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Prof. Dr. Jörg Abbing

Nelkenstraße 7, 66386 St. Ingbert

Aspekte einer veralteten Dichotomie und ihrer heutigen Vermittlung

„Ja, ich bin ein Liebhaber der Musik, – womit nicht gesagt sein soll, dass ich sie sonderlich achte, – so etwa, wie ich das Wort achte und liebe, den Träger des Geistes, das Werkzeug, die glänzende Pflugschar des Fortschritts … Musik … sie ist das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente. Vermutlich werden Sie mir einwenden, dass sie klar sein könne. Aber auch die Natur kann klar sein, auch ein Bächlein kann klar sein, und was hilft uns das? Es ist nicht die wahre Klarheit, es ist eine träumerische, nichtssagende und zu nichts verpflichtende Klarheit, eine Klarheit ohne Konsequenzen, gefährlich deshalb, weil sie dazu verführt, sich bei ihr zu beruhigen … Lassen Sie die Musik die Gebärde der Hochherzigkeit annehmen. Gut! Sie wird damit unser Gefühl entflammen. Es kommt jedoch darauf an, die Vernunft zu entflammen! Die Musik ist scheinbar die Bewegung selbst, – gleichwohl habe ich sie im Verdachte des Quietismus. Lassen Sie mich die Sache auf die Spitze stellen: Ich hege eine politische Abneigung gegen die Musik. […] Die Musik weckt die Zeit, sie weckt uns zum feinstem Genusse der Zeit, sie weckt … insofern ist sie sittlich. Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie das Gegenteil tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde. Eine teuflische Wirkung, meine Herren! Das Opiat ist vom Teufel, denn es schafft Dumpfsinn, Beharrung, Untätigkeit, knechtischen Stillstand … Es ist etwas Bedenkliches um die Musik, meine Herren. Ich bleibe dabei, dass sie zweideutigen Wesens ist. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sie für politisch verdächtig erkläre.“

Den Connaisseuren der deutschen Literatur sind die beharrlichen und eindrücklichen Worte des Humanisten Settembrini in Thomas Manns großartigem Roman „Der Zauberberg“ sicherlich geläufig. Hier spricht aber der Dichter, hier spricht Thomas Mann nicht selbst – er, der sich auf vielen Seiten in musiktheoretischen Diskursen des „Doktor Faustus“ unfreiwillig als musikalischer Dilettant (also: als Liebhaber dieser Kunst) im besten Sinne des Wortes zeigt. Mann artikuliert sich eher im ideologischen Antipoden, dem linksradikalen Jesuiten Leo Naphta, dem rhetorisch-ideologischen Widersacher. Wenn hier das Wort gegen die Musik ausgespielt wird, wenn hier vielleicht schon in Richtung des Marxismus‘ von „Opium für das Volk“ gesprochen wird, so dürfen wir Musiker uns das „Indifferente“ und „Zweifelhafte“, das in dem Zitat zunächst zum Nachteil stilisiert wird, als Zierde von einem großen Dichter auf die Stirn schreiben lassen. Das Ausspielen der Kunstrichtungen ist nicht Sache dieses Dichters, aber auf vielen Seiten seiner Bücher verrät Thomas Mann, dass es ein Primat der geistvollen Schönheit der Klänge gibt, die sich zwar in Frequenzen messen lässt, die aber in ihrer emotionalen Wirkung viele andere Künste weit hinter sich lässt. So kleidet Mann seine eigenen Kunstideen in den Eskapismus einer verführbaren Seele – der des Protagonisten Hans Castorp.

 

Es geht in den Kunstwissenschaften um Grenzen – um das Sich-Formieren im gesicherten Bereich, aber auch um das Sich-Verwandeln in Grenznähe, um den „kleinen Grenzverkehr“.

  

Exkurs 1: Literatur

 

E- und U-Musik, darum geht es in meinen Ausführungen – wir sind jedoch noch bei der hohen Literatur. „Hohe Literatur“? In der Literaturwissenschaft gab es zunächst zwei Qualitätsstufen, in welche die verschiedenen Textgattungen eingeteilt wurden – später wurden diese u.a. vom Schriftsteller und Literaturkritiker Walter Höllerer im Jahre 1968 zu einem Trio erweitert nebeneinander oder besser: übereinander gestellt. [1] Unter der „Hohen – oder schönen Literatur“, also beispielsweise den kunstvollen Ghasel-Transkriptionen eines Friedrich Rückert, oder der sprachmächtigen Komposition im eingangs zitierten Zauberberg von Thomas Mann residiert nun die Gebrauchsliteratur, die sich „als Zweckform nichtpoetischer Textsorten“ präsentiert und keinerlei Anspruch auf Prominenz in der Literaturgeschichte erheben kann und will. Gleiches gilt für die „Trivialliteratur“, die sich im imaginären Qualitätsregal noch ein Fach tiefer befindet und Texte bezeichnet, für die die Gesetze des Konsums wichtiger als diejenigen der Ästhetik sind. Alle drei Klassifizierungen wurden übrigens seit den späten 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts ins literaturwissenschaftliche Forschungsfeld mit einbezogen – auch das stellte ein Novum innerhalb der Literaturgeschichte dar. Wenn Sie das Bühlersche „Organon“-Modell kennen, dann stellen Sie sich eine imaginäre, vierte Funktion mit dem Titel „Unterhaltung“ vor, und es passt auf unser Problem. Es bleibt anzumerken, dass sich in der Literaturkritik eine Unterscheidung etabliert hat, die sich – auch hinsichtlich der diskursiven Artikel und Essays hierzu – als stabiler erwies, als diejenige zwischen U- und E- Musik. Jetzt ein nötiger Einwand: Jedes Kind erlernt die Sprache und ihre Nuancen im Idealfall – nicht aber der Kunstausübung, sei es auf dem Instrument oder mit Hand, Pinsel etc. Das macht den Vergleich in diesem Fall leicht hinkend. Dass aber – und hier wird die Literatur vielleicht am empfindlichsten getroffen – alle Kunstformen mit der ungesunden Etablierung eines emporkommenden Dilettantismus zu kämpfen haben, sowie – in Begleitung und Folge – mit der mangelnden Einschätzungsroutine der Masse, das muss diagnostiziert werden.

 

Exkurs 2: Bildende Kunst

 

In der Bildenden Kunst – damit wären wir schon beim letzten Exkurs meines Vortrags – sind die Unterscheidungstermini für einzelne Genres etwas genauer. Malerei, Architektur, Bildhauerei, diese Sparten existieren als Schrankformen der visuell-haptischen Kunstwelt – im Detail dann Konzeptkunst, Ready-mades, Videokunst etc. All das ist klar getrennt und in seiner Terminologie weitestgehend präzise – übrigens ähnlich in den anderen Künsten. Auch hier wäre meines Erachtens etwas mehr Sorgfalt in der Kontrolle der Nachhaltigkeit von künstlerischer Aussage notwendig. Eine modernistische Lesart des „ars gratia artis“-Gedankens gibt uns leider oft in diesen Tagen die Präsentation eines perfekten Dilettantismus – und dieses Mal nicht im besten Sinne des Wortes. Aber: Gibt es so etwas wie E-Kunst und U-Kunst? Es gibt eine Unterscheidungslinie, die sehr pejorativ eine bestimmte Kunstform abtrennt; ich rede vom Kitsch, einem Begriff, der zu den unübersetzbaren Termini in der internationalen Sprachwelt gehört. Kitsch wird innerhalb der Kunstwissenschaft quasi als ein Negativum von Kunst angesehen, als künstlerische Artikulation eines ethisch-gefühlsmäßig eher kleinbürgerlichen Mittelmaßes, welches seine Kunstbegriffe über die Seichtheit einiger trivialästhetischer Objekte befriedigt. Kitsch ist jedoch kein Negativ-Residuum geschmacksgestörter Menschen, sondern erweist sich nicht selten retrospektiv als ein zur Geltung gelangtes Genre. Das alles ist in der Kunstdidaktik klar in Auftrag gegeben: Kunst im stofflichen Sinne (also in Abgrenzung zur quasi metaphysischen Ontologie der zwar in schriftlicher Form fixierten – aber doch nur in auditiver Weise erlebbarer Musik) ist das erfahrbar Große, das im Ganzen nur der erkennen kann, der die Grammatik der Kunst kennt. Liegt es daran, dass die Bildende Kunst nicht sinnvoll reproduziert werden kann, sondern als Original – also in Größe und Dimension als Kunst-Kontrast zur Umgebung – erlebbar und vom Rezipienten als Kunst wahrgenommen wird, während Musik von Grund auf in mannigfaltigen und stets variierenden Phänotypen existiert? Die Raubkopie des bildnerischen Kunstwerks ist möglich und wird nur durch einen kleinen Kreis von Experten enttarnt werden können – die Raubkopie der Musik gibt es nur im kommerziellen Sinne. Jede Aufführung der „Verklärten Nacht“ von Schönberg ist eine Variante, keine Kopie des Werkes.

 

Der für uns Musikschaffende zu achtende Werkcharakter erweist sich somit als eine theoretische Architektur, eine Bauzeichnung, die der Architekt – der Komponist, oder in der Folge der Bearbeiter, uns vorschlägt. In der Kunstwissenschaft gibt es den Terminus der „Massenkunst“ oder „Trivialkunst“. So wird beispielsweise im Seemannschen Kunstlexikon [2]die „Trivialkunst“ als eine „durch Reproduktionsbedingungen jedermann zugängliche Massenkunst“ beschrieben, die „vielfach durch leichte Eingängigkeit charakterisiert ist“. Man kann also festhalten, dass – gleich der musikalischen E- und U-Kategorisierung – auch in der Bildenden Kunst zwischen spezialisierter Kunst und Massenkunst unterschieden wird. Dass sich in dieser Terminologie bestimmte Rezipienten zu Unrecht in eine Reihe gestellt sehen werden, ist wohl unvermeidbar. Trotzdem: Sind wir einer neuen und sinnvolleren Klassifizierung auf der Spur, die sich an den demoskopisch ermittelten Fakten orientiert und damit weitestgehend gerecht sein kann?

 

Etymologie von E und U

 

Kommen wir zum Kern des Problems, zum Zentrum meiner Ausführungen: Die Unterscheidung zwischen E-Musik und U-Musik kann nach den voran gegangenen Exkursen qualitativ nur schlecht abschneiden, ein jedes wird dem, was in ihm generalisiert wird, nur unzureichend gerecht. Dabei: In der Musikwissenschaft streitet man seit Beginn der musikalischen Spartenbildung des letzten Jahrhunderts um eine adäquate Einteilung. Der Begriff „Klassische Musik“ birgt einen bekannten Fehler – denn der Epochenbegriff „Klassik“ verweist ins 18. und frühe 19. Jahrhundert, also in die Zeit der Wiener Klassik und ist schwerlich auf die mittlerweile mit ihm konnotierte Zeitspanne von der Alten Musik bis zur Moderne geeignet. Allein: „Klassik“ und „klassisch“ losgelöst von der fruchtbaren Epoche der Wiener Klassik, steht in seiner Etymologie für eine Kunst, die so wörtlich „in vorderster Reihe“ steht, die „Vorbild“ ist. Auch diese Unterscheidung schickt die andere Teilmenge in eine niedere Kaste des Kunstverständnisses. Im Durchblättern des Musikkatalogs, der die Werke der so genannten U-Musik auflistet, wird man diese „Klassifizierung“ im Übrigen auch kaum aufrechterhalten können.

 

Vielleicht hilft es, wenn man einige geschichtlichen Quellen der Teilung von Musik aufschlägt. Die Idee von E- und U-Musik ist nämlich keineswegs eine Idee des 20. Jahrhunderts – bereits Leopold Mozart rät seinem Sohn Wolfgang Amadeus in einem Brief von 1789: „Ich empfehle dir Bey deiner Arbeit nicht einzig und allein für das musikalisch, sondern auch für das ohnmusikalische Publikum zu denken – du weißt es sind 100 ohnwissende gegen 10 wahre Kenner, vergiß also das so genannte populare nicht, das die langen Ohren Kitzelt.“ [3]

 

Mit dem Aufkommen der Salonmusik im 19. Jahrhundert wurde „eine regelmäßige, institutionalisierte Zusammenkunft“ [4], die sich dem Hörgenuss leicht verständlicher, musikalischer Darbietungen beim Essen und Trinken hingab, musikalisch in ein neues Genre eingegliedert. Hier wird schon eine für die U-Musik wichtige Klassifizierung neu definiert, denn der Diskurs zwischen den Erfahrbarkeits-Ebenen von Musik ist nicht neu, sondern datiert in der Trennung zwischen geistlicher und profaner Musik: Es geht um die Haltung zur Musik. Es geht um die Unter-Haltung. Im 18. Jahrhundert schon entstand ein Begriff, der den spielerischen Umgang mit Kunst umschreiben sollte und später einen Gegenpol zur Künstlichkeit, zur „herausbildenden Musikanschauung des europäischen Bürgertums“ [5]bildete. Wir erinnern uns kurz an den Exkurs in die Bildende Kunst: Auch dem Kitsch wird eine lose Gebrauchskultur zugesagt, die zwar lapidar eine spielerische Komponente zulässt, sich aber doch als „Gegen-Kunst“ eher im Unterhalten genügt. Unterhalten werden möchte aber zumeist jemand, der nicht seine gesamte Konzentration auf ein Kunstmedium fokussieren will oder kann. Im französischen kann man Unterhaltung mit Zerstreuung unter dem Begriff „divertissement“ finden – ein Synonym übrigens, welches es als Formschema des „Divertimento“ in die Musiklehre der „ernsten“ Musik geschafft hat. Also E-Musik hört man exklusiv, U-Musik beim Lesen, bei der Arbeit? Dass mit dieser rhetorischen Frage die gesamte „Crossover“-Klangidee in Frage gestellt wird, ist mir bewusst.

 

Dabei ist die Wurzel unserer Dichotomie aus E und U eine marktwissenschaftliche: Nach dem Wegfall höfischer Subventionen für „Kunstmusik“ musste der Kunstmusik, die sich der finanziellen Unterstützung der breiten gesellschaftlichen Masse nicht mehr sicher sein konnte, auf anderer Weise geholfen werden. Mit Erscheinen der musikalischen Verwertungsgesellschaften zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts versuchte man daher, sowohl den ästhetischen Unterschieden der Musikrichtungen, als auch den divergierenden Rezipientenzahlen im wahrsten Sinne des Wortes Rechnung zu tragen. Die GEMA hat zu diesem Zweck einen arithmetischen Schlüssel entwickelt, der versucht, diese finanzielle Dissonanz aufzulösen. In der Wortbedeutung beider Klassifizierungen lag bereits der ursächliche Fehler: Kann man den Torero-Marsch aus Bizets Oper „Carmen“ zur „ernsten“ Musik zählen, wenn man die Wortsemantik „ernst“ nimmt? Kann man Tom Jobims „How Insensitive“ mit seinem in den Jazzstandard eingearbeiteten (und übrigens dem Chopinschen Prélude e-Moll op. 28,4 entnommenen) „passus duriusculus“ zur unterhaltenden Musik zählen? Wenn nun eingeworfen würde, dass der Text hier für die Konnotation zum leichteren Genre sorgt, dann wird man der sprachlichen Größe dieser Worte im konkreten Beispiel nicht gerecht. Es finden sich Kunstliedtexte, die weit weniger poetisch den Umstand des Trennungsschmerzes metaphorisieren konnten.

 

Und: Was ist mit Genremischungen, wie z.B. Milhauds „La création du monde“, mit Schönbergs Salonmusikkompositionen seiner frühen Jahre, die ganz deutlich die Feder des E-Musik-Komponisten zeigen? Was ist mit Stravinskis „Ebony concerto“, mit Gershwins „Piano concerto in F“? Was ist mit Francis Poulencs „Hommage à Edith Piaf“, einer ernsthaften musikalischen Begegnung des E-Musik-Komponisten mit einer „U-Musik-Ikone“? Was ist mit Schostakowitschs Liebe zu Jazz-Melodien, die er sehr geschickt als Zitate in sein Konzert für Klavier, Trompete und Orchester eingewoben hat – ganz zu schweigen von seiner meisterhaft instrumentierten Version des Standards „Tea for Two“ als „Tahiti Trot“ op.16.

 

Ich sprach eingangs vom „kleinen Grenzverkehr“ – mit den hier genannten Musikwerken wird man genau diesen Bereich umreißen können, der sich zwischen den beiden von den Verwertungsgesellschaften aufgeworfenen Kategorien bewegt. Und deshalb bleibt die Generalisierung zwischen E und U-Musik diffus, ja sogar falsch – darüber sind sich Musikwissenschaftler einig. Aber es gibt keine Alternative. Carl Dahlhaus beruft sich auf Kurt Weill, wenn er in einem 1985 veröffentlichten Artikel davor warnt, auf die Unterscheidung zwischen U- und E-Musik zu verzichten, um stattdessen von Guter oder Schlechter Musik zu reden. Denn diese Phrase ist „ebenso widersinnig, wie der Satz, es gebe nicht Äpfel und Birnen, sondern nur gutes und schlechtes Obst.“ [6] Anhand der Idee neuerer und besserer Termini zur Unterscheidung der Musikwelten zitiert Dahlhaus auch den Musikwissenschaftler Heinrich Besseler, der Heideggers philosophischer Unterscheidung zwischen „zuhandenem Zeug“ und „vorhandenem Ding“ in „umgangsmäßige“ und „gegenständliche“ Musik für unsere Zwecke transkribiert. Dass auch diese Dichotomie keinen Bestand hat, weil z.B. bestimmte Messkompositionen des 15. Jahrhunderts über ihre liturgische Funktion hinaus ihren Kunstcharakter definieren, gibt Dahlhaus bereitwillig zu. „Die einfache Entgegensetzung von Kunstcharakter und Zweckgebundenheit oder ästhetischer Objektivierung und bloßem ‚Mithören’ erweist sich also bei zentralen musikalischen Gattungen als schief und unzulänglich.“ [7] In diesem Moment gelangen ursächlich musikanalytische Sensoren mit ins Unterscheidungsspiel. Dahlhaus argumentiert so: Dadurch, dass die U-Musik mit kompositionstechnischen Requisiten vergangener Zeiten haushaltet, muss sie sich zwangsläufig in die Gegenüberstellung mit der so genannten E-Musik begeben und sich mit den gleichen qualitativen Forschungsregeln messen lassen.

 

Das bedeutet: Auch die U-Musik müsste sich naturgemäß der Evaluation durch musiktheoretische Standards stellen. Ein zweifelhaftes Unterfangen, das selbst von den Musiktheoretikern, die – so kann ich zumindest von meinen Kollegen aus dem Fachbereich sagen – allesamt die kompositorische Qualität vieler Titel aus dem Bereich der U-Musik zu schätzen wissen und sich niemals auf die Suche nach ungünstigen Stimmfortschreitungen oder falsch vorbereiteten Dissonanzen begeben würden. Dabei: Würde ein Carlo Gesualdo diese harte Prüfung bestehen? Wird demnach die U-Musik in der übergangslosen Kontextualisierung mit der E-Musik vorgeführt? Dass heute mit den medialen Möglichkeiten von Radio, CDs, Youtube und Fernsehen Musik völlig losgelöst vom thematischen Kontext gehört werden kann, entschärft die Bedenken von Carl Dahlhaus in leidlicher Weise, ohne dass er – bereits 1989 verstorben – darauf mit einer essayistischen Entgegnung reagieren könnte. Die Rundfunkanstalten bemühen sich heute um eine Loslösung der genannten Genregebundenheit, um möglichst viele Zuhörerinnen und Zuhörer zum Hören von Klassischer Musik zu bewegen. Das Kettenrondo aus E und U-Musik beschert uns so den zweifelhaften Genuss, z.B. einen Teil einer Dufay-Messe im cross-over Programm im Anschluss an einen Pop-Song aus den 80-er Jahren kontextuiert – oder besser gesagt: kontrastiert – zu hören. Ich möchte mich dazu weiter nicht äußern, wie passend allerdings lässt Goethe im Faust beim „Vorspiel auf dem Theater“ den Theaterdirektor sagen:

 

Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen,

Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;

Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.

Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!

Solch ein Ragout, es muß Euch glücken;

Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht.

Was hilft’s, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht?

Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken. [8]

 

Zusammengefasst: Wir sprechen von „klassischer Musik“ und benutzen wieder eine terminologische Prothese, besser gesagt: eine Doppeldeutigkeit. Mit der Bezeichnung „Kunstmusik“ deklassiert man die andere Seite zur „Nicht-Kunst“, dies ist nicht haltbar. Ich will ganz davon schweigen, dass sich bekanntermaßen der Bebob – der sich als Jazz-Genre in der U-Musik-Sparte befindet – innerhalb einer schwarzen Anti-Bewegung gegen die weiße Salonmusik dezidiert auf die andere Seite der Unterhaltungsmusik positionierte. Es zeichnet sich ab, dass die Gattungsunterscheidung zwischen Unterhaltungsmusik und Ernster Musik in sehr vielen Fällen bedenklich, ja sogar falsch ist. Ebenso zeigt sich aber, dass eine Unterscheidung nicht obsolet geworden ist, ich werde darauf später noch eingehen. Theodor Adorno verweist in seiner „Philosophie der Neuen Musik“ auf die Idee einer „geschichtlichen Tendenz musikalischer Mittel“, die sich mit dem Gang der Geschichte jeweils „verengen oder verbreitern“ – dies liegt nun in Aug und Ohr und vor allem im Geschmack des Betrachters. Dass wir diese Modifikationen, die sich oft evolutionär verhalten, als Verengung oder Erweiterung wahrnehmen, gehört in den Bereich der musikalischen Erfahrungshorizonte bzw. der musikalischen Bildung. Adorno selbst versteigt sich beispielsweise in Hinblick auf Sibelius, Ravel oder gar der Jazzmusik [9] in persönliche Präferenzen, die er uns fach-rhetorisch im allgemeinen Kontext verkauft. Für die Musikkritik ist dies ein legitimes Mittel, den Graben zwischen U- und E-Musik hat diese Art von Diskussion eher verbreitert. In einer seiner Exil-Streitschriften gegen den Rundfunk, der – seiner Meinung zufolge – der U-Musik zu viel Sende-Raum gibt, metaphorisiert Adorno in einer mehrfachen „figura etymologica“ den Begriff des „Schlagers“, und „schlägt“ einen „Schlag gegen den Schlager“ mit den folgenden hetzerischen Worten vor:

 

„Es wäre an der Zeit, dass damit ernsthaft Schluss gemacht und die spukhaft entfremdeten Musikwaren aus den Sendern herausgefegt würden. […] Die Verbreitung von Schlagern […] durch den Rundfunk des deutschen Volkes wird verboten und das Verbot – um es mit einem Ausdruck der politischen Propaganda zu sagen – ‚schlagartig’ durchgeführt. Von einem genau bestimmten Zeitpunkt an, einem Sonntag, nachts um eins, hat der Spuk zu verschwinden. Das Ganze wäre mit einer großen und wirksamen, zentral organisierten Propaganda zu verbinden. Diese hätte […] den musikalischen Kitsch und seine Texte drastisch der Lächerlichkeit preiszugeben.“ [10]

 

Rhetorische Überspitzung ist das natürlich, aber wenn man diese Worte im Kontext mit Adornos vergleichsweise harmlosen Jazz-Essay aus der Sammlung „Moments musicaux“ liest, wird die Mitarbeit dieses prominenten Autors am Graben zwischen U- und E-Musik deutlich.

 

 

Vom Sinn des Handwerks

 

Wenn es eine geistlose Schönheit innerhalb einer der Kunstdisziplinen gibt, darf sie sich auch durch fehlendes Handwerk artikulieren? Der eben gehörte Adorno-Text polemisiert gegen die Flachheit der Schlagertexte, ebenso gegen die fehlende Tiefe ihrer musikalischen Ausformulierung. Gleiches ließe sich ohne Polemik über die meisten Hits aus den Charts sagen – als Lehrender im Fach „Schulpraktisches Klavierspiel“ schlage ich des Öfteren genervt die Augen nieder, wenn mir bestimmte Derivate aus diesem Bereich aufs Notenpult gelangen. Die Frage nach dem Handwerk muss aber in der aktuellen Kunstszene immer wieder neu gestellt werden, da wir uns zu Fachleuten eines genuinen Hand- und Kopfwerks haben ausbilden lassen. Im Fall der Musik sprechen wir über theoretische Kompetenz, über praktische Fertigkeiten, über die „Kunst der Schöpfung“, oder neudeutsch: über „Performance“.

 

Spätestens jetzt muss die Frage gestellt werden, wie man über das Niveau einer Komposition gerecht urteilt, ohne das eine Werk zu Unrecht in die hintere Reihe bzw. das andere in die vorderste Reihe zu verweisen. Ist es Komplexität? – Dann würde die sogenannte „minimal music“ in dieser Disziplin durchfallen, obwohl sie momentan zur E-Musik gezählt wird. Ist es Subtilität – vielleicht in dem Sinne, in dem Maurice Ravel in Hinblick auf Debussys „Prélude à l‘après-midi d’un faune“ von der perfekten Orchesterpartitur spricht? Dann wird ein subjektives Kriterium zum Maßstab erhoben und Geschmack bzw. individuell erlebte Ästhetik verallgemeinert – zudem würden Werke mit bruitistischen Klangelementen – wie z.B. Schoenbergs „Überlebender aus Warschau“ oder Teile aus Messiaens „Et expecto resurrectionem mortuorum“ nicht in diese Kategorie gehören, obwohl ihnen niemand kompositorische Qualität absprechen wird. Insgesamt müssen wir versuchen, die Genres und ihre einzelne Evaluierung vom Geschmack des Rezipienten zu lösen. Dass das schwierig, aber nicht unmöglich ist, verriet der Adorno-Teil meiner Ausführungen zwischen den Zeilen. Es geht um eine Vergeistigung, um eine Rezeption, die dem Bedürfnis enthoben ist.

 

Poetry Slam, Urban art und niveauvolle Straßenmusik zeigen uns, dass sich erlernte Kunst nicht nur im akademischen Kontext artikuliert. Aber nochmals die Frage: Wenn es eine geistlose Schönheit innerhalb einer der Kunstdisziplinen gibt, darf sie sich auch durch fehlendes Handwerk artikulieren? Sie kann und darf es, aber sie muss sich freiwillig in eine der hinteren Reihen stellen, denn sonst bräuchten wir dieses Studienjahr nicht zu eröffnen. Wenn wir nicht von der Tiefe der Wirksamkeit unserer Unterrichtseinheiten und Veranstaltungen im Bilden eines kompetenten Musikers überzeugt wären, würde es uns alle hier nicht geben. Nicht an diesem Ort.

 

 

Von der notwendigen Identität der Genres und ihrer möglichen Kontextualisierung

 

Sind wir einer neuen und sinnvolleren Klassifizierung auf der Spur, die sich an den demoskopisch ermittelten Fakten orientiert und damit weitestgehend gerecht sein kann? Die Frage hatte ich zu Beginn des ersten Exkurses in die Bildende Kunst gestellt. Wir können alle – und wir müssen alle – mit dem Begriff „Klassische“ Musik leben, der ja – wie gesagt – im Wortsinn von der Musikepoche losgelöst wurde. Im Gegenüber vereinen sich so viele Musiksprachen und Genres, dass es schwer fällt, eine gemeinsame thematische Klammer zu finden. Warum sprechen wir dann nicht einfach von Jazz-Musik, von Schlager, von Rock und Popmusik, von Techno, von HipHip, von Rap und House, etc. Wir müssen vielleicht nur das U und das E streichen. Dann bleiben: Klassische Musik und Nicht-Klassische Musik. Also: Andere Musik als Klassische Musik.

 

Bleibt das Problem der Kontextualisierung: Auch das kann gelöst werden: Jedes hat seinen Raum: Jazz hat seinen Raum, Alte Musik hat ihren Raum, Filmmusik hat ihren Raum, Neue Musik hat ihren Raum und so weiter. Die Grenzen sind nicht aufgehoben, denn in ihnen differenziert sich Musikstil gegen Musikstil, Epoche gegen Epoche – nicht selten hat sich eine neue Musikrichtung dezidiert gegen die Vorangegangene gestellt. Eine Ineinanderfügung der Sparten würde diesem wichtigen kulturhistorischen Impetus den Respekt entziehen.

 

Am Ende bleiben die Fragen offen, die Probleme löst die Kulturwissenschaft scheinbar nicht aus eigener Kraft, sie braucht das Votum der Rezipienten. E- und U-Musik: Eine Dichotomie also, die wir trotz ihrer Unzulänglichkeit noch eine Weile ertragen müssen.

 

Erlauben Sie – erlauben wir Kultur! Aber: Kultur für jedermann wird es niemals geben. Es wird sich immer um einen Nucleus im Rezipientenplenum handeln, der sich der Musik in all ihrem Facettenreichtums zuneigt. Zu Beginn meines Vortrags ließ ich Ludovico Settembrini aus Thomas Manns „Zauberberg“ die Musik für „politisch verdächtig“ erklären. Eine rhetorische Spitze, aus streng humanistischen Grundsätzen geboren. Im Diskurs zwischen den Protagonisten Settembrini und Naphta nimmt der auktoriale Erzähler später im Roman im Kapitel „Fülle des Wohllauts“ die Fäden in die Hand und positioniert sich mit seiner musikalischen Ästhetik.

 

Und heute, und hier? Politisch verdächtig ist die Musik offensichtlich nicht mehr – oder sie ist es in höchstem Maße. Damit endet dieser Vortrag leider mit einem Bekenntnis gegen die kommunale Kulturpolitik: Denn – wie weit ist diese bereits von einer Wertschätzung der Künste entfernt, da sie das Kulturdezernat für obsolet erklärt bzw. mit dem Umweltdezernat vereint, unter der Führung eines in der Kulturpolitik völlig unerfahrenen Menschen versteckt. Ich denke, wir müssen uns leider auf eine Zeit der kulturpolitischen Regression einstellen, in der wir Kunstschaffenden tatsächlich wieder für die notwendige Bedeutung unseres Métiers in der Gesellschaft unseres 21. Jahrhunderts kämpfen müssen.

 

Akademischer Festvortrag zur Eröffnung des Studienjahrs 2015/16 an der Hochschule für Musik Saar. Zur Veröffentlichung vorgeschlagen von Frank-Matthias Hofmann, Johanna-Wendel-Straße 15, 66119 Saarbrücken.

 

[1] Höllerer, Walter: Studien zur Trivialliteratur, Frankfurt/M. 1968, S. 51f.

[2] Seemann, Lexikon der Kunst, Bd. 7, Leipzig 2004, S. 421.

[3] Mozart, Wolfgang Amadeus: Briefe und Aufzeichnungen, 7 Bde., Kassel 1971, Bd. 3, S. 53.

[4] Blume, Friedrich (Hrsg.): MGG1, Kassel 1997, Bd. 8, Sp. 856.

[5] Blume, Friedrich (Hrsg.): MGG1, Kassel 1997, Bd. 7, Sp. 1694.

[6] Dahlhaus, Carl: Gute und Schlechte Musik, in: Dahlhaus, Carl und Eggebrecht, Hans Heinrich: Was ist Musik, Wilhelmshaven 1985, S. 90f.

[7] Ebda., S. 97.

[8] Goethe, Johann Wolfgang von: Faust I. Vorspiel auf dem Theater, Leipzig 1986, S.14f.

[9] Adorno, Theodor: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M. 1978.

[10] Adorno, Theodor: Rundfunkautorität und Schlagersendung, in: Frankfurter Adorno-Blätter VII/2001, Hg. von Rolf Tiedemann, S. 90-93.

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