Prof. Dr. Wolfgang Kraus
Kurt-Schumacher-Straße 27, 93049 Regensburg
Das Neue Testament – jüdisch erklärt
Zu einer neuen Publikation
Das Neue Testament – jüdisch erklärt (NTJE) ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels. Es gibt zwar schon seit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit jüdische Beschäftigung mit dem Neuen Testament und insbesondere mit Jesus, aber sie war v.a. apologetisch und polemisch ausgerichtet. Eine konstruktivere Beschäftigung damit erfolgte im Zuge der jüdischen Emanzipation im 19. und verstärkt im 20. Jh. Doch dieses Buch, an dem 84 jüdische Wissenschaftler*innen mitgearbeitet haben, stellt eine neue Qualität dar: Diese Autor*innen verstehen das Neue Testament, die Basis des Christentums, fast durchweg als einen Ausdruck der jüdischen Tradition. Ähnlich wie Leo Baeck es im Jahr 1938, dem Jahr der Pogrome, schon einmal formuliert hat: „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“. Leo Baecks Buch wurde sogleich nach seinem Erscheinen durch die Gestapo beschlagnahmt und größtenteils vernichtet. Es konnte seinerzeit nicht die ihm gebührende Wirkung entfalten. Aber das Programm, das im Titel zum Ausdruck kommt, ist geblieben. Und im NTJE wird erstmals das gesamte NT durch jüdische Forscher*innen bearbeitet.
„Jesus war kein Christ, sondern Jude. Er verkündete keinen neuen Glauben, sondern er lehrte, den Willen Gottes zu tun.“
Als ich im Theologiestudium diesen Satz des christlichen Alttestamentlers und Religionsgeschichtlers Julius Wellhausen das erste Mal gehört habe, zuckte ich zusammen. Jesus kein Christ, sondern Jude? Das hatte mir in meinem evangelikalen Milieu, aus dem ich kam, noch niemand gesagt. Jesus sollte kein Christ gewesen sein? Das musste ich erst einmal verdauen.
Als Pinchas Lapide, ein jüdischer Religionswissenschaftler, der sich im letzten Drittel des 20. Jh.s sehr für den jüdisch-christlichen Dialog eingesetzt hat, in einer Diskussionsveranstaltung die Bemerkung fallen ließ: „Das Christentum ist die einzige Religion, deren Religionsstifter einer anderen Religion angehörte“, konnte ich das als ironische Bemerkung verstehen und darüber schmunzeln, ohne irritiert zu sein.
Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat im Jahr 2018 einen Vortrag publiziert unter dem Titel „Jesus und Judas. Ein Zwischenruf“. Zu Beginn verweist Amos Oz auf seinen Großonkel Joseph Klausner (1874-1958), der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein bedeutendes wissenschaftliches Buch über „Jesus von Nazaret“ und ein nicht weniger bedeutsames mit dem Titel „Von Jesus zu Paulus“ geschrieben hat.
Amos Oz erinnert sich: „Als kleiner Junge besuchte ich eine äußerst traditionelle orthodoxe jüdische Schule in Jerusalem. Wir wurden angewiesen, jedes Mal, wenn wir an einer Kirche oder einem Kreuz vorübergingen, unsere Augen abzuwenden und in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Als Begründung hieß es: ‚Wir Juden haben seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden, wegen dieses Menschen gelitten.‘ Orthodoxe Juden nennen Jesus häufig nicht bei seinem Namen, sondern bezeichnen ihn abfällig als ‚diesen Menschen‘. Onkel Joseph aber sagte, das dürfe ich niemals tun: ‚Wann immer du eine Kirche oder ein Kreuz siehst, sieh ganz genau hin, denn Jesus war einer von uns, einer unserer großen Lehrer, einer unserer bedeutendsten Moralisten, einer unserer größten Visionäre.‘“ Jesus war „einer von uns“.
Diese Erkenntnis, dass Jesus ins Judentum gehört, steht vor dem Beginn der Beschäftigung mit dem Jewish Annotated New Testament (JANT), dessen erste Auflage im Jahr 2011 bei Oxford University Press erschienen ist. Als ich der Herausgeberin Amy-Jill Levine bei der Jahrestagung der Society of New Testament Studies in Amsterdam 2015 begegnete, schlug ich ihr vor, die englische Ausgabe auch auf Deutsch herauszubringen: „oh, wonderful, great idea“ war ihre Reaktion.
Amy-Jill Levine wies darauf hin, dass eine zweite Auflage in Bearbeitung sei und man das Erscheinen der zweiten, viel umfangreicheren Ausgabe abwarten solle, inzwischen aber schon Vorbereitungen treffen könne. Die zweite Auflage der englischen Ausgabe erschien im Herbst 2017. Wir hatten allerdings bereits vorher Zugang zu den Druckdateien und konnten die Arbeit an der deutschen Ausgabe schon 2016 aufnehmen.
„Wir“ das sind Michael Tilly, Neutestamentler und Judaist aus Tübingen, Axel Töllner, Historiker und Beauftragter der Evang.-Luth. Kirche in Bayern (ELKB) für christl.-jüd. Dialog aus Neuendettelsau, und ich als Herausgeber; Florian Voss von der Deutschen Bibelgesellschaft (DBG) als Koordinator, Monika Müller und Jan Raithel als Übersetzer, wobei Jan Raithel mehr und mehr in die Rolle eines Mitarbeiters hineinschlüpfte.
Das NTJE enthält Einleitungen zu allen ntl. Büchern, fortlaufende Erläuterungen zu den einzelnen Versen, Info-Boxen zu Sachfragen des Textes, Essays mit breiteren Ausführungen zu bestimmten wichtigen Themen und einen Anhang mit Karten, Litaraturhinweisen etc.
Bei bestimmten Essays haben wir Ergänzungen aufgenommen, die sich auf die Situation in Deutschland bzw. in Europa beziehen. Ebenso wurden einige zusätzliche Essays in die deutsche Ausgabe aufgenommen. Auch sie beziehen sich auf Spezifika der Situation in Deutschland und Europa. Es handelt sich um „Ertragen können wir sie nicht“ – Martin Luther und die Juden von Walter Homolka, Franz Rosenzweig und Luthers Bibelübersetzung von Micha Brumlik, Zum jüdisch-christlichen Dialog im deutschsprachigen Raum von Jehoschua Ahrensund Wegbereiter des jüdisch-christlichen Dialogs im 19. und 20. Jh. im deutschsprachigen Raum von Daniel Alter.
Der fruchtbare Dialog zwischen Juden und Christen – Christen und Juden hat in den letzten Jahrzehnten mit dazu beigetragen, dass beide Seiten gelernt haben, sich besser zu verstehen und zu respektieren. Das JANT ist nicht nur selbst eine Frucht dieses Dialogs, sondern es liefert einen herausragenden jüdischen Beitrag zur Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses und bietet zahlreiche Impulse für die Weiterentwicklung einer neuen Bestimmung des christlich-jüdischen Gesprächs. Die Beschäftigung mit dem Neuen Testament aus jüdischer Perspektive kann sowohl für Christen als auch für Juden von großer Bedeutung sein.
Die Voraussetzung für eine jüdische wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Neuen Testament ist die historisch-kritische Bibelforschung, die in der Zeit der Aufklärung seit dem 18. Jh. in Deutschland entstanden ist. War es in den Jahrhunderten vorher so, dass das kirchliche Dogma den Rahmen bildete, innerhalb dessen ausschließlich von Jesus gesprochen werden konnte, so wurde dies durch die Aufklärung problematisiert. Auch der historische Jesus, der Jesus des gelebten Lebens, der Handwerkersohn aus Nazaret wurde vorher vom Dogma her verstanden als wahrer Gott und wahrer Mensch. Jetzt fing man an, die Texte untereinander zu vergleichen und stellte Unterschiede, ja Widersprüche fest und konnte Entwicklungslinien herausarbeiten. Bestimmte vorher das Dogma über die Historie, was sein kann und was sein darf, so bestimmte jetzt die Historie selbst die Anschauung, und das Dogma wurde von ihr her kritisiert.
Für heutige Teilnehmer*innen eines Proseminars ist der synoptische Vergleich, der dazu führt, Tendenzen in der Darstellung des jeweiligen Evangelisten zu erkennen, nichts Ungewöhnliches, sondern Normalität. Das war in der Zeit vor der historisch-kritischen Forschung anders. (Als Beispiel: Nach Mk 1,13 ist Jesus 40 Tage in der Wüste und wird in dieser Zeit vom Satan versucht [es wird ein Partizip Präsens verwendet]. Nach Mt 4,1-11 wird Jesus nach 40 Tagen und Nächten des Fastens dreimal vom Satan versucht. Lk 4,1-13 bietet eine andere Reihenfolge der drei Versuchungen.)
Diese Art der Forschung, die im protestantischen Bereich entstanden und heute nicht mehr wegzudenken ist, wurde auch im Judentum im Zuge der Aufklärung übernommen. Insgesamt gab es viele jüdische Autoren, die sich mit dem Neuen Testament beschäftigten. Walter Homolka nennt in seinem Jesusbuch 34 jüdische Autoren und aus jüngerer Zeit auch Autorinnen. Es gibt aber noch mehr. Man hat diese Geschichte der jüdischen Beschäftigung mit dem Neuen Testament als „die Heimholung Jesu ins Judentum“ bezeichnet. Jesus wird dabei in der Regel verstanden als prophetischer Mahner, exemplarischer Jude, Revolutionär oder Freiheitskämpfer, (Hyper-)Pharisäer, Exorzist, großer Bruder und messianischer Zionist. Ich nenne drei exemplarische und markante Personen.
1. Abraham Geiger (1810-1874)
Einer der ersten, der auf jüdischer Seite diese Art Forschung betrieb, war Abraham Geiger. Er war Rabbiner und einer der Wegbereiter des liberalen Judentums. Seine Absicht war es, eine „Gegengeschichte“ zu schreiben zu dem traditionellen christlichen Verständnis Jesu und des Christentums. Wurde Jesus etwa von Friedrich Schleiermacher, dem sog. Kirchenvater des 19. Jh.s, möglichst weit vom Judentum und dem Alten Testament abgerückt, so stellte ihn Abraham Geiger mitten hinein ins Judentum. Schleiermacher war an Jesu einzigartiger Religiosität interessiert; dieser Zugang ermöglichte es ihm, alles Jüdische zu vernachlässigen. Was ihn interessierte, war Jesu religiöses Bewusstsein und zwar im Sinn einer allgemeinen Humanität. Dass dieser Mensch ein Jude war, spielte für Schleiermacher keine Rolle und war eher störend.
Geiger hingegen zeichnet von Jesus das Bild eines Pharisäers, der in seiner Zeit großen Einfluss gewann. Jesu Lehren und Handeln kennzeichne nichts Einzigartiges oder Originelles. Seine gesamte Lehre lasse sich im pharisäischen Schrifttum wiederfinden.
Auf seiten des Christentums wurde Geigers Position – die durchaus der Polemik nicht entbehrt – nicht als Aufforderung empfunden, sich mit den jüdischen religionsgeschichtlichen Quellen intensiver zu beschäftigen oder gar als Angebot, in ein Gespräch einzutreten, sondern einfach nur als Anmaßung.
2. Joseph Klausner (1874-1958)
Joseph Gedalja Klausner, wie er mit seinem vollen Namen heißt, wurde 1874 in der Nähe von Vilnius geboren. Er wuchs in einer sehr traditionellen Familie auf, studierte dann u.a. in Heidelberg, wurde mit einer Dissertation über Die Messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten, kritisch untersucht und im Rahmen der Zeitgeschichte dargestellt zum Dr. phil. promoviert und ging 1919 nach Palästina, wo er die Hebräische Universität mitbegründet hat. 1922 erschien auf Hebräisch sein Buch Jeschu ha-Notsri, das 1930 ins Deutsche übersetzt wurde: Jesus von Nazaret. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre. Klausners Buch war die erste große wissenschaftliche Darstellung von Jesu Leben und Lehre aus jüdischer Feder. Alles aus seiner Lehre lässt sich nach Klausner durch das zeitgenössische pharisäische Judentum erklären. Klausner schrieb auf der Höhe der damaligen kritischen Forschung. Er zog auch Quellen heran, die bislang wenig Berücksichtigung erfahren hatten.
Wo bestehen Gegensätze zum zeitgenössischen Judentum? Klausner entdeckt Gegensätze darin, dass Jesus (1) eine extreme Ethik propagierte, die nur für Einzelne, aber nicht für eine Gemeinschaft parktikabel war und – hier spricht der Zionist – Klausner findet sie (2) in der Tatsache, dass Jesus dem Gedanken der jüdischen Nation zu wenig Aufmerksamkeit zollte. Sowohl auf jüdischer wie auf christlicher Seite fand sein Buch freudigste Zustimmung und heftigsten Widerspruch.
3. Géza Vermes (1924-2013)
Géza Vermes war lange Zeit tätig am Oxford Centre for Hebrew and Jewish Studies. Geboren in Ungarn war er als Kind mit seinen Eltern zum Katholizismus konvertiert. In der Zeit des Holocaust wurde er von katholischen Schwestern gerettet. Nach 1945 wurde er zum Priester geweiht, kehrte aber 1957 wieder zum Judentum zurück. Er war ein weltweit anerkannter Spezialist für antikes Judentum, Qumranschriften, Aramaica, Rabbinica usw.
Einer breiten Öffentlichkeit ist er durch seine Publikationen zu Jesus und dem Urchristentum bekannt geworden. 1973 erschien: Jesus the Jew. A Historian’s Reading of the Gospels (übersetzt 1993: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien). Es folgte: Jesus and the World of Judaism (1983), The Religion of Jesus the Jew (1993), The Changing Faces of Jesus (2001), The Authentic Gospel of Jesus (2004). Im Jahr 2005 (deutsch 2006) hat er über die Passion Jesu, 2006 (deutsch 2007) über die Geburt Jesu: Geschichte und Legende, 2010 über die Auferstehung: Geschichte und Mythos geschrieben. 2012 erschien: Christian Beginnings: From Nazareth to Nicaea (AD 30-325), auf Deutsch 2016: Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas, wo er seine Forschungen zusammenfasst. Im JANT/NTJE hat Géza Vermes den Essay über „Jüdische Wundertäter und Zauberei in der Spätzeit des Zweiten Tempels“ beigesteuert.
Jesus war nach Vermes ein „heiliger jüdischer Mann“, ein Charismatiker, Exorzist, Wundertäter und Prediger, vergleichbar mit den Gestalten der Chassidim rischonim, der in der rabbinischen Literatur begegnenden „frühen Frommen“. „Jesus ist nicht den Pharisäern, Essenern, Zeloten oder Gnostikern zuzurechen, sondern gibt sich als einer der heiligen Wundertäter Galiläas zu erkennen.“ Vermes stellt ihn in die Nähe von Chanina ben Dosa und Choni, den Kreiszieher, meint jedoch, dass „[j]eder objektive und unvoreingenommene Erforscher der Evangelien … von der unvergleichlichen Überlegenheit Jesu beeindruckt sein [muss]“.
Für Vermes war Jesus nicht der Stifter des Christentums, doch er war „einzigartig in der Tiefe seiner Einsicht und in seiner charakterlichen Größe.“ Er war ein „unerreichter Meister in der Kunst, den innersten Kern spiritueller Wahrheit freizulegen.“ Und noch an anderer Stelle ging Jesus über seine Vorgänger und Zeitgenossen hinaus: Er nahm „seinen Platz unter den Geächteten dieser Welt ein, unter denen, die von den ehrbaren Leuten verabscheut wurden. Sünder waren seine Tischgenossen, ausgestoßene Steuereintreiber und Prostituierte seine Freunde.“
Jüdische Forschung am NT hat stets betont, dass Jesus nicht „der Messias“ gewesen sei, dass er nicht „der Sohn Gottes“ sei und dass er eben ein Mensch des 1. Jh.s gewesen ist. Neutestamentliche Forschung hat seit über 200 Jahren viel Energie darauf verwendet, um der historischen Gestalt Jesu näher zu kommen. Sie hat erarbeitet, dass zwischen der historischen Gestalt Jesu und der Botschaft von ihm und über ihn ein Unterschied besteht, und dass dieser Unterschied bereits die Überlieferung im Neuen Testament bestimmt. Könnte daher der Bezug auf den historischen Jesus und nicht mehr den dogmatisch „überformten“ Christus eine Möglichkeit des Gesprächs zwischen Christen und Juden darstellen?
Prägnant formuliert es Ernst-Ludwig Ehrlich: „Heute … hat sich eine merkwürdige Situation ergeben: Christen werfen jene Frage auf, die für Juden bereits seit zwei Jahrtausenden grundsätzlich erledigt sind; andererseits aber finden sich Christen und Juden in einer recht ähnlichen Einschätzung der Persönlichkeit Jesu. Manche Christen haben ein dogmatisches Jesus-Bild in den Schrank gestellt, gleichzeitig aber stellen sich moderne Juden diesem Jesus von Nazaret und haben das jahrhundertelange Ignorieren aufgegeben. Juden, die sich heute für Jesus interessieren, sich mit ihm beschäftigen, das Neue Testament lesen und studieren, bleiben Juden. Die Frage ist freilich, und es ist wirklich nicht an uns, darauf eine Antwort zu geben, ob es noch Christentum sei, wenn Christen heute Jesus so verstehen, wie ihn gar nicht wenige Juden interpretieren.“
An vielen Stellen sind heutige christliche Exegeten mit jüdischen einer Meinung. Vermutlich hat sich Jesus selbst nicht als „den Messias“ angesehen, denn es gab zu seiner Zeit eine Vielfalt von Heilsgestalten bzw. Messiassen, die man erwartet hat.
Sehr wahrscheinlich hat Jesus mit dem unmittelbar bevorstehenden Einbruch des Reiches Gottes gerechnet, als dessen Herold er sich sah. Er hat diesen Einbruch des Reiches Gottes mit seinen Taten und seiner Botschaft verbunden gesehen und sah sich als göttlich beauftragten Mandatsträger.
Ob Jesus selbst seinen Tod als „Lösegeld für die Vielen“ (Mk 10,45) verstanden hat oder ob es sich hierbei um eine nachösterliche Interpretation handelt, die dann im Neuen Testament durchgängig bezeugt wird, wird heftig diskutiert. Ich persönlich denke, Jesus hat seinen Tod im Sinn eines Prophetenschicksals verstanden und noch nicht als Lösegeld für die Sünden.
Ob er sich als „Sohn Gottes“ verstanden hat, hängt davon ab, wie man „Sohn Gottes“ definiert. Gewiss verstand er sich nicht im Sinn der späteren Dogmatik als „wahrer Mensch und wahrer Gott“. Aber „Sohn Gottes“ ist zunächst eine Bezeichnung, die Nähe zu Gott zum Ausdruck bringt. Abraham wird als Sohn Gottes bezeichnet. Der König gilt als Sohn Gottes (Ps 2; 2. Sam 7). Wahrhaftige Fromme können Söhne Gottes genannt werden (SapSal 16,26), nicht im physischen Sinn, sondern als Ausdruck einer engen Beziehung. Die spätere dogmengeschichtliche Entwicklung, die Jesus als „gleichwesentlich mit dem Vater“ versteht, hat keinen Anhaltspunkt beim historischen Jesus.
Kann es also eine Koalition aus christlicher historisch-kritischer Exegese und jüdischer Forschung am Neuen Testament geben?
Die Ostererfahrungen der Jünger*innen haben alles, was vorher war, in ein neues Licht getaucht. Und der Versuch, den jüdisch geprägten Glauben ins griechische Denken zu inkulturieren, hat zu neuen Begrifflichkeiten geführt. Würde es demgegenüber zielführend sein, wenn wir die nachösterlichen Interpretationen Jesu und die späteren dogmatischen Bestimmungen alle abstreiften? Walter Homolka erinnert daran, dass die historisch-kritische Erforschung des Neuen Testaments die dogmatische Christologie in eine Krise geführt hat. Martin Buber urteilte seinerzeit: „Jesus ist mein älterer Bruder, aber der Christus der Kirche ist ein Koloß auf tönernen Füßen.“ „Eine Koalition von liberaler Exegese und jüdischer Leben-Jesu-Forschung scheint demnach nahezuliegen – und Walter Homolka deutet seine Sympathien für einen solchen Schulterschluss mehrfach an“ stellt Jan-Heiner Tück fest.
Die Frage ist m.E. jedoch grundsätzlicher zu stellen. Es geht um das Grundproblem des Verhältnisses von historischen Fakten und theologischer Deutung. Und dieses Problem des Zusammenhangs zwischen Historie und Theologie gibt es auf jüdischer wie auch auf christlicher Seite. Wie können, das ist die Frage, historische Fakten theologische Interpretation hervorrufen und können sie diese auf Dauer normieren? Das Problem stellt sich für Altes und Neues Testament gleicherweise.
Die theologische Bedeutung, die Mose, die das Verständnis der Herausführung aus Ägypten, die die Offenbarung am Sinai usw. im Judentum haben, lässt sich aus den historischen Fakten, die wir kritisch erarbeiten können, in keiner Weise direkt ableiten. Was wir heute über den historischen Mose wissen können, führt nicht zu Mosche Rabbenu – unserem Lehrer Mose. Und was wir historisch über die Sinai-Offenbarung wissen, führt nicht geradlinig zur Konzeption von schriftlicher und mündlicher Tora, die im rabbinischen Judentum entwickelt wurde. Doch bereits das, was uns die Bibel zu Mose, Exodus und Sinai bietet, ist schon Deutung, theologische Verarbeitung und nicht historische Darstellung. Das gleiche gilt für die Jesusgeschichte des Neuen Testaments.
Kurzum: Historische Fakten sind nicht belanglos, können aber theologische Entscheidungen und Konzeptionen nicht unmittelbar bestimmen oder normieren. Und deshalb kann weder die Reduktion auf den kritisch rekonstruierten historischen Mose noch die Reduktion auf den kritisch rekonstruierten historischen Jesus ausreichen.
Die entscheidende Erkenntnis, die durch das NTJE ins Bewusstsein gerufen wird, lautet jedoch: Gerade diese theologische Interpretation der Jesusgeschichte muss als Ausdruck jüdischen Denkens verstanden werden. Sie markiert nicht die Trennung zwischen Judentum und Christentum, sondern ist Ausdruck der Verbindung. So wie das Raphael Straus in einem Manuskript aus der Zeit um 1940 formuliert hat: „Die christliche Tradition ist nicht christlich, sondern jüdisch.“
Was es aber bedeutet, Jesus als jüdischen Menschen zu verstehen, der im 1. Jh. völlig eingebunden war in die jüdische Tradition und diese auch nicht verlassen oder an ihr Ende geführt hat, und was das Verständnis des Neuen Testaments als Ausdruck jüdischer Tradition bewirken kann, liegt klar auf der Hand: Jüdische und christliche Bibelwissenschaft können sich auf einer Ebene begegnen, auf der der auszulegende Text absolute Priorität erhält. Dennoch werden sich durch die jeweilige religiöse und kulturelle Prägung unterschiedliche Perspektiven ergeben, die jedoch für die jeweils andere Seite immer wieder fruchtbar sein und den eigenen Horizont erweitern können.
In ihrem Geleitwort zur deutschen Ausgabe schreiben Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler: „Wir haben erlebt, dass wir durch das Studium des Neuen Testaments zu besseren Juden geworden sind, da wir gelernt haben klarer zu sehen, wie unsere eigene Geschichte mit christlicher Theologie und Geschichte verbunden ist – was wir gemeinsam haben und worin wir uns unterscheiden. Wir haben gelernt zu erkennen, wie Texte des Neuen Testaments zu Judenhass führen können, aber auch, was christliche Leserinnen und Leser solchen Interpretationen erwidern können. Die deutsche Ausgabe dieses Werkes zeigt, dass die Zusammenarbeit von Juden und Christen zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit und zu einer besseren Theologie für die Zukunft führen kann. Darüber hinaus zeigt sie einen zentralen Wert, den beide, Judentum und Christentum gemeinsam haben: dass Hass in Liebe verwandelt werden kann.“
Die Abteilung C des Landeskirchenamtes in München hat es ermöglicht, dass jedem Pfarramt der Evang.-Luth. Kirche in Bayern ein Exemplar des Buches kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Dafür ist herzlich zu danken. Vielleicht kann das ein Beispiel für andere Landeskirchen sein, es der bayerischen gleichzutun.
Im Juli 2022 wird es Studientage in Würzburg (13.7.22) in Nürnberg (14.7.22), in München (15.7.22), in Regensburg (17.7.22) und in München (19.7.22) geben, auf denen das NTJE vorgestellt und darüber diskutiert werden soll. Hierzu erwarten wir auch die Herausgeberin der amerikanischen Ausgabe Amy-Jill Levine. Sie wird sprechen zum Thema: „Understanding Jesus means understanding Judaism“.
Dass das Pfälzische Pfarrerblatt nun die Chance bietet, einige Diskussionbeiträge zum Thema in dieser und den kommenden Ausgaben abzudrucken, danken wir dem Schriftleiter und der Redaktion.
Dr. Wolfgang Kraus ist Professor em. für Neues Testament an der Universität des Saarlandes und Pfarrer im mittelbaren Dienst der ELKB.