Friedrich Grotjahn: ‚Eine Gerechte’ und ‚Zwei Schwestern’

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Paul Gerhard Schoenborn
Dellbusch 298, 42279 Wuppertal

Friedrich Grotjahn: ‚Eine Gerechte’ und ‚Zwei Schwestern’. Mit einem Vorwort von Hugo Ernst Käufer und Tuschzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter, Brockmeyer Verlag,  Bochum 2009, 180 Seiten, ISBN978-3-8196-0742-4

„In einer Zeit, in der Pop & Co die Literaturszene weitgehend für sich in Anspruch nehmen, ist es erfreulich, dass Geschichten wie die von Friedrich Grotjahn ihren Platz, ihren Zuspruch finden“, schreibt der Senior der literarischen Ruhrgebietsszene, Hugo Ernst Käufer, in seinem Vorwort. „Ich habe mir geschworen, nicht zu schweigen“, so der Titel eines seiner Bücher, sei ein Leitmotiv der Schreibarbeit Friedrich Grotjahns. Er zeichne Menschenschicksale im Deutschland der letzten Jahrzehnte nach, zeige die „Missachtung und Verfolgung Andersdenkender und der Juden in der Nazizeit, aber auch die Ansätze des Widerstands gegen das unmenschliche totalitäre System, sowie die politischen und gesellschaftlichen nicht immer erfreulichen Entwicklungen in den ersten Jahren der Nachkriegszeit“ (6f).

„Eine Gerechte“ ist die Hommage an eine alte Frau, die in den letzten Kriegsjahren ein jüdisches Mädchen bei sich versteckt hielt und vor der Deportation in ein Todeslager rettete. Die Fünfjährige weigert sich entschieden, statt ihres richtigen Namens Sarah den Tarnnamen Magdalene zu gebrauchen. Sie beschwört damit gefährliche Situationen für sich und die kleine Familie der Frau herauf, deren Mann, ein Dorfpfarrer in Niedersachsen, als Soldat in Russland steht. Das Kind versteht das alles nicht, es will nur eins: seine Identität bewahren. Es trotzt und lässt sich auf keine Kompromisse ein. Die Folge sind erbitterte Machtkämpfe zwischen dem Mädchen und der Pfarrfrau. Noch viele Jahre später, inzwischen in Israel lebend, lehnt die gerettete junge Frau jeden Kontakt mit ihrer Lebensretterin ab. Die Zeit damals im Pfarrhaus sei eine wahre Hölle für sie gewesen.

Die herbe Erzählung, hinter der konkrete Erfahrungen aus der Familie des Autors stehen, ist so ganz anders wie die Geschichten, die man sonst über vergleichbare Rettungsaktionen zu lesen bekommt. Dort geht es vorwiegend um bestandene Gefahren, mutige Schmuggelaktionen und gewagte Urkundenfälschungen, gelegentlich auch um „gute“ Nazis, die etwas gemerkt haben, aber alle Augen zudrücken. Hier aber geht es um Grenzen des Verstehens, um seelische Verwundungen – und um Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft unter größter innerer Belastung. Auf ihrem letzten Lager erfährt die alte Frau von der „Allee der Gerechten“ in Israel, wo man Rettern von Juden Bäume pflanzt. Sie findet das gut. Obwohl niemand ihr dort einen Baum gewidmet hat.

„Zwei Schwestern“ berichtet von einem Zwillingspaar aus dem Ruhrgebiet. In ihrem Verhalten und in ihrer Weltsicht sind die alten Frauen gänzlich verschieden. Der Untertitel verheißt deshalb programmatisch: „Das unübersichtliche Leben der Hanna W. übersichtlich dargestellt von ihrer Schwester Lisbeth“ (59). Lisbeth, die Ältere, lebt noch und zeigt sich kleinbürgerlich, konservativ, vorsichtig. Sie hat sich merkwürdigerweise das ganze Leben lang für Hanna, die Jüngere verantwortlich gefühlt. Obwohl sie am Verhalten ihrer Schwester nichts daran ändern, sondern darüber nur den Kopf schütteln konnte, hielt sie ihr solidarisch die Stange. „Blut ist eben dicker als Wasser.“

Ein Rundfunkautor führt nach dem plötzlichen Tod ein langes Gespräch mit ihr über die plötzlich verstorbene Hanna. Er interessiert sich für die am Ort sehr bekannte politische Aktivistin und braucht O-Töne für eine Sendung. Diese Hanna W. muss eine ganz besondere Ruhrgebietspflanze gewesen sein, unangepasst, willensstark, draufgängerisch-mutig. Anhand von vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos aus einem Schuhkarton im Nachlass erzählt die Lisbeth  eine Abfolge von Zeitereignissen und wie Hanna darin agiert beziehungsweise darauf reagiert hat.

Vor uns entstehen die Verhältnisse im NS-Staat – Rassendiskriminierung, Kirchenkampf, Kriegsalltag. Aber Hanna, die Antifaschistin, kriegt es hin, einen Halbjuden zu heiraten, als Katholikin mit dem evangelischen Pfarrer eine Propagandaversammlung der Deutschen Christen zu sprengen, einen alten jüdischen Herrn erst lange in einer Gartenlaube zu verstecken und dann offiziell als Rotkreuzschwester in die Schweiz zu eskortieren. Und nach dem Kriege wird sie eine richtige handfeste Friedensfrau: Sie protestiert gegen die Wiederaufrüstung der BRD, ist Ostermarschiererin der ersten Stunde, entfernt nach dem Volkstrauertag die Kränze am Ehrenmal der Stadt und schichtet sie sorgfältig dahinter auf, legt sich mit Polizisten und Staatsanwälten an, weigert sich, die Volkszählungsbogen auszufüllen, und, und, und …

Liesbeth erzählt viel und farbig, erzählt „Schoten“, wie man im Ruhrpott sagt. Und sie hält dabei ihre eigenen Kommentare nicht zurück, Kommentare voller Bewunderung für die Schwester. Aber es fallen auch kritische Sätze, die zeigen, wes Geistes Kind Lisbeth ist. Wie verschiedenen können sich doch Zwillinge im gleichen Kontext entwickeln!

Einmal gelang es Hanna, ihre Schwester zur großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten mitzuschleppen. „Das war schon ein Erlebnis. ‚Bürger lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!’ …  ‘Petting statt Pershing!’ Das ist nicht die offizielle Demo-Parole gewesen. Die offizielle hieß: ‚Frieden schaffen ohne Waffen’. Aber über ‚Petting statt Pershing!’ konnte man sich schon amüsieren. … Die Pershings sind trotzdem aufgestellt worden. Bundestagsbeschluss. Hanna war natürlich stinkig auf die Volksvertreter. Aber was willst du als Volk schon machen? Wir leben nun mal in einer Demokratie. Und Demokratie ist Demokratie. Da kann das Volk sich auf den Kopf stellen“ (151).

Friedrich Grotjahn hat einen höchst wirksamen literarischen Kniff angewandt, um Aufmerksamkeit und Spannung des Lesers zu fesseln: Er ist im Grunde der auktoritative Erzähler, und doch verwandelt er Lisbeth in eine Icherzählerin. Er bringt den Leser in die Situation, dass er Zeuge eines Vorgesprächs wird. Lisbeth erzählt dem Rundfunkautor anhand von Fotos Episoden aus dem Leben ihrer Schwester. Es entwickelt sich ein sehr lebendiger, allerdings einseitiger Dialog, bei dem Lisbeth so farbig erzählt und, wie es nur Ruhrgebietsmenschen können, das Leben ihrer Schwester saftig kommentiert. Der andere Dialogpartner – und mit ihm der Leser – hören aufmerksam zu. Am Ende verständigen sich Lisbeth und ihr Besuch auf einen Aufnahmetermin. Was der Leser „mitgehört“ hat, war nur vorläufig. Dadurch, so scheint mir, wird jegliche moralisierende Tendenz, wenn sie sich denn aus den Episoden entwickeln könnte, vermieden. (Ich möchte noch anmerken, dass Friedrich Grotjahn alle diese Episoden erzählt bekam, allerdings von verschiedenen bemerkenswerten alten Frauen. Man achte auf seine Widmung.)

Die beiden Erzählungen werden illustriert, besser sollte ich sagen: kommentiert durch Tuschzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter. Eigentlich kannte ich bisher von diesem Bochumer Künstler nur Holzschnitte. Wie bei diesen beruht auch bei Tuschzeichnungen die Wirkung auf dem Entweder-Oder des Schwarz-Weiß-Gegensatzes; es fehlen eben verschiedenfarbige Zwischenstufen. Aber diese Arbeiten mit dem Tuschpinsel wirken weicher als Holzschnitte, sind fließender an den Rändern. So sprechen sie auf ihre Art den Leser an und laden ihn zum Nachdenken ein. Für mich unterstreichen sie bestimmte Momente in der Erzählung. Seite 35:  Der Nazibürgermeister, die Staatsautorität, thront hinter seinem Amts-Schreibtisch – wachsam stehen Sarah und die Pfarrfrau vor ihm, ihre Haltung: Vorsicht und Kampfbereitschaft zugleich. Wer wird sich durchsetzen? Oder Seite 104: Der einsame Jude im Versteck der Gartenlaube – und Mitwisser, die sehen und schweigen, oder sehen und Verdacht schöpfen? Wie wird das ausgehen?

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