischen Überlieferung „den wirklichen Jesus heraus[zu]holen“, [43] in der Hoffnung, dass dieser „glaubwürdiger“ sei als der biblische. Motiviert durch Joh 14,9 sucht der Mensch in Jesus nicht seinesgleichen, sondern seinen „Heiland“. [44] Deshalb sieht Kähler die Forschung, die den Menschen Jesu in den Vordergrund schiebt als nutzlos an und lenkt den Blick auf Jesus als „der offenbare Gott“. [45] Diesen Jesus lernt der Mensch aber nur in der Schrift kennen, [46] weshalb alles darauf ankommt, die persönliche Wirkung Jesu auf seine Jünger zu beachten, die sich in der Schrift niedergeschlagen hat. [47] Der Jesus, auf den es ankommt, ist also der des Glaubens wie er in den Schriften des Neuen Testament gezeichnet ist. Kähler greift hier einen Gedanken seines Lehrers Richard Rothe auf, der in den biblischen Schriften „das Lichtbild, welches der historische Christus unmittelbar, d.h. ohne den Dazwischentritt einer bedeutenden menschlichen Reflexion, in das Bewusstsein seiner empfängliche Umgebung reflectirt hat.“ [48] Für Kähler ist demnach Jesus an sich bedeutungslos, da alles auf seine Wirkung auf seine Jünger ankomme.
Diesem Urteil stimmt in jüngster Zeit Klaus Wengst (*1942) energisch zu, der ausdrücklich davor warnt, immer wieder neu in die Sackgassen um den historischen Jesus zu geraten. Seiner Meinung nach haben Theologen keinen Grund, sich mit dem Leben Jesu zu befassen.
Den Wirkungsgedanken baut dann Rudolf Bultmann (1884-1976) aus und konstatiert, dass für ihn „das Interesse an der ,Persönlichkeit‘ Jesu ausgeschaltet“ [49] sei, weil wir erstens „vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können“ [50] und dies zweitens nach 2. Kor 5,16 auch theologisch irrelevant sei. Nicht die Persönlichkeit Jesu sei entscheidend, sondern „der Verkündiger mußte zum Verkündigten werden. Das Daß seiner Verkündigung ist ja gerade das Entscheidende.“ [51] Da diese Position das Anliegen der urchristlichen Überlieferung übersieht, eine – wie auch immer zu bestimmende – Identität zwischen dem historischen Jesus und dem verkündigten Christus festzuhalten (vor allem die Evangelienschreibung unternimmt dies dezidiert), folgen selbst viele Schüler Bultmanns diesem Ansatz nicht. Ernst Käsemann treibt die Frage wieder voran, indem das theologische Interesse der Fragestellung hervorhebt und ausdrücklich vor einem „Desinteressement am irdischen Jesus“ [52] warnt.
In der Folge erobert sich vor allem die exegetische Forschung die Frage nach Jesus zurück („Third Quest of the historical Jesus“) und zeichnet ihn deutlich als Juden in einem jüdischen Umfeld. [53] Jesus wird charakterisiert als „jüdischer Charismatiker, der … eine außernormale Ausstrahlungs- und Irritationsmacht ausübte.“ [54]
Gegenüber der Position Bultmanns kennzeichnet die neuere Theologie einerseits vor allem im exegetischen Bereich eine Abkehr von allzu skeptischen historischen Urteilen und die Hinwendung zur Kategorie des „erinnerten Jesus“. Vor allem Jens Schröter [55] und James Dunn [56] betonen, dass der Versuch, „echtes“ Jesusgut mittels überlieferungsgeschichtlichen Kriterien zu ermitteln, sinnlos ist. Dem Versuch Kählers, den „wirklichen Jesus“ in den Mittelpunkt zu rücken, nicht ganz unähnlich, betont diese Forschungslinie: „All we have is the remembered Jesus.“ [57]
4. Die „neue“ Christologie
Bereits bei Sören Kierkegaard (1813-1855) klingt bereits im 19. Jahrhundert eine dogmatische Ausrichtung der Jesusforschung an. Er erkennt im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen in Jesus in erster Linie das Paradox des Glaubens (als solches ist er „eine überaus ungeschichtliche Person“ [58]): Christus „ist das Unbedingte“. [59] Das Leben Jesu (wie es die Evangelien schildern) ist demnach für Kierkegaard uninteressant, da es ihm ganz darauf ankommt, dass Gott die Knechtsgestalt Jesu angenommen hat (Mt 11,28) und dem Menschen so ermöglicht, in dem „Augenblick“, in dem „der Verstand und das Paradox … glücklich aufeinander stoßen“, jene „Leidenschaft“ zu erfahren, die Kierkegaard „Glaube“ nennt. [60]
Daran knüpft im 20. Jahrhundert die Position Karl Barths (1886-1968) an, der ebenso wie sein Zeitgenosse Bultmann die historische Rückfrage nach Jesus als theologisch erledigt betrachtet. Barth legt den Eingang des Römerbriefs (Röm 1,1-4) dahingehend aus, dass sich in Jesus „zwei Ebenen“ [61] schneiden, die bekannte der Welt und die unbekannte Gottes. Jesus ist der „Schnittpunkt“ [62] dieser Ebenen: „Jesus als der Christus ist die uns unbekannte Ebene, die die uns bekannte senkrecht von oben durchschneidet.“ [63] Weil er die „Welt des Vaters“ bringt, „von der wir innerhalb der historischen Anschaulichkeit nichts wissen und nie etwas wissen werden“, [64] können wir von ihm historisch nichts wissen, das heute noch Relevanz besitzt. Ähnlich wie Bultmann verweist auch Barth auf 2.Kor 5,16 und erklärt die entscheidende Bedeutung Jesu mit der „Einsetzung des Menschensohns als Sohn Gottes. Was er abgesehen von dieser Einsetzung ist, das ist so wichtig und so unwichtig wie alles Zeitliche, Dingliche und Menschliche an sich sein kann.“ [65]
Bemerkenswert bei Barth ist angesichts dieser Überlegungen, dass er der historischen Kritik nicht ihre Bedeutung abspricht, sondern die Exegese seiner Zeit auffordert, sich weiterzuentwickeln. [66] Darin trifft er sich mit den Überlegungen Joseph Ratzingers (Benedikt XVI.; *27), der seine Jesus-Bücher ausdrücklich mit dem Anspruch schreibt, „den wirklichen Jesus“ [67] seinen Lesern nahe zu bringen und diesen so aus der Verwirrung zu helfen, die die kritische Forschung verursacht hat. Er will verhindern, dass „die innere Freundschaft mit Jesus, auf die doch alles ankommt, … in Leere“ [68] greift. Das Konzept, den historischen Jesus mit dem wirklichen Jesus gleich zu setzen, läuft aber nicht nur „auf eine Harmonisierung von historischer und theologischer Perspektive hinaus“, [69] sondern überfordert auch die historische Forschung, da Ratzinger ihr zutraut, die Gottheit Jesu „historisch plausibel zu machen“. [70] Ratzinger unterliegt damit dem gleichen Irrtum wie Willibald Beyschlag ca. 100 Jahre früher. Der Papst und der Gründer des Evangelischen Bundes – gemeinsam auf dem Holzweg. Eine schöne ökumenische Ironie der Geschichte.
Wolfhart Pannenberg (*1928) spricht mit mit Verweis auf 1.Kor 15,13.16.20 davon, dass „die Auferstehungshoffnung [schon] vorausgesetzt sein [muß]…, wenn man von der Auferweckung Jesu spricht.“ [71]
Pannenberg übersetzt den apokalyptischen Horizont des Paulus in einen anthropologischen und erkennt die Erwartung einer allgemeinen Auferstehung der Toten „als philosophisch sachgemäße[n] Ausdruck der menschlichen Bestimmung.“ [72] In diesem Deutehorizont verortet er die Auferstehung Jesu als „ein historisches Ereignis“ [73], als Prolepse dessen, was als Eschaton Ziel der Geschichte ist und sieht so durch die historische Analyse der Jesusüberlieferung den Osterglauben verifiziert.
Bei Jürgen Moltmann (* 1926) wird die historische Methode nicht so stark belastet wie bei Ratzinger und Pannenberg. Ihn kennzeichnet aber das analoge Interesse, die Bedeutung Jesu für die Gegenwart deutlich zu machen und so der „Relevanz-“ und „Identitätskrise“ [74] des christlichen Lebens zu begegnen. Für ihn ist Jesus von Nazareth „der Messias auf dem Weg und der Messias im Werden“. [75] Moltmann nimmt Einsichten der reformierten Tradition auf und der gegenwärtigen Jesusforschung vorweg, wenn er die Vergegenwärtigung Christi im Abendmahlsgeschehen in der Perspektive der Erinnerung fasst: „Wir nehmen Jesus als den Christus in erinnerter Hoffnung wahr.“ [76]
Während so unterschiedliche Theologen wie Barth, Ratzinger, Pannenberg und Moltmann also die historische Frage nach Jesus nicht verneinen, aber für ihre systematischen Entwürfe eines Jesusbildes nur sehr bedingt und in ihrer jeweiligen Eigenart heranziehen, versteht sich Joachim Ringleben zwar dezidiert als „Bibelleser“, reiht sich aber in gewissem Sinne auch in dieser Linie ein, indem er auch „das Göttliche an Jesu Menschsein von Gott her begreifen“ [77]will. Eine Besonderheit dieses systematischen Entwurfs besteht darin (analog zu Ratzinger), an ausgewählten Evangelientexten (vor allem am Markusevangelium) entlang zu gehen, und die Erfassung der Gestalt Jesu als Interpretation dieser Texte zu entwerfen. Ihm geht es darum, das Selbstverständnis Jesu und dessen „besonderes Gottesverhältnis von Gott her zu denken“ [78] und somit Gott selbst neu zu denken. Ringleben kennzeichnet Jesus mit Verweis auf Joh 1,18 als den Exegeten der Vätersprache, [79] der sein Selbstverständnis darin findet, selbst Wort zu sein. Jesus wird bei Ringleben damit zum Wortgeschehen, in dem Gott sich selbst als Vater genau dieses Sohnes hervorbringt. [80] Insofern wohnt der Christusgeschichte eine „Perspektive ins Unabsehbare“ [81] inne, indem das „Christusereignis das sich Ereignen Gottes ist“, [82] also ein „Geschehen zwischen Zeit und Ewigkeit derart, dass Jesu Lebensgeschichte … in die lebendige Ewigkeit Gottes … hineingenommen wird, was ein völlig neues Verständnis von Ewigkeit zur Durchsetzung bringt. Diese Geschichte ist Gottes eigene Lebensgeschichte, und in Gottes ewigem Leben schlägt ein menschliches Herz.“ [83]
[1] [1] Hermann S. Reimarus, Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten, hg.v. G.E. Lessing, Berlin 41855, 6.
[2] [2] Reimarus, Fragmente, 29.
[3] [3] Reimarus, Fragmente, 45.
[4] [4] Reimarus, Fragmente, 74.
[5] [5] Reimarus, Fragmente, 73.
[6] [6] Reimarus, Fragmente, 79.
[7] [7] Gerd Lüdemann, Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat, Lüneburg 1998, 10f.
[8] [8] David F. Strauß, Das Leben Jesu. Kritisch bearbeitet II, Tübingen 41840, 705f.
[9] [9] David F. Strauß, Das Leben Jesu. Kritisch bearbeitet I, Tübingen 41840, VII.
[10] [10] Strauß, Leben Jesu, VII.
[11] [11] Strauß, Leben Jesu, 71.
[12] [12] Strauß, Leben Jesu, 72.
[13] [13] Strauß, Leben Jesu, 469.
[14] [14] Strauß, Leben Jesu, 494.
[15] [15] Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 91984, 65.
[16] [16] Schweitzer, Geschichte, 444f.
[17] [17] So der Titel des Buches von Heinz-Werner Kubitza, Der Jesuswahn: Wie die Christen sich ihren Gott erschufen. Die Entzauberung einer Weltreligion durch die wissenschaftliche Forschung, Marburg 22011.
[18] [18] Kubitza, Jesuswahn, 216.
[19] [19] Kubitza, Jesuswahn, 216.
[20] [20] Heinrich E.G. Paulus, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums I, Heidelberg 1828, 280.
[21] [21] Paulus, Leben Jesu, XI.
[22] [22] Vgl. Paulus, Leben Jesu, 290.
[23] [23] Paulus, Leben Jesu, 288.
[24] [24] Wilhelm Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, Stuttgart 41903, 66.
[25] [25] Herrmann, Verkehr, 49.
[26] [26] Herrmann, Verkehr, 65.
[27] [27] Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912 hg. v. Getrud von Le Fort, München 1925, 102.
[28] [28] Troeltsch, Glaubenslehre, 103.
[29] [29] Troeltsch, Glaubenslehre, 113.
[30] [30] Troeltsch, Glaubenslehre, 115.
[31] [31] Troeltsch, Glaubenslehre, 115.
[32] [32] Adolf v. Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1900, 91.
[33] [33] Harnack, Wesen, 91.
[34] [34] Dorothee Sölle, Phantasie und Gehorsam, Stuttgart 1968, 63.
[35] [35] Sölle, Phantasie, 70.
[36] [36] Adolf Holl, Jesus in schlechter Gesellschaft, Stuttgart 1971, 165,
[37] [37] Holl, Jesus, 185.
[38] [38] Vgl. Hildegard Lüning, Camilo Torres, Priester, Guerrillero. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Hamburg 1969, 9.
[39] [39] Milan Machovec, Jesus für Atheisten, Stuttgart 1972, 99.
[40] [40] Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus, Leipzig 21928, 47.
[41] [41] Kähler, Jesus, 49.
[42] [42] Kähler, Jesus, 49.
[43] Kähler, Jesus, 57.
[44] [44] Kähler, Jesus, 59.
[45] [45] Kähler, Jesus, 61.
[46] [46] Kähler, Jesus, 61: „Wo lernen wir diesen Jesus kennen?“
[47] [47] Vgl. Kähler, Jesus, 63.
[48] [48] Richard Rothe, Zur Dogmatik, Gotha 1863, 305-307.
[49] [49] Rudolf Bultmann, Jesus, Tübingen 21929, 10.
[50] [50] Ebd.
[51] [51] Rudolf Bultmann, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, GuV I, 188-213, hier: 204f.
[52] [52] Ernst Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960,187-214, hier: 212f.
[53] [53] Vgl. z.B. Jens Schröter, Jesus im Judentum seiner Zeit, MThZ 64, 2013, 157-173.
[54] [54] Gerd Theißen/Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 486.
[55] [55] Jens Schröter, Die Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neukirchen-Vluyn, 1997.
[56] [56] James D.G. Dunn, Jesus Remembered. Christianity in the Making I, Grand Rapids 2003.
[57] [57] Dunn, Jesus, 672.
[58] Sören Kierkegaard, Einübung ins Christentum, GW 18, Gütersloh, 71.
[59] [59] Kierkegaard, Einübung, 70.
[60] [60] Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken, GW 10, Gütersloh 1981, 55f.
[61] [61] Karl Barth, Der Römerbrief, München 21922, 5.
[62] [62] Barth, Römerbrief, 5.
[63] [63] Barth, Römerbrief, 6.
[64] [64] Barth, Römerbrief, 6.
[65] [65] Barth, Der Römerbrief, 6.
[66] [66] Barth, Der Römerbrief, XVI.
[67] Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth I, Freiburg u.a. 2007, 20.
[68] [68] Ratzinger, Jesus, 11.
[69] [69] Martin Bauspieß, Auf der Grenze von Theologie und Geschichte. Joseph Ratzingers „Jesus von Nazareth“, in: Paul Metzger (Hg.), Die Konfession Jesu, BensH 112, Göttingen 2012, 101-130, hier: 128.
[70] [70] Bauspieß, Grenze, 128.
[71] Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 77.
[72] [72] Pannenberg, Grundzüge, 84.
[73] [73] Pannenberg, Grundzüge, 95.
[74] [74] Jürgen Moltmann, Der gekreuzigten Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972, 12.
[75] Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi: Christologie in messianischen Dimensionen, Gütersloh 1989, 160.
[76] [76] Moltmann, Weg, 21.
[77] Joachim Ringleben, Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2008, VII.
[78] [78] Ringleben, Jesus, 4.
[79] [79] Ringleben, Jesus, 230.
[80] Ringleben, Jesus, 652.
[81] [81] Ringleben, Jesus, 652.
[82] Ringleben, Jesus, 653.
[83] [83] Ringleben, Jesus, 653.
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