Bischof Bell im House of Lords – prophetisch, beharrlich, störend George Bell im kollektiven ökumenischen Gedächtnis

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Max Krumbach
Sundahlstraße 1, 66482 Zweibrücken

P. Raina, hg., in Zusammenarbeit mit M. Gardei, K. Kreibohm, K. Martin, A. Nachama, Ökumeniker, Brückenbauer, Fürsprecher, Europäer. Bischof George Bell – Reden aus dem Oberhaus des Britischen Parlaments und Briefwechsel mit Rudolf Heß, Wiesbaden-Berlin 2012

Nach George Bells Abschiedsrede im House of Lords hebt Lord Paken­ham[1] den Einsatz des Bischofs für die Kirchen in Deutschland hervor. In Großbritannien und außerhalb Deutschlands gebe es niemanden „und nur wenige in Deutschland selbst“, „der soviel für das Christentum in Deutschland getan hat wie der Right Reverend Prelate, der Bischof von Chichester.“[2] Der Lord erinnert an Bells Ausdauer und Geradlinigkeit. „Durch sein Beharren darauf, dass die Erfordernisse des Staates vor dem Gewissen, vor der Prüfung durch die höchste Moral, Bestand haben müssen, ist er insbesondere für die Mitglieder der Regierung eine störende Kraft gewesen.“[3]

Peter Steinbach[4] sieht in Bischof Bell einen „der bedeutendsten Brückenbauer des 20. Jahrhunderts“.[5] „… endlich, eigentlich viel zu spät“ liegen seine Reden im House of Lords[6]und sein Briefwechsel mit Rudolf Heß in deutscher Übersetzung vor.

Sie überschneiden sich teilweis­e mit „A. Chand­ler, hg., Brethren in Ad­ver­sity. Bishop George Bell, the Church of England and the Crisis of Ger­man Protestan­tism“[7] und ergänzen den Briefwechsel George Bells mit Alphons Koechlin.[8] Die vorliegenden Texte gewähren einen Einblick in Bells politische und parlamentarische Wirksamkeit. Sie erweitern ein Geschichtsbild, das durch Dietrich Bonhoeffer[9] geprägt ist, der hier unerwähnt bleibt.

R. Groscourth[10] und M. Gardei legen in ihrem biographischen Abriss den Schwerpunkt auf das Wirken Bells für Deutschland: „Bischof George Kennedy Allen Bell (1883–1958) und die Ökumene“. Peter Rai­na führt unter der Überschrift „Moralische Autorität und politische Verantwortung“ in die Themen des Bandes ein.

Wir begegnen einem Bischof, der Kontakte mit der NS-Führung sucht. Der Briefwechsel beginnt mit einer Aktennotiz über das Treffen der Ehepaare Bell und Heß in deren Mün­chner Privathaus im September 1935. Der Bischof von Chichester nutzt die Gelegenheit, um sich für die Bekennende Kirche, nicht-ari­sche Christen und inhaftierte Pfarrer einzusetzen.[11] Heß geht auf Bells Anfragen ein. Erst 1937 reagiert er ungehalten auf die Forderung der Freilassung Martin Niemöllers, die Bell einen Tag vor dem Beginn der Konferenz für prak­tisches Christentum in Oxford (12-26.7.­1935) abschickt.[12] Dennoch wendet sich Bell während der Sudetenkrise noch einmal wegen Niemöllers Gesundheit an ihn und den Bot­schafter von Ribbentrop[13]. Eine Reaktion ist nicht belegt.

In seiner ersten Oberhausrede macht Bell auf die Notlage der Flüchtlinge und insbesondere der nicht-arischen Christen aufmerksam. Er erwartet diplomatische Schritte, um den in Deutschland ausgewiesenen Staatsbürgern zu erlauben, ihr Vermögen mitzunehmen. Für die Asylbewerber verlangt er Aus- und  Weiterbildungsmöglichkeiten. Sie werden den Wohlstand des Gastlandes mehren und den „Rückgang der Reproduktionsrate stoppen“.[14] Nach dem Kriegsausbruch fordert Bell im Zusammenhang mit der Internierung von Staatsangehörigen der Feindstaaten die Freilassung der „echten Flüchtlinge vor dem Hitlertum“ und die Zusammenführung der Ehepaare.[15]

Im Dezember 1939 unterstützt er alle Versuche, noch eine Friedensregelung zu erreichen. Denn die Fortführung des Krieges dient niemandem. „Die einzigen Mächte, denen dies dienen könnte, sind die Mächte des Atheismus und des Kommunismus.“[16] Die Grenze eines Ausgleichs zieht er dort, wo Bewohner der britischen Kolonien und Juden betroffen wären. Eine Frucht seiner ökumenischen Wirksamkeit ist die Verbindung des alten Themas der Abrüstung mit dem neuen Thema einer Neugestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen.[17]

George Bell richtet während des Krieges seine Blicke auf den Frieden. „Wir müssen eine positive Vorstellung vom zukünftigen Europa und von den Prinzipien bekunden, auf die eine zukünftige Ordnung aufbauen wird.“ Er tritt für eine Unterscheidung zwischen Deutschen und kriminellen Anhängern der NS-Regimes ein. Er nennt Kardinal Faulhaber, die Bischöfe Bornewasser, Preysing, von Galen und Landesbischof Wurm. Die Pläne der sowjetischen Verbündeten beunruhigen Bell. Die Zukunft Europas und die Zukunft Deutschlands gehören zusammen: Europa ein „Haus mit Freiheit und Nahrung für alle Familienmitglieder“. Ein „neues Modell für die Existenz Europas“ ist notwendig.[18] Die wirtschaftliche Verflechtung wird der Einheit Europas dienen.

Trotz der NS-Vernichtungspolitik hält er an der Unterscheidung zwi­schen Deutschen und dem NS-Staat fest. Der Widerstand soll eingebunden werden, um „einem vom Hitlertum befreiten Deutschland eine faire Chance und den ihm gebührenden Ort in der europäischen Familie zu geben“.[19]

Bekannt ist Bells klarsichtige Kritik am Bombenkrieg, mit der er sich isolierte. Er erkennt die Gefahr, dass die Alliierten ihren ethischen Anspruch verspielen und europäische Kulturgüter zerstören, die für ein friedliches Miteinander wichtig sind. Er hält die Bombenangriffe für kriegsverlängernd, da sie bei den Betroffenen eine Solidarisierung mit der NS-Herrschaft erzeugen.[20] Zehn Monate später greift er die im befreiten Europa zu lösenden Probleme auf: Nahrung, Kleidung, Wohnung, die Displaced Persons und der Wiederaufbau der Infrastruktur.[21]

Um den geistigen Wiederaufbaus Europas zu unterstützen, plädiert er für die Zusammenarbeit der Weltreligionen und der christlichen Kirchen. Er beruft sich auf seine ökumenischen Erfahrungen und hofft, dass die russisch-orthodoxe Kirche ihren Beitrag wird leisten können. „Die Kirche muss sich mit den Gewerkschaftler und allen Menschen guten Willens aktiv dafür einsetzen, die sozialen Bedingungen dafür zu verbessern und das politische und soziale Bewusstsein zu entwickeln. Gewerkschaftler sind keine Heiden.“[22]

Die Friedenssehnsucht bewegt ihn: „Wenn die mächtigsten Länder der Welt entschlossen sind, den Krieg abzuschaffen, dann wird das möglich sein.“ Eine Weltfriedensorganisation geht für ihn mit einer rechts­staatlichen Weltordnung, sozialer Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte einher.[23]

Der Einsatz der Atombomben hat das Misstrauen wachsen lassen. Es „behindert den nationalen wie internationalen Fortschritt.“ Um allen Menschen eine Lebenschance zu geben, setzt Bell auf Impulse von der Wirtschaft. Im Blick auf Europa heißt das, dass alle Ressourcen gemeinsam genutzt werden. Dahinter leuchtet die Faszination eines Weltfriedensstaates auf.[24]

Im Dezember 1945 richtet Bell die Aufmerksamkeit auf die Zustände in Deutschland um der Zukunft Europas, des Weltfriedens und des britischen Ansehens willen.[25] Auch im Umgang mit Kriegsgefangenen in Großbritannien[26] und mit Dis­pla­ced Persons in Europa[27] besteht er auf Regelungen, die britischen Rechtsvorstellungen entsprechen und den Frieden fördern.

Wie in der Vorkriegszeit beschäftigen die Entwicklungen in Deutschland das Oberhaus in der Nachkriegszeit. Ziel ist, eine tragfähige Friedens­ord­nung zu schaffen. Bell befürchtet ein Scheitern. „Die Zukunft Europas ist unausweichlich mit Deutschland verbunden, und wir müssen diesen Teil des europäischen Problems um Gesamteuropas willen im Auge behalten… Wenn Deutschland geteilt wird, wird Europa geteilt.“[28] „Europa wird entweder zum Schlachtfeld zwischen zwei Mächten und zwei Arten zu leben werden, oder es wird am Ende die Brücke sein, die beide auf friedliche Weise miteinander verbindet.“[29] Die wirtschaftliche Verflechtung Europas und darin eingebettet der Besatzungszonen fördert die Einheit Europas und seine Brückenfunktion.

Für die UNESCO hebt er den Wert der Weltreligionen für das Kulturleben hervor. Im Bezug auf Dawson[30] beschreibt Bell 1949 die geistige Lage der Gegenwart: „Auf der einen Seite steht eine säkularisierte wissenschaftliche Weltkultur, die als Körper ohne Seele existiert; auf der anderen Seite steht die von der Kultur geschiedene Religion als ein körperloser Geist.“[31] 

Erstaunen erregt Bells Umgang mit den Kriegsverbrecherprozessen. Ein Klima des Vertrauens hält er für wichtiger als die Fortsetzung der Verfahren. Er bittet sogar um die Überprüfung der Urteile. Prozesse bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollten an deut­sche Gerichte abgegeben werden.[32] In diesen Zusammenhang gehört das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR.[33]

Bell setzt sich für eine aktive Unterstützung des Schuman-Planes ein. „Großbritannien ist das natürliche Zentrum des europä­ischen Denkens.“[34] Er gehört zu denen, die meinen, „dass in einer deutsch-fran­zö­sischen Kooperation ohne Großbritannien eine echte Gefahr läge“. Er kritisiert die Haltung der Regierung, weil er langfristig die Abkoppelung des Vereinigten Königreiches von der europäischen Entwicklung befürchtet. Unter den zahlreichen Europa­skep­tikern in Großbritannien, vor allem in der Partei des konservativen Premierministers David Cameron, stößt Bells Einstellung bis heute auf heftigen Widerstand.

Nach dem Ausbruch des Koreakrieges warnt er davor, allein auf militärische Maßnahmen zu setzen, ohne Freiheit mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. „Es gibt zu viele Menschen, die Macht und Reichtum anbeten und die dabei Millionen und Abermillionen verarmter Menschen vergessen, und die auch vergessen, dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt.“[35] Monate später erinnert er an die Unterdrückung der Kirchen im Warschauer Pakt. Der „grundlegende Fehler der kommunistischen Überzeugung ist ihre Ablehnung der Freiheit in geistigen Dingen.“[36]

Bell widersetzt sich dem Einsatz der Atombombe wegen der sittlichen Folgen eines totalen Krieges: Alle moralischen Hemmungen werden über Bord geworfen und Entscheidungen militärischen Zwecken untergeordnet. Die Wahl der Mittel bleibt für Bell wesentlich. Er hält den Einsatz der Atom­bombe für ein „Sakrileg ohne Gleichen gegenüber der Natur und der menschlichen Persönlichkeit“.[37]

Beim Plan zur Bildung einer zentralafrikanischen Föderation kritisiert er wie der schottische Missionsrat die Hindernissen bei der Emanzipation der Afrika­ner in Südrhodesien auf den Feldern der Bildung, der Passgesetze, des Wahlrechtes, der Industriegesetzgebung und der Rassenschranken sowie der Vertretung im Gesetzgebenden Rat in Nordrhodesien. Die Ablösung von Europäern durch Afrikaner muss vorbereitet werden.[38]

In der Diskussion über die Reform des Oberhauses und die Rolle der geistlichen Lords eilt Bell seiner Zeit weit voraus: Die Kirche von Schottland, die römisch-katholische Kirche, die Freikirchen, das Judentum und andere Religionen sollten durch Lords auf Lebenszeit unter den geistlichen Lords vertreten sein.[39]

In seiner Abschiedsrede geht er auf die Verhältnisse in den Staaten des Warschauer Paktes nach der Unterdrückung eigenständiger Regungen durch die UdSSR ein. „Doch alle Erfahrung zeigt – wie bei den Nationalsozialisten – die unentrinnbare Logik des totalitäten Systems, die zu einem Sieg der extremen Kräfte führt.“[40] Er verweilt beim pseudo-religiösen Ritus der Jugendweihe und dem staatlichen Zwang. Beim Thema Religionsfreiheit erinnert er an die Machtergreifung Hitlers, die er genau 25 Jahre zuvor in Berlin selbst miterlebt hat. „Denn die Religionsfreiheit ist eines der Fundamente des zivilisierten Zusammenlebens.“[41]54 Jahre später sehen wir die Folgen: die seelische Wüste, die sich dort ausbreitet, wo die Religionsfreiheit eingeschränkt worden ist.

In Bells Briefen und Reden begegnen wir einem weit­sich­tigen, beharrlichen, Widerstände angehenden, um die Aufgabe seiner Kirche wissenden Ökumeniker, der seine Positionen in der parlamentarischen Auseinandersetzung vertritt und sich widerstreitenden Interessen aussetzt. Er verkörpert die Chancen eines einzigartigen Modells, das an die Institution des britischen Oberhauses gebunden ist.    

Ich halte es an der Zeit, dem „Ökumeniker, Brückenbauer, Fürsprecher, Europäer“ George Kennedy Allen Bell und anderen prägenden Frauen und Männern der ökumenischen Bewegung in der Gedächtniskirche ebenso einen Platz einzuräumen wie den Vertretern der Reformation des 16. Jahr­­hunderts. Sein Freund Dietrich Bonhoeffer hat 1998 seinen Platz am westlichen Eingang der Westminster Abbey gefunden.

[1] Francis Aungier Pakenham, 7. Earl of Longford, 1905 – 2001

[2] 30/1/1958, 181

[3] aaO, 182

[4] Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin und Vorsitzender des internationalen Beirats der Topographie des Terrors Berlin

[5] aaO, 9

[6] 1938–1958 bzw. 1935 – 1938

[7] A. Chandler, hg., Brethren in Adversity Bishop George Bell, the Church of England and the Crisis of German Protestan­tism, 1933 – 1939, Church of England Record Society, Bd. 4, Woodbridge, Suffolk – Ro­chester NY, 1997, vgl. PfPfBl 90, 2000, 108–111

[8] A. Lindt, hg., George Bell Alphons Koechlin Briefwechsel 1933–1954, Geleit­wort von W.A. Visser’t Hooft, Zürich 1969

[9] Vgl. die Briefe und Dokumente in E. Bethgeua. hg., Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 13 – 16, Gütersloh 1994–1998

[10] R. Groscurth, E. Zachau, Mut zur Ökumene Fünf Jahrzehnte Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen der Protestantisch-evangelisch-christlichen Kirche der Pfalz und dem International Congregational Council, BlPfKG 74, 2007, 157-168

[11] Von diesem Gespräch berichtet Bell kurz danach Alphons Koechlin: A. Lindt, hg., George Bell Alphons Koechlin Briefwechsel 1933-1954, Geleit­wort von W.A. Visser’t Hooft, Zürich 1969, 222 „Er strebt, wie mir schien, eine vernünftige und glückliche Lösung der Kirchenfrage an…“

[12] Zu Oxford vgl. N. Ehrenström, Die Bewegungen für Internationale Freundschaftsarbeit und für Praktisches Christentum, 1925-1948, in R. Rouse, St. Ch. Neill, Geschichte der ökumenischen Bewegung 1517–1948, Zweiter Teil, Theologie der Ökumene Band 6, Göt­tingen 1973², 181–256, 242–251

[13] 18/9/1938, 219

[14] 27/7/1938, 33-35

[15] 12/6/1940, 44  49

[16] 13/12/1939, 36-43, 38

[17] 40

[18] 10/3/1943, 50-56

[19] 11/2/1943, 57-62, 61

[20] 9/2/1944, 69-86

[21] 14/12/1944, 87-89

[22] 19/12/1944, 90–95, 94; vgl. Bells Stellungsnahmen zur Wohnungsnot, 15/11/1951, 154, und zum Ausbau der Universitäten, 22/7/1957, 165–166. P. Albrecht, Zur Entwicklung des sozialen Denkens und Handelns in der Ökumene, in H.E. Fey, hg., Geschichte der ökumenischen Bewegung 1948-1968, Dt. Ausgabe bearb., G. Gaßmann, Theologie der Ökumene Bd. 13, Göttingen 1974, 309-343

[23] 17/4/1945, 101-102

[24] 27/11/1945, 103-106

[25] 5/12/1945, 107-108

[26] 11/7/1946, 109-112; vgl. zu einzelnen Themen den Überblick in O.F. Nolde, Ökumenisches Handeln in internationalen Angelegenheiten, in in H.E. Fey, hg., Geschichte der ökumenischen Bewegung 1948-1968, Dt. Ausgabe bearb., G. Gaßmann, Theologie der Ökumene Bd. 13, Göttingen 1974, 344-375

[27] 19/12/1946, 113-116

[28] 11/6/1947, 117-120, 117

[29] 118

[30] Chr. Dawson, Religion and Culture Gifford Lectures 1947, New York 1948

[31] 26/1/1949, 121-123, 123

[32] 5/5/1949, 124-134

[33] 23/5/1950, 135-140

[34] 28/6/1950, 141-144, 142

[35] 26/7/1950, 145-147, 146

[36] 29/11/1950, 148-149, 149; vgl. 28/2/1951, 152-153

[37] 14/12/1950, 150-151, 151

[38] 1/4/1953, 155-164

[39] 30/10/1957, 167-170

[40] 30/1/1958, 171-186, 174-175

[41] 179

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