Freude an der Predigt

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Prof. Dr. Christian Möller
Karlstr.16,69117 Heidelberg 

Pastoraltheologische Überlegungen zur Integration der Predigt in den Gottesdienst und in die Praxis des Pfarramts
I.
In einer Zeit, die von Predigtmüdigkeit und Predigtverdrossenheit in der Evangelischen Kirche gekennzeichnet ist, zu einem Vortrag über »Freude an der Predigt« eingeladen zu werden, war für mich eine Herausforderung, der ich mich nur zögernd zu nähern begann. Um mich in das mir gestellte Thema einzustimmen, habe ich mich zunächst gefragt, wann ich zuletzt eine Predigt hörte, die mich erfreut hat. Mir fiel zuerst eine Predigt ein, bei der ich gar nicht mehr weiß, was inhaltlich gesagt wurde. Ich weiß nur noch, wie es gesagt wurde und was mich daran so beglückt hat. Der Prediger sprach ganz frei und blieb in ständigem Augenkontakt mit der Gemeinde. Seine Rede war konzentriert und in keiner Weise ein Geschwätz, wie es leider oft bei freien Rednern der Fall ist. Es war mir, als ob sich dieser Prediger uns Hörern ganz und gar aussetzte, um in eine innere Zwiesprache mit uns zu kommen. Welle um Welle ging von seiner lebendigen Sprache aus, die im aufmerksamen Hören der Gemeinde gleichsam wieder zu ihm zurückbrandete. Immer wieder legte er beim Sprechen kurze Pausen ein. In diesen Pausen konnte zwischen Prediger und Hörern etwas hin und her schwingen. Genau diese Schwingungen sind mir noch gut in Erinnerung, weil sie mich so beschwingt gemacht haben. So schön, so beglückend, so beschwingend kann Predigt sein, dachte ich, wenn ein Prediger nicht bloß redet, sondern hörend redet, so daß auf der Seite der Gemeinde ein beredtes Hören entsteht, was sich immer wieder in Schmunzeln, Seufzen, Lächeln, Räuspern artikulierte. Ich verstand in dieser Predigt so deutlich wie lange nicht mehr, daß Sprache niemals bloß aus Worten, sondern ebenso aus den Zwischenräumen, den Pausen besteht, in denen Worte ausschwingen und beim Hörer ankommen können. Das ist das Geheimnis einer dialogischen Predigt, daß die einzelnen Worte und Sätze ihre Zeit zum Ausschwingen bekommen, um sich ihren Hörer zu suchen und sich in Ohren, Herz und Seele des Menschen langsam zu setzen. Predigten von dieser Art sind keine Monologe, sondern innere Dialoge, so sehr es leider auch Predigten gibt, die nur Monologe sind, wie es freilich auch Diskussionen gibt, bei denen nur Monologe ausgetauscht werden. 

Das andere Erlebnis, das mir Freude an der Predigt bescherte, widerfuhr mir bei der Einführung einer finnischen Pastorin in die finnische Auslandsgemeinde von Berlin, zu der mich zufällig ein Freund bei einem Besuch in Berlin mitnahm. Natürlich hatte der ganze Gottesdienst durch seine Zweisprachigkeit auf finnisch und auf deutsch etwas Exotisches an sich. Aber das war nicht der eigentliche Grund für meine Freude an der Predigt. Ich erlebte vielmehr eine Predigerin, die beim Ablesen ihrer Predigt dennoch keinen Predigtvortrag hielt. Vielmehr rang sie gleichsam um jedes Wort, das sie langsam sprach, so daß sie durch ihr zögerndes Reden uns Hörer einlud, an der Predigt hörend mitzuschaffen. Das scheint mir eines der Geheimnisse für eine glückende Predigt zu sein, daß sie den Hörer und die Hörerin zum Mitschaffen an der Predigt bewegt. Eben das erreichte jene finnische Pastorin dadurch, daß sie auf eine ebenso bescheidene wie intensive Weise um jedes deutsche Wort rang und uns zugleich in die Fremdheit ihres Textes aus der Bergpredigt mitnahm: »Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, denn euer Schatz ist im Himmel.« Dazu sagte sie auf eine sehr eindringliche Weise: »Und wir Christen haben doch Schätze im Himmel, nämlich das Gottvertrauen.« Wie fremd dieser Schatz heute jedoch geworden sei, verdeutlichte sie an ihrem Computerprogramm, mit dem sie diese Predigt geschrieben habe, wobei jedes dem Computer nicht vertraute Wort als Fremdwort rot unterstrichen wurde. Das einzige Wort nun, das der Computer an ihrer Predigt immer wieder rot unterstrich, war jenes »Gottvertrauen«. Das gibt es in einem Computerprogramm nicht mehr. Ein Raunen ging bei diesem Beispiel durch die Gemeinde, als ob alle etwas von der Fremdheit des Glaubens in unserer Welt verstanden hätten.

Das mag ein harmloses Beispiel sein, und doch ging es mir nicht mehr aus dem Kopf. Es machte mir Freude an der Predigt, weil sich hier Altes und Neues, Fremdes und Vertrautes miteinander mischten, das Gottvertrauen mit dem Computerprogramm, und ich war mittendrin. Es war nicht eines jener Beispiele, das an den Haaren herbeigezogen wirkt. Vielmehr kam das Fremde des christlichen Glaubens mitten in unsere Lebenswelt mit seiner ganzen Befremdlichkeit zur Erscheinung. Es wurde deutlich, daß die Kirche mitten in der Welt ist und doch von etwas lebt, was nicht von dieser Welt ist. Freude an der Predigt hat es wohl mit dieser Dialektik von Nähe und Ferne, von Vertrautheit und Befremdlichkeit des Evangeliums zu tun, daß nämlich das Wort Gottes nicht in einer historischen Abständigkeit oder in einer dogmatischen Worthülse verschlossen bleibt, aber auch nicht alltäglich eingeebnet wird, als sei es mitten aus einem doch meist sehr zweideutigen Leben zu schöpfen. Vielmehr gehört zur Nähe des Evangeliums auch sein Abstand, weil wir es uns nicht selbst sagen können, sondern es uns gesagt werden muß als das verbum externum.

Ehe ich mich diesem verbum externum als dem eigentlichen Grund für die Freude an der Predigt näher zuwende, möchte ich noch auf zwei Erlebnisse zu sprechen kommen, in denen ich Freude an der Predigt nicht an mir selbst, sondern bei anderen Menschen wahrnehmen konnte, wodurch mir zugleich der Grund für manche protestantische Predigtverdrossenheit klar wurde.

II.
Es war in einem jüdischen Gottesdienst, der in einer Antwerpener Synagoge stattfand. Mit einer Gruppe von Theologiestudenten war ich dorthin gereist, um einmal jüdisches Gottesdienstleben in dem sehr lebendigen jüdischen Viertel von Antwerpen mitzuerleben. Der ganze Gottesdienst wurde vor allem vom Kantor als dem Vorsänger, mit dessen wunderschöner Stimme, bestimmt. Höhepunkt war das Ausheben der Thora aus dem Schrein und das Tragen der Thora-Rolle zum Lesepult, wo dann einer nach dem anderen aus der Gemeinde hinkommen und einige Zeilen laut lesen durfte. Dadurch ergab sich ein reges Hin- und Herlaufen im Gottesdienst, ganz anders, als wir das aus unseren Gottesdiensten gewohnt waren. Doch plötzlich setzten sich alle ganz ruhig auf ihre Plätze und schauten gespannt und überrascht zu dem Rabbiner, der zum Schluß des Gottesdienstes nach vorn trat und eine Predigt hielt. Offenbar passierte das nicht jeden Sabbat. Es blieb vielmehr eine Ausnahme, die aber von der Gemeinde um so freudiger in gespannter Aufmerksamkeit wahrgenommen wurde.

Ein Erlebnis von ähnlicher Art hatte ich in einem russisch-orthodoxen Gottesdienst, zu dessen Besuch ich mich wiederum mit einer Gruppe von Theologiestudenten beim Erzpriester angemeldet hatte. Die göttliche Liturgie wurde wie jeden Sonntag gefeiert. Die Heilige Schrift wurde durch die kleine Pforte der Ikonostase hereingetragen und den Mitfeiernden vorgelesen. Am Ende der Lesung passierte dann die Überraschung, die offenbar uns protestantischen Besuchern zugedacht war, bei den orthodoxen Gläubigen aber großes Erstaunen und Freude hervorrief, daß nämlich der Erzpriester im Anschluß an die Lesung eine Predigt hielt und das Gelesene mit freien Worten auslegte und meditierte. An den Gesichtern der orthodoxen Gläubigen konnten wir erkennen, daß hier etwas ganz Besonderes stattfand, nämlich eine Predigt als Auslegung des Evangeliums. Was für uns ganz normal war, erregte die orthodoxe Gemeinde um so mehr, weil es für sie das Ungewohnte, Überraschende war, das sie selten zu hören bekam. 

Beide Erlebnisse brachten mich zu der Frage, ob es für uns Protestanten vielleicht deshalb so wenig Freude an der Predigt gibt, weil sie das ganz normale Pflichtpensum für uns geworden ist, das wir auf jeden Fall erwarten und oft wie ein notwendiges Übel erleiden. Die Predigt hat für uns Protestanten jeden Überraschungswert verloren. Sie ist so sicher zu erwarten wie das sprichwörtliche »Amen« in der Kirche. ln der Schweiz hörte ich sogar die Wendung: »Ich gehe in die Predigt«; von Gottesdienst war gar keine Rede mehr. Diese auch in Deutschland verbreitete protestantische Predigtfixiertheit hat wohl einen ganz entscheidenden Anteil an der Predigtverdrossenheit unter evangelischen Christen. Ein erster Schritt zur Überwindung dieser Predigtverdrossenheit müßte darin bestehen, daß die Predigt wieder ein Teil des ganzen Gottesdienstes wird.

Das sagt sich leicht und ist doch ungemein schwierig in einem theologischen wie kirchlichen Kontext, der schon in der Ausbildung von Theologen die Predigt monopolisiert und den übrigen Gottesdienst vernachlässigt. Der Besuch von homiletischen Seminaren und das Schreiben einer Predigtarbeit ist für jeden, der Theologie studiert, obligatorisch. Der Besuch eines liturgischen oder hymnologischen Seminares ist völlig in das Belieben des Studierenden gestellt, wenn denn überhaupt so ein Seminar im Studienangebot erscheint. Während es an einer Katholisch-Theologischen Fakultät selbstverständlich ist, daß es ein liturgiewissenschaftliches lnstitut gibt, wüßte ich keine Evangelisch-Theologische Fakultät, an der es einen Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft gibt. Eine Ausnahme bildet seit fünf Jahren die Theologische Fakultät in Leipzig, für die die VELKD ein liturgiewissenschaftliches lnstitut eingerichtet hat. Das Übel setzt sich fort, wenn im ersten theologischen Examen, z. B. in der Pfälzischen Landeskirche, ausschließlich Homiletik und Religionspädagogik geprüft wird, aber nicht einmal die Möglichkeit vorhanden ist, liturgische Kenntnisse zu erfragen.

Wie kommt es zu dieser protestantischen Monopolisierung der Predigt? Offenbar hat sich ein reformatorisches Erbe verfestigt, das ursprünglich durchaus seine Wahrheit hatte, ging doch von der Predigt der Rechtfertigung auf die Menschen eine Befreiung von verknechtenden Gewissenszwängen aus. Die Menschen waren am Ende des Mittelalters der toten Riten überdrüssig und sehnten sich nach der Viva vox evangelii in Gestalt von freien Predigten. 

Hat sich aber nicht dieser reformatorische Befreiungsvorgang zu einem neuen Zwangsritual verkehrt, wenn die Predigt zu einem für Prediger und Hörer auf jeden Fall zu absolvierenden Pflichtpensum wird, das die übrigen Teile des Gottesdienstes in den Schatten stellt? Ist es nicht längst an der Zeit, die Predigt im evangelischen Gottesdienst so weit zu relativieren, daß sie zu einem Teil des Gottesdienstes wird? Die anderen Teile des Gottesdienstes würden dann mehr Wirkung ausüben, wenn der Gottesdienst insgesamt sorgfältiger vorbereitet würde, und wenn vom Kantor über den Chor und den Lektor den Mitfeiernden mehr Raum gegeben würde, vom gemeinsamen Einzug in den Gottesdienst bis hin zu der im angelsächsischen Raum üblichen Weise, daß alle ein liturgisches Gewand bekommen, die den Gottesdienst mitgestalten.

Es geht mir also keineswegs um die Alternative: entweder Predigt oder Liturgie. Es geht mir vielmehr darum, die Predigt wieder als einen Teil der Liturgie zu entdecken, der sein Recht, freilich sein höchst begrenztes Recht bekommt, während die anderen Teile der Liturgie mit ihrem Gegengewicht zur Predigt wiederzuentdecken sind. Wiederzuentdecken wären aber auch andere Gottesdienstformen, in denen es von Zeit zu Zeit keine Predigt gibt, wie etwa das Taize-Gebet oder den Sing-Gottesdienst oder das Morgenlob oder die Abendmahlsfeier. Vielleicht kann es auch nur bei einer kurzen Ansprache bleiben, die eher im Rahmen einer Abendmahlsfeier der Tischrede gleicht oder einem Grußwort. Neben der Vielfalt der Gottesdienstformen ist also auch die Vielfalt der Predigtformen wiederzuentdecken, so daß die zwanzigminütige Kanzelpredigt den Charakter eines Pflichtpensums für Prediger und Gemeinde verliert und die Predigt, in welcher Form auch immer, nur ein möglicher Teil im Ablauf der Liturgie wird.

Was kann die Predigt dadurch gewinnen, daß sie Teil der Liturgie wird, in dem auch die anderen Teile des Gottesdienstes wieder zu ihrem Recht kommen. Nun kann der Gottesdienst ein konkordantes Auslegungsgeschehen werden, weil sich die verschiedenen Lesungen, die Epistel mit dem Evangelium oder mit der alttestamentlichen Lesung gegenseitig auslegen. Aber auch die Lieder, die Gebete und die Psalmen mischen sich in dieses Auslegungsgeschehen ein. Es wird um so intensiver sein, je zurückhaltender alle Arten von Regieanweisungen werden, mit denen der Liturg der Gemeinde zu erklären versucht, was diese meist schon besser weiß. Im Hören ereignet sich mehr, als der unter Erklärungszwang stehende Liturg zu ahnen vermag. Der Prediger sollte davon Gebrauch machen, daß die Gemeinde schon vor Anfang der Predigt vieles gehört, gesungen und gebetet hat, was sich im Gehör der Gemeinde gegenseitig auslegt, wenn auch nur selten auf der Bewußtseinsebene, um so mehr aber im Unbewußten. Von Zeit zu Zeit kann es dann an der Zeit sein, in der Predigt auf diese Lesung oder jenes Lied wieder anzuspielen und den gemeinsamen Klang bewußt zu machen, der durch die Liturgie im Raum vorhanden ist. Dann wird aus der Freude an der Predigt mehr und mehr eine Freude am ganzen Gottesdienst.

III.
Das Thema »Freude an der Predigt« hat sich in der homiletischen Literatur eng mit dem Namen Ernst Fuchs verknüpft, von dem 1978 Predigten unter diesem Titel erschienen.2 Ernst Fuchs gehörte zu jener Epoche der Theologie, die heute mit dem Sammelbegriff »Kerygmatische Theologie« bezeichnet wird. Dazu gehören vor allem Theologen, die im Kirchenkampf in einer Gemeinde untertauchen mußten, weil sie auf der Seite der Bekennenden Kirche standen und deshalb ihre wissenschaftlich-akademische Laufbahn an der Universität nicht fortsetzen konnten. Diese Not wurde für sie aber deshalb zu einer Tugend, weil sie nun in der Gemeinde ständigen Umgang mit der Predigt hatten und die Erfahrung machten, von welcher atemberaubenden Aktualität gerade in den Zeiten des Dritten Reiches ein biblischer Text sein kann. Zu solchen Predigern gehörten Karl Barth und Rudolf Bultmann, Helmut Gollwitzer und Hans- Joachim Iwand, Ernst Käsemann, Günther Bornkamm, Claus Westermann, Ernst Wolf, Hans Walter Wolff, Hermann Diem und auch Ernst Fuchs. Als Pfarrer der Bekennenden Kirche entdeckten sie die Gemeinde von der Predigt her als Schöpfung des Wortes, das die Menschen vor Gott stellt und sie zugleich der ideologischen Herrschaft ihrer Zeit entzieht. Deshalb stellten diese Theologen nach dem zweiten Weltkrieg ihre theologische Arbeit in den Dienst der Verkündigung. Sie sehen in der Predigt den eigentlichen Fluchtpunkt ihrer exegetischen, dogmatischen oder praktisch- theologischen Arbeit. Die von Hans-Joachim Iwand begründeten GÖTTINGER PREDIGTMEDITATIONEN vereinigten die Theologen aus den verschiedenen Schulen und waren das einigende Band von Theologie und Kirche in der Ausrichtung auf die Predigt.

Ganz allmählich verlor dieses Band seine Wirkung, weil die aus der exegetischen Bultmann-Schule herkommenden Theologen sich in ihren Meditationen mehr und mehr in exegetischen Details verloren, aber den Weg zur Predigt kaum noch bahnen konnten. Die aus der dogmatischen Barth-Schule oder aus dem dogmatischen Luthertum her kamen, waren meist mit steilen dogmatischen Thesen viel zu rasch bei der Predigt, nahmen aber den biblischen Text in seiner Widerständigkeit nicht ernst genug. Beide Seiten waren aber in der Predigt einem ganz ähnlichen Schema verpflichtet: Vom Indikativ zum Imperativ bzw. von der Gabe zur Aufgabe oder vom Zuspruch zum Anspruch. Praktisch wirkt sich dieses Schema so aus, daß im ersten Teil der Predigt möglichst ausführlich in exegetischer oder dogmatischer Hinsicht auf den Text eingegangen wird, um dann im zweiten Teil die Frage anzuschließen: Und was bedeutet das nun für uns heute? Welche Imperative, welche Aufgaben, welche Ansprüche folgen aus dem Text für die heutige Zeit? Nun wird entweder existential verallgemeinert oder politisch aktualisiert. Der einzelne Text aber verschwindet mit Hilfe der applikativen Kunst des Predigers in den Aufgaben und Ansprüchen für die Gemeinde. Verkürzt und karikiert heißt das, daß der erste Predigtteil eine exegetische oder dogmatische Pflichtübung ist, während im zweiten Teil die persönliche Kür des Predigers in den entsprechenden Aktualisierungen folgt.

Gegenüber diesem Zweischritt der kerygmatischen Theologie gab Ernst Lange am Anfang der 60er Jahre zu bedenken, ob denn wirklich die exegetische oder dogmatische Pflichtübung, zumal in ihrer steilen und überzogenen Ausformung, für die Menschen heute notwendig sei, oder ob das nicht eher eine Pflichtübung von Theologen für Theologen sei, die andere Menschen nur noch wenig interessiert. Wende man sich diesen anderen Menschen zu, dann müsse Predigen anders verstanden werden, nämlich so: »Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrung und Anschauung, seine Hoffnung und Enttäuschung, sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal. Ich rede mit ihm über seine Welt und seiner Verantwortung dieser Welt, über die Bedrohung und die Chancen seines Daseins. Er, der Hörer, ist mein Thema, nichts anderes. Freilich: er, der Hörer vor Gott.«3 Das lief direkt oder indirekt auf die Forderung hinaus, die langweiligen exegetischen Erörterungen in der Predigt selbst und den überzogenen exegetischen Anspruch auf dem Weg zur Predigt endlich aufzugeben, das Pflichtpensum im ersten Predigtteil möglichst zu lassen und rasch zu dem zu kommen, worauf der Hörer ohnehin wartet, daß nämlich seine Situation beredet und die »Großwetterlage« der Zeit analysiert wird. Was nun in den von Ernst Lange begründeten »Predigtstudien« wie überhaupt in den Predigten der folgenden fünfundzwanzig Jahre folgte, waren Reden voller Zeitanalysen, die das Gespräch mit dem Hörer suchen, seine Hoffnungen, seine Enttäuschungen besprechen, Gefühle des Predigers offenbaren usw. Dabei konnte kaum ausbleiben, daß durch die häufige Wiederholung allmählich Schablonen vom modernen Leben, vom modernen Menschen und seinen Gefühlen herauskamen. War es bis 1975 der Vietnam-Krieg und die Ölkrise, die auf den Kanzeln regierten, so folgte später der Terrorismus, die Arbeitslosigkeit, der Rassismus wie überhaupt die Ängste des modernen Menschen. Daß in diesen Predigten viel guter Wille regiert, viel gute Absicht, um mit dem Hörer über sein Leben zu reden und möglichst nahe bei den Ängsten der Menschen zu sein, das sei unbestritten. Daß auch biblische Texte ins Spiel kommen, narrativ ebenso wie kreativ, problemorientiert ebenso wie tiefenpsychologisch, muß ebenso betont werden. lnsgesamt aber kam es zu einer Predigtentwicklung, die schließlich folgende Hörerreaktion provozierte: »Früher hörte ich in der Kirche das Wort Gottes und las anschließend die Zeitung; heute höre ich im Gottesdienst, was in der Zeitung steht, und muß mir anschließend das Wort Gottes selbst in der Bibel suchen.«4 

Worauf es gegenwärtig in der Homiletik wie in der Predigt überhaupt ankommt, schreibt Fulbert Steffensky in seinem neuen Buch »Das Haus, das die Träume verwaltet«:
»Eine Homiletik für öffentliche Räume müßte darauf bestehen, daß das Gespräch mit der jüdisch-christlichen Tradition erkennbar geführt wird. Selbstverundeutlichung ist keine Lösung. Wir schulden einer sekularen Öffentlichkeit die Fremdheit unserer Geschichten. Zum andern müßten wir wissen, daß alle theologischen Sätze, die Bilder und die Geschichten der Tradition, sofern sie gut sind, einen menschheitlichen Gehalt haben. Sie gelten also nicht nur einem religiösen Binnenraum. Ich muß als Theologe auch einem Nicht-Christen verstehbar machen können, welche Schönheiten und welche Freiheitsmomente Begriffe wie Kreuz, Gnade, Vergebung und Schuld haben. Ich muß zeigen können, daß diese Nüsse eßbare Kerne haben.«5

In diesen Sätzen wird sowohl über die kerygmatische wie über die empirische Homiletik hinausgegangen, insofern die von der kerygmatischen Theologie geprägte Predigt mehr und mehr in einen religiösen Binnenraum exegetischer und dogmatischer Formeln führte, während die auf die Situation des Hörers bedachte Predigt zwar das Gespräch mit dem Hörer suchte, dabei aber die Fremdheit der biblischen Texte mehr und mehr vernachlässigte und so zu einer »Selbstverundeutlichung« führte.

Worauf es um der Freude an der Predigt willen ankäme, will ich mit einem Satz von Hans-Magnus Enzensberger zunächst nur andeuten: »In einer Zeit, die alles Vergangene an die Kandare der Reproduktion gelegt hat, der alle Überlieferung zubanden ist und zuschanden wird, ist das Dasein des Textes einzigartig; er bittet uns an den ältesten Tisch und setzt uns das Frischeste vor.« Den biblischen Text als heilsamen Stachel gegen alle Anpassungsversuche an den jeweils neuesten Trend zu entdecken, ja, das Dasein des biblischen Textes in seinem Geschriebensein als Teil der Fleischwerdung von Gottes Wort zu erkennen, darauf käme es an! Es reicht nicht aus, mit dem Hörer bloß über seine Sorgen und Probleme zu reden, weil er das meist ohnehin schon in seinem Kämmerlein oder mit seinen Freunden oder seiner Familie zur Genüge tut. Es reicht aber auch nicht aus, den Hörer bloß an die Flüsse Babels oder an den See Genezareth zu führen und ihm die historische Abständigkeit des biblischen Textes vorzuführen, weil er sich dann nur fragt: Was soll mir das alles? Natürlich gibt es zwischen dem aktualisierenden und dem historisierenden Holzweg noch eine Menge von Abstufungen und geschickten Übergängen, die aber im Kern auch nichts Neues bringen. Es hilft nichts, den biblischen Text für Zwecke und Probleme zu instrumentalisieren, für die ich ihn gern zum Zeugen hätte. Dann geht jene heilsame Fremdheit verloren, mit der der biblische Text »uns an den ältesten Tisch bittet und uns das Frischeste vorsetzt«.

Was ist denn das Frischeste, das uns der biblische Text immer wieder neu zu geben hat? In reformatorischer Elementarisierung gesprochen ist es das »verbum externum«. Gemeint ist jenes Wort, das keiner sich selbst sagen kann, obwohl es ihm so notwendig ist wie täglich Brot und wie das Wort »Du, ich mag Dich«. Wer der Meinung ist, er könne sich das verbum externum doch selber sagen, der hat noch gar nicht entdeckt, was überhaupt ein Wort ist, das ich mir selber nicht sagen kann. Es ist für mich aufgeschrieben, damit es mir immer wieder testamentarisch zugesprochen werden kann. So ein Zuspruch des lebensnotwendigen Wortes ist die Predigt von Gottes Wort. Wo sich das verbum externum im hörenden Reden und beredten Hören ereignet, breitet sich Freude an der Predigt aus.

Ernst Fuchs schreibt: »Der biblische Text will sakramental verstanden werden, sozusagen als Gabentisch, der austeilt, satt macht, weil er zur Sprache bringt, worin der Überfluß Gottes besteht. Dann kommt man zu der Einsicht, daß der Text ein Text der Verkündigung werden muß, weil Gott der Reiche ist und wir die Armen sind. Das ist die Kehre. Ihr Ereignis stellt die Aufgabe und das hermeneutische Problem. Die neue Hermeneutik will den Text wieder als Text der Verkündigung (Genitiv und Dativ) zurückgewinnen. Wir dürfen die historische Methode nicht auslassen, aber wir müssen sie sozusagen durchqueren. Unsere Füße werden naß werden, aber zuletzt werden wir getragen werden.«6

Sakramentales Verstehen der biblischen Texte schließt historisch-kritische Methode nicht aus. Es kommt nur darauf an, die historisch-kritische Methode in einer hermeneutisch reflektierten Weise zu gebrauchen, damit die biblischen Texte nicht in einer abständigen, exotischen Fremde verschwinden, aus der sie dann mit gequälten Applikationen wieder herbeigeholt werden müssen. Bei einem sakramentalen Verstehen, wie Ernst Fuchs es meint, geraten die biblischen Texte in eine solche Fremde, in der wir uns selbst als Hörer und Leser dieser Texte fremd werden und das heißt zugleich hungrig nach einem Wort, das wir uns selbst nicht sagen können. Im biblischen Text wartet es auf alle, die im Blick auf ihre Methoden, Applikations- und Instrumentalisierungsversuche kritisch geworden sind, weil hungrig nach einem Wort, das wir uns selber nicht sagen können. Mit so einem Hunger fangen wir an, den biblischen Text sakramental sozusagen als Gabentisch zu verstehen, der austeilt, satt macht, weil er zur Sprache bringt, worin der Überfluß Gottes besteht. Hermeneutisch reflektiert mit der historisch-kritischen Methode umzugehen heißt also, mit dem biblischen Text in diejenige Fremde zu gehen, in der der Text unseren noch so gut gemeinten Vereinnahmungsversuchen entzogen wird und wir uns selbst fremd werden müssen, so daß wir das verbum externum des biblischen Textes zu hören beginnen, auf das alles um der Freude an der Predigt willen ankommt. »Wir dürfen die historische Methode nicht auslassen«, schreibt Ernst Fuchs, »aber wir müssen sie sozusagen durchqueren. Unsere Füße werden naß werden, aber zuletzt werden wir getragen werden«. Damit ist eine exegetische Bemühung um den Text gemeint, die zunächst nach allen Regeln der methodischen Kunst beginnt, dann aber, je näher wir an die Sache des Textes herankommen, sich umkehrt, so daß der Text nicht mehr unser Objekt, sondern wir selbst mehr und mehr Objekte des Textes werden, der an uns zu arbeiten beginnt. Dann kommt es zu jenem Umschlag, der schon Kindern so viel Freude macht, wenn sie das Schwimmen erlernen, daß sie nämlich irgendwann die Erfahrung machen, wie das Wasser sie trägt und wie wenig sie sich selbst über Wasser halten müssen. So ist es auch im Umgang mit dem biblischen Text immer wieder beglückend, wenn ich die Erfahrung mache, wie sehr dieser Text mich trägt und wie wenig ich ihn tragen und zubereiten muß, um ihn künstlich attraktiv zu machen. Methodisch ist so eine Kehre nicht herbeizuführen, obwohl Methoden doch ein Stück weit dazu helfen können, daß ich zumindest in die Nähe eines solchen Wortes komme, das die Kehre in Gang setzt, indem es mich ergreift und zum ersten Hörer des Textes und später auch der Predigt macht.

Welche methodischen Schritte führen auf den Weg vom Text zur Predigt, Schritte, die zwar die Kehre vom Subjekt zum Objekt im Umgang mit dem biblischen Text nicht herbeiführen und das verbum externum nicht herbeizitieren, aber zumindest in die Nähe eines solchen Ereignisses führen können, so daß der Prediger mehr und mehr erster Hörer des Textes wird?

IV.
Ehe ich solche Schritte ausführe, möchte ich noch eine praktische Beobachtung vorausschicken, an der deutlich wird, daß auch die besten Methoden nichts helfen, wenn keine Zeit mehr für das Erarbeiten einer Predigt vorhanden ist, weil von der Predigt und ihrer Wirkung überhaupt nichts mehr erwartet wird. Wie das im einzelnen aussehen kann, sei an dem Votum eines ehemaligen kirchlichen Mitarbeiters verdeutlicht:

»Aus der praktischen Erfahrung von sechs Jahren ehrenamtlicher kirchlicher Mitarbeit sei der Versuch einer schlichten Antwort auf die Frage gewagt, warum das Versagen in der Predigt nachgerade die bedrückende Regel geworden ist: jedem etwas besonderes bieten – das ist die Devise. Über dem Organisieren ungezählter Kreise (Jugend, Alter, Mütter, Hausfrauen, Kamingespräche, Erproben neuer Gottesdienstformen) und Attraktionen/Gebetsfrühstück, Kirchentee, Theater an der Kirche, Osternachtspaziergang) fehlen dem Pfarrer schließlich ganz einfach die Arbeitsruhe und die Arbeitszeit, die die Vorbereitung einer soliden geistigen Arbeit, eben die Predigt, nun einmal brauchen. Ergebnis: abgelesene Sieben-Minuten-Predigten nach dem Motto: ‘Da fällt mir eine Geschichte ein’, die allenfalls Kindergottesdienstbesucher, nicht aber erwachsene Menschen unserer Zeit erreichen. – Organisieren, um vielen etwas zu bringen, ersetzt eben schwerlich das Konzentrieren auf das Eine, das Not ist. Wer es weder ändern kann noch mitverantworten möchte, resigniert und geht.«7

Dieser Leserbrief hat zwar schon vor 18 Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gestanden, an Aktualität aber nichts verloren, sondern eher noch gewonnen. Das kirchliche Karussell von Angebot und Nachfrage dreht sich in den Zeiten einer marktorientierten Kirche noch schneller, noch kundenorientierter, noch pluralistischer. Dieser ehemalige kirchliche Mitarbeiter beklagt ja nicht die Faulheit oder Dummheit seines Pfarrers. Es liegt vielmehr am allzu fleißigen Arrangieren ungezählter Aktivitäten, daß am Ende schlicht keine Zeit mehr für das Erarbeiten einer Predigt übrig bleibt. Stattdessen wird irgendwann am Samstagabend rasch eine kurze Geschichte herausgesucht, wie etwa diejenige von den beiden Spuren im Sand und dem lieben Gott, der immer mitgeht. Irgendwie paßt diese Geschichte ja immer, und schon ist die Predigt fast fertig. Die Gemeinde duckt sich bei solchen Predigten weg. Sie hält gleichsam die Ohren zu oder bleibt besser ganz weg. Das aber bestätigt wiederum dem Pfarrer, daß die Predigt heute sowieso nicht mehr erwartet werde und er deshalb seine Aktivitäten noch gezielter z. B. auf Kamingespräche und Gemeindereisen verlegen muß. Das wiederum spürt die Gemeinde, daß ihr Pfarrer eigentlich nur noch doketisch im Gottesdienst anwesend ist, mit seinem Herzen und seinen Gedanken aber ganz woanders weilt. Mehr und mehr schließt sich ein Teufelskreis um die Predigt samt Gottesdienst überhaupt. Wenn dieser Teufelskreis auch noch durch eine minimalistische Homiletik auf Seiten der Praktischen Theologie verstärkt wird, hat sich ein hermetischer Ring um die Predigt geschlossen und alles ist zu spät. An dieser Stelle scheint mir gegenwärtig der eigentliche Feind für die Freude an der Predigt zu sitzen.

Wie ist aus dem beschriebenen Teufelskreis herauszukommen? Appelle und gute Vorsätze helfen nur wenig weiter. Es gibt nun einfach mal neben Gottesdienst und Predigt am Sonntag noch viele Anforderungen an Pfarrer und Pfarrerinnen im Laufe der Woche, von den Kasualien über den Schulunterricht und die Konfirmandenarbeit bis zu den zahlreichen Sitzungen und Konferenzen. Ich habe das selbst in sieben Jahren Vikariat und Pfarramt mitgemacht und weiß noch gut, wie mich die Vielfalt des Pfarrberufes manchmal zu zerreißen drohte. Dann waren auch die Predigten nur Ausdruck meiner Zerrissenheit, und ich spürte, wie sich die Gemeinde betroffen zurückzog. Und doch gab es auch beglückende Erfahrungen mit Predigten wie Predigtvorbereitungen. Solche Erfahrungen fielen nicht einfach aus heiterem Himmel. Sie hingen auch nicht damit zusammen, daß es weniger im Pfarreralltag zu tun gab. Vielmehr war es eine andere Einstellung, die zu einer anderen Zeiteinteilung und einer anderen Vorbereitung auf Predigt wie Gottesdienst insgesamt führte. Der Predigttext des kommenden Sonntags wurde mir mehr und mehr zum roten Faden, der durch die Pfarrwoche mitlief, so daß sich mir von Tag zu Tag mehr der Predigttext von innen her öffnete, je mehr ich ihn im Licht der einzelnen Tätigkeiten der Woche zu meditieren versuchte, wie sich auch die einzelnen Tätigkeiten in einem anderen Licht zeigten und zueinander ordneten, je mehr ich sie im Licht meines Predigttextes wie des kommenden Gottesdienstes überhaupt zu sehen versuchte. So ging mir auf, daß ein Predigttext Zeit braucht, um in einem Prediger heimisch zu werden und sein eigenes Wort bilden. Während ich unter Zeitdruck oft stundenlang am Samstag oder in der Nacht von Samstag auf Sonntag am Bleistift herumkaute, ohne daß sich ein organisierender Einfall einstellte, gab es im Laufe der Woche immer wieder kurze, helle Momente, die mir ein Einfall zum Predigttext wie zum Gottesdienst überhaupt bescherten. Wenn ich diese Einfälle rasch auf dem am Montag schon angefertigten Predigtplakat festhielt, wurde dieses Plakat im Laufe der Woche immer mehr gefüllt, so daß sich am Samstag nicht selten die Predigt fast von selbst schrieb. Beteiligte ich auch noch den Kantor oder den Lektor oder den Frauenkreis an diesem Weg vom Text zur Predigt durch die Woche hindurch, so wurde der Reichtum an Einfällen um so größer und der Schwung für die Predigt um so mehr. Nun war auch das Aufstehen am Sonntagmorgen ein anderes als das nach lang durchwachter und doch vergeblich verbrachter Predigtnacht. Wie also könnte eine Pfarrwoche mit dem Predigttext als rotem Faden im einzelnen aussehen? Da gibt es nun ganz viele Variationsmöglichkeiten, die meist vom je verschiedenen Terminkalender abhängen, noch mehr aber davon, wann er oder sie ihre kreativen Stunden im Lauf eines Tages oder einer Nacht haben. Wer sie jeweils nutzt, und sei es nur für kurze Augenblicke, um Einfälle festzuhalten, der kann sich viel vergeblich verbrachte Zeit einsparen.

Weil die Variationsbreite verschiedener Pfarrwochen fast unendlich ist, soll hier nur eine Möglichkeit beschrieben werden, wie ein Predigttext durch eine Pfarrwoche mitwandern und die Predigt mehr und mehr als Teil des ganzen Gottesdienstes entstehen kann. Ganz bewußt wird in der ersten Person Singular formuliert, um persönliche Erfahrung so wenig wie möglich zu verallgemeinern, es aber doch darauf ankommen zu lassen, ob sich an den Erfahrungen des einen die Phantasie der anderen entzündet.

V. Mein Weg vom Text zur Predigt kann vielleicht schon im Gottesdienst am Sonntag zuvor beginnen, wenn ich beim Orgelnachspiel eben mal ins Gesangbuch hineinschaue, um dort im liturgischen Kalender zu sehen, was mich als Prediger des kommenden Sonntags erwartet. Ich finde nicht nur meinen Predigttext, sondern ein ganzes Ensemble von Wochenspruch, Wochenpsalm, Wochenlied, Evangelium und Epistel. Ich versuche ganz anfänglich auf den Zusammenklang der verschiedenen Texte, Lieder und Sprüche zu hören. Es gibt so etwas wie eine Konkordanz der verschiedenen Texte und Lieder im Gottesdienst, und je früher ich mich in das konkordante Hören einübe, desto mehr komme ich mit meinem Predigttext in das gegenseitige Auslegungsgeschehen eines Gottesdienstes hinein und zehre dabei auch noch vom Schwung des Gottesdienstes am Sonntag zuvor. Gerade erfahrene Prediger wissen, daß es leichter ist, jeden Sonntag zu predigen, als nur einmal im Monat oder gar einmal im Jahr, weil es einen Überfluß des einen Gottesdienstes gibt, von dem der Gottesdienst am nächsten Sonntag mitsamt der Predigt zehren kann. 

Am Montag schreibe ich mir meinen Predigttext aus der auch der Gemeinde vertrauten Lutherübersetzung ruhig und langsam auf ein Blatt ab. Langsames Schreiben ist ja schon ein erstes Meditieren. Wenn dabei ein gegliedertes Schriftbild des Textes entsteht, so fang ich auch schon an, den Text zu sehen und mir seine Struktur mit den Augen einzuprägen. Nun hefte ich den Text an meine Pinnwand. Ich füge gleich noch ein zweites leeres Blatt hinzu, auf dem ich die ersten Einfälle und Assoziationen notiere, die sich mir unmittelbar aufdrängen, wenn ich mit dem Memorieren des Textes beginne, auf und ab gehend, liegend, sitzend oder wie auch immer. Was ich nicht by heart bzw. par coeur habe, wird wohl kaum alle meine Sinne berühren, sondern allenfalls an meinem Kopf kratzen und Gegenstand nur intellektueller Überlegung bleiben. Dringt aber der Text durch Auswendiglernen mehr und mehr in mein Inneres, so beginne ich nicht nur seine Struktur zu sehen, sondern auch seinen Klang und seinen Ton zu hören, auf den er gestimmt ist. Ja, ich versuche auch zu riechen, zu schmecken und zu fühlen, worum es in meinem Predigttext geht. Ich schreibe eins nach dem anderen auf, was mir auffällt, den Wohlgeruch ebenso wie den Gestank, den zarten Ton ebenso wie das Gebrüll.

Beim Auf- und Abgehen an meinen Bücherregalen entlang fallen mir vielleicht auch Kontexte zu meinem Predigttext ein, ganz weltliche wie etwa eine Kolumne von Elke Heidenreich, oder auch ein Gedicht, das mich dazu verlockt, meinen Predigttext probeweise einmal in Reimform zu bringen. Manchmal kann es auch ein Gegentext sein, den ich entweder finde oder selber verfasse, um die Provokation zu erkennen, die von meinem Predigttext ausgeht, aber erst durch Widerspruch deutlich wird. Kurzum, der Phantasie sind kaum Grenzen zu setzen, wenn sich erst einmal ein Vertrautsein, ja eine Freundschaft mit dem Predigttext dadurch einstellt, daß ich ihn mir zu Herzen nehme und mit ihm schwanger gehe. Vieles im Umgang mit dem Predigttext darf und soll am Montag noch spielerisch sein, nicht in Arbeit ausarten und schon gar nicht in langatmige Lektüre von Sekundärliteratur. Wichtiger ist, daß ich selbst mit dem Text in Fahrt komme, wozu vielleicht schon ein bis zwei Stunden einer ersten Begegnung ausreichen. 

Der Dienstag bringt es mit sich, daß ich vormittags Schulunterricht und nachmittags Konfirmandenunterricht zu halten habe. Vielleicht findet abends auch noch eine Sitzung statt, oder ich habe im CVJM eine Bibelarbeit zu halten. Und wenn es ganz dick kommt, muß in die Mittagszeit gar noch eine Beerdigung eingeschoben werden. Auf jeden Fall gibt es reichlich Gelegenheit zur Begegnung mit Menschen, wobei ich ja meinen Predigttext nicht einfach vergessen kann. Vielleicht läßt sich sogar die Bibelarbeit ausdrücklich in Verbindung mit meinem Predigttext bringen, und schon komme ich mit jungen Menschen ins Gespräch über meinen Text. Ein Schülervotum am Vormittag oder ein Konfirmandenvotum am Nachmittag könnten auch Licht auf meinen Text werfen. Und die Beerdigung bringt mich in Beziehung zu einem Menschen, mit dessen verweinten Augen ich meinen Text auf dem Weg zum kommenden Sonntag noch einmal neu ansehe. Darauf also kommt es an, daß ich meinen Predigttext so früh wie möglich mit den Augen anderer Menschen zu sehen lerne, so daß mit ihnen ein stiller oder sogar ausdrücklicher Dialog über den Text beginnt. Solche Dialoge machen dann auch eine Predigt um so dialogischer, weil sie aus einer Zwiesprache mit Menschen geboren ist, die mir während der Woche begegnen und mit ihren Fragen oder Einwürfen nicht mehr loslassen.

Allmählich wird es Zeit für einen Schritt zurück zum griechischen oder hebräischen Urtext. Bewußt habe ich mich zunächst an die Lutherübersetzung gehalten, um mich in das mir und der Gemeinde Vertraute einzuüben und erst dann den Schritt vom Nahen zum Fremden zu gehen. Nun kommt auch die historisch-kritische Exegese in ihr Recht, wenn sie den biblischen Text als Widerstand und Verfremdung gegenüber dem Vertrauten bringt. Wer zu früh in der Fremde des Urtextes ist, landet leicht in einer historischen Abständigkeit, die den Prediger dazu verführt, wie ein Oberlehrer die Gemeinde mit historischen Informationen zu konfrontieren, die sie gar nicht interessiert, um anschließend mit akrobatischen Aktualisierungen in einer künstlichen Gegenwart zu landen. Stattdessen hilft mir der erst am Mittwoch vollzogene Schritt zurück zum Urtext, allzu Vertrautes aus der Lutherübersetzung noch einmal völlig neu und anders in historischer Verfremdung zu sehen, die Abgrenzung der Perikope vielleicht noch einmal in Frage zu stellen und einen erweiterten oder verkürzten Predigttext als sinnvoller anzusehen, andere Lesarten des textkritischen Apparates zu bedenken und vielleicht sogar vorzuziehen, einzelne Begriffe in ihrem ursprünglichen Kontext neu anzusehen usw. Ganz allmählich komme ich dabei in die ursprüngliche Dynamik des Predigttextes hinein und beginne ihn wie ein Testament zu lesen, das Christen der ersten oder zweiten Stunde oder Schriftgelehrte Israels aufgeschrieben haben, damit spätere Generationen mit an dem Erbe teilhaben können, das Gott um Christi willen in der Kraft des Heiligen Geistes allen Menschen zukommen lassen will, damit sie nicht an der Sprachlosigkeit ihrer Sünde umkommen, sondern mit Hilfe des testamentarisch aufgeschriebenen Textes der Heiligen Schrift das verbum externum vernehmen, das ins Leben ruft und Leben schafft.

Mit dieser trinitarischen Ausrichtung eines testamentarisch verstandenen Bibeltextes bin ich schon einen Schritt weitergegangen zu einer hermeneutischen Reflexion des biblischen Textes als Teil eines größeren Ganzen, nämlich der Heiligen Schrift. Bewahrt mich die Begrenzung auf eine Perikope davor, in der Predigt alles auf einmal sagen zu wollen, was in Wahrheit darauf hinausläuft, nichts Konkretes mehr zu sagen, so kann wiederum die Begrenzung auf eine Perikope dazu verführen, eine Teilwahrheit der Bibel zu verabsolutieren und darin geradezu sektiererisch zu werden. Stattdessen gilt es, der alten hermeneutischen Wahrheit zu entsprechen, daß das Teil nur vom Ganzen und das Ganze nur von den Teilen her verstanden werden kann, so daß ich mich auf die Selbstauslegung der Heiligen Schrift mit meinem Predigttext einlassen muß. Er gibt zu erkennen, wo es in der Bibel gegenteilige Aspekte zu meinem Predigttext gibt, die ich gegenseitig abzuwägen habe, und wo es Parallelen gibt, die meinen Predigttext verstärken können. Kurzum, ich habe systematische Theologie als konsequente Exegese zu betreiben, um der Wahrheit meines Predigttextes im Kontext biblischer Grundwahrheiten inne zu werden. Das mag mit Hilfe der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium geschehen, um den richtenden Gott ebenso wie den rettenden Gott in meinem Text zu vernehmen, oder mit Hilfe der alten Frage Anselms: »Hast du schon bedacht, wie schwer die Sünde wiegt?«, um die Sünden aufdeckende Seite meines Textes ebenso zu erkennen wie die Sünden vergebende Seite. Bei dieser Art von konsequenter Exegese werde ich genau darauf zu achten haben, daß mein Predigttext nicht in biblische Grundwahrheiten hinein verallgemeinert und nivelliert wird, sondern möglichst in seiner Eckigkeit und Kantigkeit stehen bleibt. Die entscheidende Frage, die ich möglichst am Donnerstag zu beantworten suche, lautet: »Was würde dem christlichen Glauben fehlen, wenn ihm dieser Text, den ich am kommenden Sonntag zu predigen habe, fehlen würde?«

Je weniger ich diese Frage bloß intellektuell als dogmatische Frage behandle, je mehr ich mich ihr existentiell als Frage auch nach meinem Glauben stelle, desto wichtiger wird nun am Freitag die andere Frage, wie ich selbst zum ersten Hörer meiner Predigt werden kann, denn ich weiß ja, daß nur der Prediger seine Hörer erreicht, der selber zum ersten Hörer der Predigt geworden ist. Wie aber werde ich das? Reicht es schon aus, daß ich nicht bloß anderen, sondern auch mir selbst predige? Was sage ich mir aber, das ich nicht längst schon weiß? Kategorial geht es um das verbum externum, das keiner sich selbst sagen kann oder gar immer schon wüßte, während doch alle zum Leben und zum Sterben auf dieses verbum externum angewiesen sind, weil es Gewißheit stiftendes, schöpferisches Wort aus Gottes Ewigkeit in die Zeit hinein ist. In jedem der biblischen Texte wartet dieses verbum externum, um dem Mund eines Predigers nahezukommen. Es gilt also, mit Hilfe meines Textes, der mich von Montag bis Donnerstag schon begleitet hat, in die Nähe des Wortes zu lauschen, das mich zum ersten Hörer macht, der dann auch andere in das Hören auf dieses fremde Wort hineinziehen kann. Nun bildet sich Predigt nicht bloß als eine Rede, sondern als eine »Höre«, wie Paulus es in Römer 10, 17 zum Ausdruck bringt. Gemeint ist ein Hörraum, der sich zwischen Prediger und Hörern um so mehr auftut, je mehr beide auf das verbum externum des biblischen Textes ausgerichtet sind, das aus der Freiheit des Heiligen Geistes heraus nahekommt und Gemeinschaft der Heiligen schafft.

Natürlich läßt sich so ein verbum externum nicht herbeizitieren, aber es lassen sich – um mit Jesaja 40 zu reden – Hügel ebnen und Täler erhöhen, um dem Kommen dieses Wortes zu den Hörern Bahn zu machen. Dazu braucht es auch so handwerkliche Dinge wie eine gute, überzeugende, dem Text möglichst abgewonnene Gliederung der Predigt. Es braucht einen ersten Satz der Predigt, der möglichst rasch mitten in die Sache des Textes springt, und es braucht ein Ende der Predigt, das diesem Anfang entspricht, indem es zu ihm zurücklenkt. Es braucht Bilder und Beispiele, die möglichst nicht an den Haaren herbeigezogen sind, sondern dem sprachlichen Reichtum des Textes abgelauscht sind. Es braucht Hörsignale, die den abgewanderten Hörer einladen, wieder einzusteigen.

All das fällt mir um so leichter beim Aufschreiben der Predigt, je mehr ich mit dem Text seit dem Sonntag zuvor unterwegs bin, mit ihm schwanger gehe, und mir in den kreativen Augenblicken der Tage einzelne Notizen an meiner Pinnwand gemacht habe. Manchmal schreibt sich eine Predigt am Samstag nahezu von selbst, je mehr sie in mir schon während der Woche herangewachsen ist und der Text mich zum ersten Hörer gemacht hat. Ich kann nun auf die elenden Nächte von Samstag zu Sonntag verzichten, in denen ich mir, am Bleistift kauend, einen Predigteinfall abzupressen versuchte, was doch wider alle Kreativitätspsychologie ist und sich ja auch tatsächlich als vergeblich erweist. Vielmehr memoriere ich die schon fertige Predigt am Samstagnachmittag, indem ich sie auf einen Spaziergang mitnehme oder an den Betten der Kranken mit vorbeitrage, die ich am Samstagnachmittag im Krankenhaus besuche. Vor dem Einschlafen gehe ich vielleicht rasch noch einmal den Gang der Predigt durch, so daß auch der hoffentlich gute Schlaf ein Teil meiner Predigt wird, indem es der Herr den Seinen gibt, und ich stehe am Sonntagmorgen nach so einer Predigtwoche ganz bestimmt anders auf als nach einer sorgenzerquälten Predigtnacht. Vielleicht gleiche ich gar jenem Rabbi Schmelke, von dem Martin Buber in den Erzählungen der »Chassidim« berichtet: 

»Rabbi Schmelke pflegte, damit sein Lernen nicht allzu lange Unterbrechung erleide, nicht anders als sitzend zu schlafen, den Kopf auf dem Arm und zwischen den Fingern ein brennendes Licht, das ihn wecken sollte, sowie die Flamme seine Hand berührte. Als Rabbi Eli Melech ihn besuchte, bereitete er ihm ein Ruhebett und bewog ihn mit viel Überredung, sich für ein Weilchen darauf auszustrecken. Dann schloß und verhüllte er das Fenster.

Rabbi Schmelke erwachte erst am hellen Morgen. Er merkte, wie lang er geschlafen hatte, aber es reute ihn nicht, denn er empfand eine unbekannte Klarheit. Er ging ins Bethaus und betete der Gemeinde vor, wie es sein Brauch war. Der Gemeinde schien es, als hätte sie ihn noch nie gehört. Als er den Gesang vom Schilfmeer sprach, mußten sie den Saum ihrer Kaftane raffen, daß sie die rechts und links bäumenden Wellen nicht netzten. Später sagte Schmelke zu Eli Melech: ‘Jetzt erst habe ich erfahren, daß man Gott auch mit dem Schlafe dienen kann.’«8

Anmerkungen
1 Vortrag vor Vikarinnen des Pfälzer Predigerseminares und Mitgliedern des Evangelischen Bundes der Pfalz in Rockenhausen am 7.11.1998
2 E. Fuchs, Freude an der Predigt, Neukirchen 1978. 
3 E. Lange, Predigen als Beruf, Stuttgart 1976, 58.
4 Zit. in: »Was gilt in der Kirche?« Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, 9.
5 F. Steffensky, Das Haus, das die Träume verwaltet, Würzburg 1998, 27. 
6 E. Fuchs, Jesus, Wort und Tat, Tübingen 1966, 140. 
7 FAZ vom 14.2.1981. 
8 M. Buber, Erzählungen der Chassidim, Zürich 1984, 9. Auflage 309-310.

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