Der Heilige Rock – oder des Heilands letztes Hemd

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Michael Behnke

Oklahomastraße 12, 66482 Zweibrücken

In einem Dorf, nicht allzu weit von Trier entfernt, taten ein evangelischer Pfarrer und ein katholischer Priester ihren Dienst in ihrer jeweiligen Gemeinde. Sie waren sich zugetan in launischer Freundschaft. In der Zeit, als der Heilige Rock mal wieder ausgestellt wurde, trafen sie sich auf der Straße. Der evangelische Kollege eröffnete das Gespräch: „Lieber Herr Stiefbruder, der Heilige Rock, der ist nicht echt!“ Lakonisch antwortete der katholische Amtsträger: „Aber natürlich ist der echt!“ Doch der evangelische Geistliche beharrte schmunzelnd: „Nee, nee, der ist nicht echt! Neulich war ich mit einer Gruppe von Konfirmanden in Trier und ich habe mal hinter den Rock gelangt, und da fand ich ein Preisschild von Neckermann; also ist er nicht echt!“ Aber der katholische Kolleg ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Aber Herr Stiefbruder, was reden Sie da? Natürlich ist er echt. Das mit dem Preisschild, das kenn ich. Das war ein Dummer-Jungen-Streich! Haben Sie denn nicht gesehen, dass das Preisschild von einer Familienpackung Herrensocken abgemacht wurde? Ich war letztens auch in Trier, und da wollte ich es genau wissen. Also griff ich in die eine Tasche vom Rock und was meinen Sie, was ich da gefunden habe? Die originale Einladung zur Hochzeit von Kana! Also ist er echt, der Heilige Rock!“

Ich fand diese Anekdote in einem Büchlein von Helmut Thielicke, das 1974 veröffentlicht wurde[1]. Wir haben uns ja in den letzten Jahren nolens volens daran gewöhnt, dass ein Stück Textil vehement mit einem religiösem Bekenntnis in Verbindung gebracht wird und dass darum schon hochemotional aufgeladene Debatten geführt wurden, die bis zum BVG in Karlsruhe reichten.

Ich rede vom muslimischen Kopftuch für Frauen. Und nun geht es schon wieder um ein Stück Textil, das jetzt zu einer innerkonfessionellen Debatte zwischen Evangelischen und Katholiken führte vor dem Hintergrund der Frage: Sollen wir Evangelischen der Einladung des Bistums Trier folgen, an der diesjährigen Heilig-Rock-Wallfahrt teilzunehmen?

Dabei oszilliert die Debatte zwischen den Überzeugungen, dass es einerseits theologisch-prinzipiell nicht gehe, weil Protestanten den Reliquienglauben ablehnten und jede Wallfahrt traditionell mit einem Ablass in Verbindung stehe, was ja nun gar nicht angehe, andererseits beschwört man aus praktischen Erwägungen den ökumenischen Gedanken und ruft zur Teilnahme auf, denn schließlich stehe ja nicht das Textil, sondern das Christusbekenntnis im Zentrum. Soweit, so bekannt![2]

Man könnte nun das Problem auf die Frage verkürzen: Dürfen Protestanten wallfahren oder dürfen wir nur wandern? Oder anders ausgedrückt: Können wir Protestanten auf einer Wallfahrt religiöse Erfahrungen machen oder nehmen wir dieses Angebot lediglich zum Anlass, eine schöne Wanderung mit unseren katholischen Brüdern und Schwestern zu machen, unabhängig davon, was diese damit verbinden; eben weil’s schönes Wetter ist, hübsch organisiert ist, vielleicht sogar was „umme gibt“, weil’s folkloristisch ist und Spaß macht?

Auch wenn meine Frage richtig gestellt sein sollte, dann kann ich sie dennoch nicht wirklich beantworten. Denn einerseits geht es ja bei dem Textil im theologischen Sinn nicht um die „letzten Dinge“, sondern vielmehr um ein „Vorletztes“, etwas Vorläufiges, ja Banales gar, was insofern im religiös-ethischen Sinne ein „Adiaphoron“ darstellt; andererseits verbinden sich damit die seit 500 Jahren ungelösten kontrovers-theologischen Streitigkeiten zwischen Evangelischen und offiziellen Katholizismus, die eine Teilnahme als Verrat an der evangelischen Sache ansehen lassen. Wie immer man die Sache wendet, letztendlich läuft es evangelischerseits auf eine Gewissensentscheidung jedes einzelnen hinaus, ein evangelisch-kirchliches Votum kann hier nur einladenden oder warnenden Charakter haben.

Wie auch immer einer diese Frage beantwortet, es bleibt für uns Protestanten jedoch nur ein theoretisches Problem. Wallfahren ist aber überhaupt nichts Theoretisches, sondern ein zutiefst sinnlich-physisches Erlebnis, auf das man sich erst mal einlassen muss, bevor man kompetent mitreden kann. Und so lege ich coram publico zerknirscht, doch ohne Scham eine Beichte ab: Ich bekenne, ich bin schon gewallfahrt!

Wie konnte es nur soweit kommen? Nun ja, im Jahr 2000 boten ein Kollege und ich im Rahmen der Studienfahrten für die Kursstufe 12 eine Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg an. Zugegeben, der Andrang war nicht groß. Doch fand sich eine kleine tapfere Schülergruppe bereit, mit Wanderstab, Pilgerpass und Acht-Kilo-Rucksack das Abenteuer zu wagen. Wir begannen in St-Jean-Pièd-de-Port am Fuß der französischen Pyrenäen, überquerten das Grenzgebirge, kamen ins spanische Roncesvailles, ließen uns dort den speziellen Pilgersegen spenden, nahmen Teil an dem kargen Pilgeressen und verbrachten die Nacht in der riesigen Abtei. Nach vier Tagen, drei weiteren „Refugios“ (Pilgerherbergen) und 90 km Wanderweg kamen wir mit wunden Füßen, brennenden Beinen und schmerzendem Rücken, aber mit strahlenden Gesichtern am Endpunkt unseres Weges, in Pamplona, an.

Was ist nun mit uns geschehen? Ganz einfach: Wir hatten eine Unmenge an überraschenden Erfahrungen und Begegnungen gemacht, die ich auf drei Aspekte eingrenzen möchte:

Da war zuerst etwas rein Physisches, nämlich die schmerzhafte Erfahrung, dass ein Acht-Kilo-Rucksack mit zunehmender Dauer ein gigantisches Gewicht annimmt, dass irgendwann  alle Knochen schmerzen, die Beine höllisch brennen und die Füße Blasen bilden, dass man mit jedem Schritt spürt, wie schwer selbst unsere aufs Minimum reduzierte Habe uns drückt und belastet und wie wir zu Lasttieren unseres Besitzes wurden, den wir eigentlich nur noch verringern wollten. Ich begriff, wie theoretisch es doch ist, von christlicher Freiheit zu sprechen, wenn man einsehen muss, dass wir mit unserer ganzen Habe und all dem, von dem wir meinen, dass wir es brauchen zum Schutz, zur Vorsorge und Gebrauch, zu unserem Vergnügen oder zu was auch immer, im Grunde nichts anderes sind als Sklaven, die erdrückt werden von all dem Eigentum, das wir so im Laufe eines Lebens ansammeln. Können wir wirklich geistig frei sein, wenn wir anderseits so sehr an so vielen materiellen Dingen hängen?

Diese elementare physische Erfahrung verband sich aber mit einem überraschenden Gemeinschaftsgefühl; denn wir alle teilten ja das gleiche Leiden und nahmen darum aufeinander erstaunlich viel Rücksicht, machten Pause, wenn einer nicht mehr konnte, verbannten uns gegenseitig die stechend schmerzenden Blasen und drückten uns gegenseitig die bergigen Steigen nach oben und freuten uns riesig, wenn wir in der Ferne das Tagesziel entdeckten. Dieses gemeinsame Leiden hat uns binnen kürzester Zeit zu einer helfenden Gemeinschaft zusammen geschweißt, einfach großartig!

In den Refugios und während des Wanderns machten wir eine Vielzahl von Bekanntschaften.  Ich selbst sprach mit Engländern, Franzosen, Spaniern, Kanadiern und Deutschen, wobei die Gespräche innerhalb kürzester Zeit ungemein intensiv wurden, ohne dass wir voneinander die Namen wussten. Dabei traf ich nur auf wenige, deren Motivation religiöser Natur war. Viele waren eingestandener Maßen unreligiös, kirchenfern, einige bezeichneten sich gar als Atheisten. Fast alle waren irgendwie Suchende, hatten eine Trennung, einen Verlust oder eine Krankheit hinter sich, wollten sich selbst suchen, einen neuen Anfang finden. Einen der Atheisten fragte ich, warum er denn als einer, der dezidiert gegen Religion ist, den Jakobsweg gehe und nicht eine andere Tour gewählt habe. Seine Antwort: Nur auf dem Jakobsweg erwarte er für sich eine Spiritualität, von der er sich neue Orientierung verspreche, auch wenn dies widersprüchlich sei.

In dieser intensiven Atmosphäre vergingen unsere Pilgertage, und wir hatten das Gefühl, in einer spirituellen Bewegung mitzuschwimmen. Als wir in Pamplona ankamen und dort noch einen Ruhetag einlegten, spürten wir physisch, wie wir aus dieser Bewegung ausgestiegen sind. Wir gehörten jetzt nicht mehr dazu; ich empfand Wehmut, als ich unsere Weggenossen weiterpilgern sah.

Aber nun zurück zum Heiligen Rock: Vor dem Hintergrund meiner Erfahrung kann ich nur dazu ermuntern, an dieser Wallfahrt teilzunehmen. Sowenig wie es mir darum ging, in Santiago de Compostella mein Pilgerzeugnis abzuholen, sowenig muss es einen Protestanten kümmern, was ihn in Trier erwartet. Ob es nun die Schlappen des Herrn, die berüchtigt-berühmten Jesuslatschen oder des Heilands letztes Hemd sein soll, es ist doch einerlei. Es geht um den Weg und die Erfahrungen, die dort auf uns warten. An einem Pilgertag beschränkt sich unser persönliches Planen auf den Abmarsch, das weitere Planen können wir unseren Füßen überlassen. Auf was wir aber wirklich neugierig sein sollten, das sind die Begegnungen, die auf dem Wege auf uns warten und auf uns zukommen. Hinter jeder einzelnen versteckt sich meiner Meinung nach der Advent des Herrn, der all unser Planen, unsere Sorge und Zukunftsbesoffenheit, für einen Moment vergessen lässt.

„Und führe zusammen, was getrennt ist!“ Ist dies nicht ein wunderbares Motto, in dem wir uns Protestanten auch wiederfinden können? Erinnert es nicht daran, dass auch wir Evangelischen als Teil der gesamten Christenheit „als wanderndes Gottesvolk“ unterwegs sind zum Herrn? (Hebr. 11+12)[3]. Und täten wir das nicht ganz konkret bei der Wallfahrt zum Heiligen Rock – jeder nach seiner Facon? Also dann los! Oder auf gut „Pälzisch“: „Aller hopp, do geh’ mer hin!“

[1] Helmut Thielicke, Das Lachen der Heiligen und Narren. Herder TB 491, Freiburg 1974, S.116.

[2] Siehe dazu den Artikel: „Bescheisserey zu Trier mit Christus Rock“. Ein Interview mit Marianne Wagner und Paul Metzger, in: DIE RHEINPFALZ 87, 15.4.2012.

[3] Mit dem Bild vom „Volk Gottes“ betonte auch das Zweite Vatikanische Konzil eine „wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi“. Aus wikipedia.de, Art.: Das wandernde Gottesvolk.

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