Prof. Dr. Matthias Heesch
94030 Passau
Was für eine Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle und Co.?
Eine Streitschrift gegen den Vulgärliberalismus;
Berlin: Alexander Fest Verlag, 1998, 163 Seiten.
Es ist vielfach gesehen und auch beklagt worden, daß unser Gemeinwesen sich immer mehr zur »Mediendemokratie« entwickelt bzw. einer solchen verkommt. Einer derartigen Kulturschelte haftet jedoch etwas unangemessen Wohlfeiles an, wenn es sich nur darum handelt, daß die Dominanz bestimmter Medien bei der Kommunikation politischer und sonstiger Informationen beklagt wird. Es fragt sich über eine solche Klage hinaus, was es denn ist, das den Gegenstand der medialen Inszenierung bzw. der von ihr manipulierten Bewußtseinsverfassung darstellt. Wenn man einmal die Kategorien der Husserl’schen Phänomenologie anwenden und auf das Bewußtsein des Fernsehkonsumenten als auf ein Bewußtsein eingehen will, das von bestimmten »Aktqualitäten« geprägt ist, daß also auf bestimmte qualitativ beschreibbare Weise arbeitet1, dann fragt sich, welche Gegenstände bzw. Gegenstandsqualitäten diesem Bewußtsein entsprechen, oder, mit Husserl: welche Noemata (Bewußtseinsgegenstände) den medial, etwa vom Fernsehen, gelenkten Noesen (d.h. den Bewußtseinsakten) korrespondieren2. Diese Frage ist nicht müßig, weil ihre schlüssige Beantwortung darüber entscheidet, ob die Klage über die unkontrollierbare Beeinflussung sozialer und politischer Entwicklungen durch die Medien, insb. durch das Fernsehen, ein gekränktes und obsoletes Schmollen derer ist, die sich – etwa als Autoren gedruckter Texte – von den Hebeln öffentlicher Einflußnahme verdrängt sehen, oder ob es sich tatsächlich um eine sachhaltige Verschiebung unseres politischen und sozialen Lebens handelt.
Der Autor der hier zu besprechenden Studie will die letztere Auffassung untermauern und in ihrer Gefährlichkeit vor Augen führen. R. zufolge haben wir uns in die Focus-Republik Deutschland verwandelt. Was ist damit gemeint? Die Konsumgewohnheiten des durchschnittlichen Medienkonsumenten haben sich in den letzten Jahrzehnten, vor allem seit Einführung des Privatfernsehens, stark gewandelt. Auch Zeitschriften haben sich dem anzupassen. Der moderne Leser bevorzugt Anschaulichkeit, Kürze und Undifferenziertheit. Dies alles muß man ihm freilich im Gewande der an ihn als zahlenden Kunden sich richtenden Zuschreibung von Aufgeklärtheit und Mündigkeit präsentieren. In geradezu idealtypischer Weise bedient die Münchener Zeitschrift Focus nach R.s Meinung solche Bedürfnisse. Gerade weil aber die schöne neue Medienwelt ihre Konsumenten mit der Suggestion zu locken versucht, sie seien in besonderer Weise »mündig«, muß eine politische Einflußnahme auf das Lesepublikum die Konsequenz sein, die nicht verfehlt, auch realpolitische Konsequenzen zu haben. Nach R.s Meinung besteht die zentrale Einflüsterung der medialen Welt von Focus darin, alles, was irgend mit dem Staat zu tun hat, einseitig negativ unter dem Aspekt der überhöhten Steuern, der faulen und unfähigen Beamten und sonstigen öffentlich Bediensteten, der Behördenwillkür und anderer negativer Aspekte staatlichen Wirkens zu sehen. Statt des so charakterisierten Staates ist die Welt von Focus nicht nur einfach, sondern vor allem rein ökonomisch. Denn jeder im engeren Sinne politische Gestaltungswille und seine Artikulation in der Etablierung entsprechender politischer und behördlicher Gegebenheiten wird unter den Generalverdacht der Willkür, Korruption und Verschwendung gestellt. Weniger Staat heißt die Parole, und diese zeichnet sich durch ein hohes Maß an Integrationsfähigkeit aus. Sie ist nämlich ideologisches Auffanglager für ideologisch fixierte Marktliberale, in dem Buch wird der Generalsekretär der FDP, Guido Westerwelle, als deren idealtypischer Vertreter genannt, wie auch für postsozialistische Linke, die R. im Umfeld der Grünen vermutet, und schließlich auch für den Typus des Modernisierungsverlierers. Letzterer traut aus Angst der Ökonomie alles und der Politik kaum etwas zu, weil er die Politik nur noch als die Nachfrage stärkenden Service-Betrieb für eine in den Kategorien von J. M. Keynes verstandene Ökonomie3 dulden will. Verkörperung des letzteren Typus ist nach R.s Auffassung Gerhard Schröder. Handy-Bubi und Automann, wie R. in einer Mischung aus Weber’scher Idealtypenbildung und – für das Buch durchaus charakteristischer – journalistischer Polemik die Verkörperungen der beiden Spielarten der letztlich apolitischen Wirtschaftsfixiertheit nennt, also Radikalliberalismus und Keynesianismus, sind die tonangebenden Tendenzen in der Focus-Republik Deutschland. Hinzu kommen noch die postsozialistischen 68er, die im Kern politikverneinenden Träumen selbstbestimmten Lebens nachhängen. Politik im Sinne eines auf das Zusammenleben bezogenen Gestaltungswillens und der sich aus ihm ergebenden Respektierung genuin nicht-ökonomischer Staatsausgaben in den Bereichen innere und äußere Sicherheit, Bildung u.a. wird von allen diesen modernen Bestrebungen und Befindlichkeiten nicht akzeptiert. Dasjenige, was die Focus-Republik konstituiert, sind also sozialdemokratische und marktliberale Spielarten des Ökonomismus und eine in ihrem Wesen apolitische, weil staatsfeindliche Selbstbestimmungsideologie. In ihrer Negation des Politischen konvergiert sie mit dem Ökonomismus. Und aus der Negation des Politischen gewinnt die Ideologie der Focus-Republik auch ihre hervorstechenden Wesenszüge: Einfachheit und Undifferenziertheit als mentale Voraussetzungen und Implikationen der zeittypischen Grundsachverhalte Politikfeindlichkeit und Wirtschaftsfixiertheit.
R. führt diese These nun breit und teilweise recht polemisch aus. Insb. weist er auf die Egalisierungs- und Nivellierungstendenzen hin, die damit verbunden sind, daß unsere Gesellschaft vielfach das Zusammenleben nur noch als Interaktion der Produzenten und Konsumenten sieht. Oft sehr treffend sind R.s Beobachtungen über den Identitätsverlust im Rahmen einer Gesellschaft, die keine Differenzierung ermöglichenden Rollen, sondern nur noch konsumierbare Versatzstücke von Lebensorientierungen anzubieten hat, aus denen sich jeder seine eigene patchwork-Biographie zusammensetzen muß. R. weist nach, daß gerade dieser bis zur reflexhaften Präsenz und Wirkung einer Kollektiv-Neurose gediehene Zwang zur Individualisierung eine Konformisierung sondergleichen herheigeführt hat, die früheren Zeiten fremd war, die von »lndividualisierung«, »Selbstverwirklichung« und »Emanzipation« des Subjektes von allen tatsächlichen und vermeintlichen Bevormundungen kaum etwas wußten.
Dies alles wird, wie gesagt, breit dargestellt, und es ist, wenn man eine wertkonservative Auffassung als Gegenposition zum politisch korrekten Einheitsbrei der Gegenwartsbefindlichkeit gelten lassen will, auch plausibel. R. bemüht sich aber nun weiter darum, Alternativen zum Ökonomismus und damit Möglichkeiten für eine Widergewinnung des Politischen bzw. für die Überwindung der Focus- Republik aufzuzeigen. An dieser Stelle finden sich die entscheidenden Schwächen von R.s Buch: Als Heilmittel gegen die Krisensymptome der Focus-Republik werden nämlich all jene Elemente litaneihaft wiederholter Rezepturen gegen Politikverdrossenheit angeführt, die, einschließlich ihrer Fruchtlosigkeit, bereits bestens bekannt sind. Von plebiszitären Erweiterungen unseres demokratischen Systems bis hin zur gegen die Handy-Bubis, Automänner und 68er gerichteten Vereinigung der Wertkonservativen aller politischen Lager in der schwarz-grünen Koalition fehlt kaum etwas. Das Ergebnis solcher Bemühungen soll dann die Wiedergewinnung des Politischen, also des Staates sein, wozu auch eine neue Wertgrundlage staatlich geformten Zusammenlebens gehören muß.
Wie gesagt, dem Grundanliegen des Buches, also dem Plädoyer fur die Wiedergewinnung des Politischen und für seine präzise Abgrenzung gegenüber anderen Bereichen des Zusammenlebens, etwa der Wirtschaft, soll hier nicht widersprochen werden. Es ist allerdings die Frage, ob die befürwortete Therapie, d.h. die Ausdehung des Staatlichen, nicht voreilig ist und ob in diesem Sinne vor allem die Kritik des Liberalismus zu undifferenziert ist, als daß die mit dieser Gesellschaftskonzeption verbundenen Chancen noch angemessen wahrgenommen würden. Konservativismus, um das vorauszuschischicken, wird von R. hinter den Kulissen seiner Argumentation allzu sehr mit Restauration gleichgesetzt. Mehr oder weniger paternalistische Konzepte staatlich organisierten Zusammenlebens haben nicht nur den von R. gelegentlich hervorgehobenen Aspekt, das Zusammenleben berechenbar zu machen, sondern immer auch die Implikation, daß einige, sei es die Mehrheit, sei es eine politische Elite, für ihre Mitbürger Ziele wählen. Das ist zwar unhintergehbare Implikation jeder politischen Struktur. Es gewinnt aber im paternalistischen Staat besondere Züge. Dieser hat nämlich die Tendenz, genuin ethische Ziele zu Staatszielen zu machen. Die jüngsten Diskussionen um den Staatszielkatalog des Grundgesetzes macht deutlich, daß, wenn es nach den Befürwortern einer Ausweitung des Bestandes an Staatszielen geht – die Anhänger solcher Reformen konnten sich einstweilen nur in relativ geringem Umfang durchsetzen – auch soziale und ethische Wünschbarkeiten politisch umgesetzt werden sollen. Man könnte im Sinne solcher Tendenzen das Sozialstaatsgebot des Art. 20 (1) GG dadurch konkretisieren, daß man ein System von Umverteilungsmaßnahmen zugunsten von Maßnahmen der Absicherung und Krisenintervention in jeder Lebenslage mit Verfassungsrang ausstatten würde. Sozialstaatlichkeit hieße dann: Möglichst weitgehende Beseitigung aller Lebensrisiken. Mit einem solchen System wären aber nicht nur erhehliche ökonomische Lasten bei zweifelhafter sozialer Wirksamkeit verhunden4, es käme vor allem dazu, daß bestimmte aus dem Bereich des Politischen weit in den des Ethischen hineinwirkende Maßnahmen dem Einzelnen auferlegt würden, ohne daß er sich dagegen wehren könnte. M.a.W.: Die Trennung von Staatsraison und persönlichem Ethos würde aufgehoben. Das ist aber das Merkmal totalitärer Systeme, wie etwa der Ökonom F. A. v. Hayek in einer tiefgehenden Analyse des Totalitarismus und seiner ökonomischen Funktionsbedingungen gezeigt hat5. Man kann nun nicht umhin festzustellen, daß die gegenwärtigen Versuche, ethische Anliegen, für die vor allem mittels der Kategorie der »Betroffenheit« geworben wird, über den Hebel politischer Optionen und Reformprogramme umzusetzen, Tendenzen in die Richtung auf den totalen Staat haben. Indoktrination im Schulwesen etwa ist eine Möglichkeit, solche Vorhaben umzusetzen. Wenn der Staat also in die Hände von Leuten fällt, die ihn benutzen, um die ihnen persönlich plausiblen Lebensziele anderen aufzuzwingen, dann ist der totale Staat da, selbst wenn, was bei den bisher aufgetretenen Totalitarismen regelmäßig nicht der Fall war, diese Ziele als persönliche Ziele ehrenhaft sein sollten. Nach aller Erfahrung, die vorliegt, kann hiergegen nur die strikte Zurückhaltung des Staates in allen Belangen, die nicht genuin staatliche Aufgaben sind, wirken. Solche genuinen Staatsaufgaben sind im wesentlichen die äußere und die innere Sicherheit, letztere einschließlich der Justiz, dann die Herstellung und Garantie einer gewissen Rahmenordnung für die Wirtschaft in kartell- und umweltrechtlicher Hinsicht und schließlich die Fürsorge für diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, die sich nicht selbst helfen können und keine Hilfe von Angehörigen erfahren. Die Zustimmung zu diesen Zielen kann jedem abverlangt werden, was seine persönlichen Überzeugungen in anderer Hinsicht auch sein mögen.
Grundsätzlich scheint aber weiter zu gelten, daß es auch nur diese Aufgaben und die in ihnen implizierte Teilaufgaben sind, für die alle herangezogen werden können bzw. deren Folgen und Anforderungen allen auferlegt werden können, ohne daß sie als moralische Subjekte einer unerträglichen Fremdbestimmung unterliegen. Die Konsequenz kann nur sein, die Sozialstaatlichkeit nach Art. 20 (1) GG restriktiv auszulegen, was dann auch entsprechende Restriktionen etwa für die Landes- und Kommunalverfassungen nach sich ziehen muß. Man kann dies durchaus unter die Formel weniger Staat fassen, die dadurch eben nicht falsch wird, daß Handy-Bubis, der Münchener Focus und am Ende selbst – wohl nicht konsequent genug – ein Automann sie vertreten, welche Absichten sie damit auch immer verfo1gen mögen. Zwar hat R. nichts mit Totalitarismen aller Art im Sinne, auch die aus der alternativen Szene in die Politik dringenden Reformwünsche sind ihm fremd. Ist er sich aber ausreichend darüber klar, daß nur ein starker Staat probates Instrument dieser Wünsche sein kann? Und würde er diesen Staat unter der Voraussetzung, daß ganz andere Anliegen als die, die er zu befürworten scheint, mit staatlicher Hilfe umgesetzt werden, immer noch bevorzugen? Das Buch von R. hat also zwei Aspekte: Es ist einerseits eine trotz journalistischer Sprache sehr präzise Analyse einer Situation, in der dem Verfall der Medienkultur in der Tat eine Simplifizierung des Politischen entspricht, für die der Begriff der Focus-Republik einprägsam gewählt worden ist. Aber nicht alles, was in einem wegen seiner Simplizität bedauerlichen medialen Rahmen unangemessen präsentiert wird, ist deswegen auch sachlich unangemessen. Und auch nicht alles, was in seiner derzeitigen praktischen Umsetzung den Defiziten seiner medialen Vermittlung nur allzu sehr entspricht, ist seiner Idee und seiner möglichen praktischen Umsetzung nach schlecht. Das gilt z.B. für das liberale Konzept von Politik und Gesellschaft und seine Chancen in der derzeitigen Situation. In diesem Sinne muß sich R. vorhalten lassen, zu verkennen, daß der einzige Weg, den totalitären Folgen humaner Gutgemeintheiten – also solcher politischer Optionen, die allgemeinverbindliche Ziele über den aus sachlichen Gründen tatsächlich allgemeinverbindlichen Kanon von Minimalzielen hinaus enthalten – zu entgehen, darin besteht, das Instrument für die Durchsetzung dieser Optionen, also den Staat, so zu gestalten, daß totalitäre Entgleisungen erschwert werden. Strikte Kontrolle des Staates, auch und gerade in ökonomischer Hinsicht, und die Beendigung aller Staatstätigkeiten, die nicht ihrem Wesen nach unhintergehbar staatlicher Natur sind, sind die Mittel. Der Liberalismus scheint damit eine – oder die einzige? – Chance auch für Konservative zu beinhalten, die von der politisch-staatlichen Umsetzung gegenwärtiger Modetrends wenig Gutes erhoffen können. Als Konservativer, der er doch zu sein scheint, sollte R. darüber nachdenken.
Anmerkungen:
1 E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Gesammelte Schriften III), 1992, 225-272 u.ö.
2 über die Korrespondenz von Bewußtseinsakt ( Noesis) und Bewußtseinsgegenstand (Noema) vgl. Husserl, 200-224, 295-313.
3 über Keynes vgl.: P.-H. Koesters, Ökonomen verändern die Welt, 1985, 247-282. Keynes’ zentrale Behauptung besteht darin, daß es durch Zurückhaltung von Bargeld im Interesse der Zahlungsfähigkeit privater Haushalte (»Liquiditätspräferenz«) zu Geldverknappung und Nachfrageengpässen bei Konsumgütern kommt, die Konjunkturabschwünge zur Folge haben. Die Aufgabe des Staates besteht in dieser Situation darin, durch Niedrigzinspolitik und Investitionsprogramme die infolge des Sparverhaltens der privaten Haushalte entstandene Krise auf dem Beschäftigungssektor wieder auszugleichen. Keynes bestreitet also, daß die Adam Smith’sche unsichtbare Hand (ebd. 9-41) für Vollbeschäftigung sorgen kann. Dazu bedarf es vielmehr staatlicher Wirtschaftslenkung. Freilich handelt es sich hier nicht, wie manche Gegner des Keynesianismus meinen, um eine Politisierung der Ökonomie, sondern eher um eine Ökonomisierung der Politik.
4 M. u. R. Friedman: Chancen, die ich meine, dt. 1983, 51-84, 145-166 u.o. Die beiden Ökonomen untersuchen insb. Wohlfahrtssysteme und solche sozialen Programme, die Chancengleichheit im Sinne der Gleichheit faktischer Lebensgestaltung interpretieren und politisch zu erzwingen versuchen. In Ökonomischer und sozialer Hinsicht kommen die Autoren zu ernüchternden Ergebnissen.
5 F. A. v. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, dt. 1994, 44-53, 82-100 u.ö.