Das Traumverständnis Grimmelshausens

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Helmut Aßmann

Herzogstraße 74, 67435 Neustadt-Gimmeldingen

In seinem Roman „Des Vortrefflich Keuschen Josephs in Egypten Lebensbeschreibung samt des Musai Lebens-Lauff“ erzählt Grimmelshausen die biblische Josefserzählung nach und dichtet sie um. Er kommt deshalb nicht darum herum, sich mit dem Traumverständnis der Antike auseinander zu setzen und dabei sein eigenes Traumverständnis an den Text heranzutragen; denn der Rahmen des biblischen Josefsromans wird durch die Träume Josefs prädisponiert und auch die Dramatik des Geschehens kann ohne die Träume nicht verständlich gemacht werden. Beginnt doch die Ouvertüre mit dem lapidaren Satz: Israel aber hatte Josef lieber als alle seine Söhne (Gen373). Der Konflikt spitzt sich zu, als Josef den Brüdern seinen Traum erzählt, in dem sich die Garben seiner elf Brüder vor der seinen verneigen.

Denn er sprach zu ihnen: „Höret doch, was mir geträumt hat; Siehe, wir banden Garben auf dem Felde, und meine Garbe richtete sich auf und stand, aber eure Garben stellten sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe“ (Gen 376-7). Die Wirkung dieser Erzählung bleibt denn auch nicht aus: „Und sie wurden ihm noch mehr Feind um seines Traumes und um seiner Worte willen“ (Gen378b).

Nun folgt der zweite Traum: „Ich habe noch einen Traum gehabt; siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir“ (Gen379).

Während sich der erste Traum nur auf die Beziehung Josefs zu seinen Brüdern verschlechternd ausgewirkt hatte, meldet sich nun der Vater zu Wort: Und als er das seinem Vater und seinen Brüdern erzählt hatte, schalt ihn sein Vater und sprach zu ihm: Was ist das für ein Traum, den du geträumt hast? Soll ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen? Und seine Brüder wurden neidisch auf ihn (Gen3710-11). Aber sein Vater behielt diese Worte (Text nach der revidierten Lutherübersetzung, 1988).

Natürlich richten sich die letzten Worte an den Leser, denn er soll ja diese Worte im Gedächtnis behalten. Wird er doch Zeuge sein dafür, dass der Garbentraum in Erfüllung geht, nämlich, als sich die Brüder vor Josef niederwerfen und zu ihm sagen: Wir sind deine Knechte (Gen5018).

Anders verhält es sich mit dem Sternentraum. Es kommt nicht dazu, dass sich Vater und Mutter vor Josef niederwerfen, wie es die Stellung Josefs am Hof des Pharao eigentlich erforderlich gemacht hätte. Dies hätte dem Monotheismus Israels widersprochen und entsprechend scharf weist Israel das Ansinnen Josefs zurück; denn er versteht die Träume Josefs als Ausdruck eines narzistischen Wunschdenkens ebenso wie die Brüder. Erst der Erzähler sieht in den Träumen die Verheißungen Gottes. Es entsteht eine Spannung zwischen dem Traumverständnis der Protagonisten und dem des Erzählers: Allmachtsphantasie versus Verheißung!

Wie geht nun Grimmelshausen mit dieser Dialektik des biblischen Stoffes um? Er leitet die Traumerzählung mit folgenden Worten ein: „Je mehr aber seine Tugenden von seinen mißgünstigen Brüdern beneidet wurden, umb soviel desto mehr wurden solche hingegen nicht allein von seinem Vatter sondern auch von Gott selbst zum höchsten beliebt; Denn der Himmel offenbarte ihm im Traum, was vor eines Glücks er sich zu derselben Belohnung vor seinen Brüdern inskünftig zu getrösten hätte; Wordurch er zugleich Anlaß bekam, den Auslegungen der Träum obzuligen deren Bedeutungen nach zusinnen und was ihm daran noch abgieng von seinem Vatter zu lernen“. So deutet der Vater Josefs Traum. „Dieses bedeutet dir antwortet Jacob dass du der beste unter deinen Brüdern seyest und in angefangenen Tugenden standhaftig verharren werdest, weil deine Garben auch aufrichtig stehen blieben dass deiner Brüder Garben aber niedergefallen und die deinige angebetet bedeutet ihnen nichts anders als dass sie ernstlich vom Tugendweg abweichen: Eine unverantwortliche Tat begehen; und alsdann in ihrem höchsten Kummer dich in deinem Glück und Wolstand um Hilf und Gnad anflehen werden“ (S. 11/12).

Den andern Traum deutet Jakob später auf die Biographie Josefs retrospektiv. Die elf Sterne mit Sonne und Mond sind die 13 Jahre, die zwischen Josefs Verkauf und seiner Erklärung zum Stellvertreter des Pharao vergangen sind, also auch als Verheißung seiner einstigen nachmaligen Größe. Nach Grimmelshausen offenbart Gott im Traum den Menschen ihr zukünftiges Schicksal, um sie für ihre Tugend zu belohnen und andere für ihre Untugend zu bestrafen, wie z.B. dem Mundschenk und dem Bäcker, die mit Josef das Gefängnis teilen, exemplarisch geschieht.

Im Gespräch der Brüder über Josefs Traum kommt ein anders Traumverständnis zur Sprache: „Sagte Judas … es seye ein große Thorheit an Träum glauben weniger sich ihretwegen entweder zu bekümmern oder zu erfreuen. Joseph hätte halt umb selbige Zeit helfen einerndten und womit er des Tags umgangen, das seye ihm des Nachts im Schlaf vorkommen; dass nun der Vatter ein Profezeiung daraus mache, da müsse man ihn reden lassen, sein Alter ehren und ihm zugeben“ (S. 12).

Ruben bestätigt dies Traumverständnis, indem er einen eigenen Traum beiträgt, der jedoch bei Licht besehen eine Vorankündigung des Geschicks Josefs enthält, nur dass Ruben sie nicht versteht. „Ruben antwortet hierauf, es pflege ihm dergleichen zu widerfahren wie dem Joseph; Dazu als er erst kürzlich zu sichern gewesen die Waid zu besichtigen hätte ihm geträumt als wann ihm etliche Fuchs und Leoparden das beste Lamm aus seines Vatters Heerd alldorten hinweggenommen und in die Wildnuß geführt er hätte sich zwar gewaltig widersetzt und doch nichts erhalten mögen. Als er aber durch die Wildnuß kommen hätte er ohngefehr dasselbe Lamm wieder angetroffen aber nicht mehr gekannt dieweil es ganz güldene Woll getragen ihn hätte gedeucht dass er selbsten ein gut Kleid von solcher Woll bekommen; sollte er nun aus dergleichen Possen ein künftiges schlüßen so müsste er gestehen dass er sich wol einbilden könne, dass ihm dieser Traum nicht vorkommen seyn möchte, wann er selbige Täg nicht vor die Heerde gesorgt und seine Zeit anderswo als auf derselbigen Waid zugebracht hätte.

Und eben also wäre es auch mit Josephs Traum beschaffen. Träume sagte er weiter, erfreuen die Unverständige und erschrecken die jenige so sich förchten; die allermeiste geschehen vergeblich und alle ihre Auslegungen seynd ungewiß und betrüglich; wessentwegen denn ihre Ausleger Conjectatores, das ist: Räther genannt werden.“ Grimmelshausen erfindet diesen Traum als Satyre auf das Traumverständnis Rubens. Das Lamm, das gefressen wird und danach ein goldenes Kleid getragen hat, ist eine Allegorie auf Josefs Geschick, wird aber von Ruben als solche nicht erkannt.

Darauf erzählt Josef beim Erntedankessen seinen zweiten Traum, „neulich dass Sonn und Mond und eilff Sterne sich vom Himmel gelassen: vor seinen Füßen gedemütigt: und ihne angebetet hätten der alte Jacob sagte hierauff dieser Traum bedeutet dir weit ein größerts als der vorige denn sihe es wird die Zeit kommen daß du nicht allein über deine Brüder erhöhet sondern auch von Vatter und Mutter selbsten geehrt und gleichsam angebetet wirst werden; Mich zwar (hängt er ferner daran) wird höchlich erfreuen wann ich die Ehr habe dich in solchem glückseligen Stand zu sehen und wollte Gott dass diese seine göttliche Vorsehung nur bald ins Werk gesetzt würde dieweil ich gewiß weiß daß solches eigentlich geschehen wird“ (S. 13f). Diese Auslegung zu Gunsten Josefs erzürnt die Brüder so sehr, dass sie wähnen, er werde demnächst träumen, „wie er 11 Stern aufsetze und mit Sonn und Mond danach kugele“ (S. 16) und beschließen, den Vater zu verlassen und Josef zu töten.

Grimmelshausen, der die Träume Josefs als Offenbarung der Vorsehung begreift, worin er dem Traumverständnis des biblischen Erzählers folgt, konterkariert dieses durch die Worte der Brüder bei der Ankunft Josefs. „Ach schauet: Dort komme unser Prinz! Wolan legt euch nieder und erfüllet seine Träum; Sehet doch um Gottes willen der Juncker Träum er hat sich auf unsers Vattern bestes Pferd gesetzt damit er unsere Ehrerbietung desto Majestätischer empfahen möchte! Ey warum sitzen wir doch nicht alle auf unserem Schindmeren damit sie sich gleich wie die Garben in seiner Phantasey getthan vor dem seinigen neigen: und wir zugleich diesen gewaltigen Kern mit anbeten möchten! Zwar warum nicht? Denn diß ist derjenge gewaltige Wundermensch den Sonn und Mond zu Gefallen vom Himmel steigen und sich zu seinen Füßen legen! Diß ist der große Herr von dem Vatter und Mutter erzittern weil sie nicht wissen wie sie ihn genug ehren sollen!

Ja der ist’s! Den wir alle samt unsern Kindern als Sclaven zu dienen vom Himmel zugeeignet seyn! Vielleicht kommt er jetzt darumb in seinem bunden Rock so stattlich aufgebutzt und so prächtig beritten daher um seinen leibeigenen Knechten scharfe Befelch zu erteilen und zugleich die Pflicht des Gehorsams und schuldiger Unterthänigkeit von uns zu empfahen? Ja; (henken sie ferner daran) ehe wir dir zu Gebet stehen wollen ehe soll dem bundter Fürsten-Rock in welchem du gleiehsam Königlich prangest mit Blut besudelt; und dein stolzer Leib von unsers Vattern Angesicht hinweg gerissen; und in den iniersten Schlund der Erden verborgen werden; und dieses sey der Ayd den wir dir anstatt eines unterthänigen Gehorsams wollen geschworen haben“ (S. 19f).

Ist die Maßnahme der Brüder nun getroffen worden, um zu verhindern, dass Josef Herr über sie wird oder verhöhnen sie nur das Traum-Gesicht Josefs, ohne aber an seinen Offenbarungscharakter zu glauben?

Die Satyre Grimmelshausens schreckt nicht vor dem totalen Gegensatz zu seiner Traumdeutung zurück. Bosheit, Hass und Neid werden bis zum äußersten gesteigert, um die Tugend Josefs zu konterkarieren, der in seiner Einheit mit dem Vater dem Abgrund der Welt hilflos preisgegeben ist und der dann ein Urbild, ein Archetyp Christi wird.

 

Zusammenfassung

In dem einzigen Traum, den Grimmelshausen selber dem biblischen Stoff hinzufügt, dem Traum Rubens, handelt es sich um eine Allegorie auf das zukünftige Geschick Josefs. Josef wird darin als ein Lamm gesehen, das zerrissen wird und das an einem andern Tag dem Träumer mit einem goldenen Vlies begegnet.

Die Allegorie wird von dem Träumer nicht verstanden, obwohl der Leser erkennt, was gemeint ist. Er ist also mit allegorischen Anspielungen vertraut und sieht, dass der Traum Rubens die inhaltlichen Aussagen der Träume Josefs bestätigt, statt sie zu relativieren, was ja Rubens Absicht mit der Darbietung seines Traumes ist. Grimmelshausen konterkariert hier wieder sein allegorisches Traumverständnis im Gegensatz zu dem seines Protagonisten. Er unterscheidet somit zwei Ebenen der Träume voneinander: die Realitätsebene, die banal, offenkundig und jedermann zugänglich ist und den verborgenen Sinn der Träume, der einer allegorischen Interpretation bedarf, deren Technik Josef von seinem Vater Jakob erlernt hat.

In der einzigen Traumauslegung, die Grimmelshausen dem biblischen Stoff hinzufügt, deutet Jakob den Sternentraum Josefs, indem er die darin enthaltene Zahl 13, die aus elf Sternen und Sonne und Mond besteht, auf 13 Lebensjahre Josefs deutet, die zwischen dem Verkauf Josefs durch seine Brüder und der Erhöhung Josefs durch den Pharao vergangen sind.

Zahlen, die in Träumen eine Rolle spielen, auf die Lebensjahre des Träumenden zu deuten, kann auch in der analytischen Traumarbeit sinnvoll sein, aber hier handelt es sich wohl auch um die Vorstellung der Zeit Grimmelshausens, dass zwischen dem Kosmos und dem Leben des Einzelnen eine Beziehung obwaltet, die hier an Josef exemplarisch vorgeführt wird. Es ist also nicht die Auffassung des biblischen Erzählers, sondern die Grimmelshausens, die seine Wertschätzung der Astrologie zum Ausdruck bringt.

Durch die Infragestellung des geozentrischen Weltbilds durch das im 16.Jahrhundet aufkommende heliozentrische Weltbild suchte der Mensch sich des Sinnes seines Lebens im Kosmos zu vergewissern, den er sich spiegelbildlich zum Mikrokosmos dachte. Dabei spielten die Planeten die Rolle, menschliche Daseinsbereiche abzubilden. Mars steht für Kriegshandlungen und Soldaten, Merkur für Reisen und Kaufleute, Saturn für Zigeuner, Juden und die dunkle Seite der Existenz, Jupiter für die lichtvolle Seite der Existenz und die Klarheit der Weltsicht, die oft nur dem Narren eigen ist, Venus für die amouröse Seite der Existenz und den Eros, der Mond für die dem Licht abgewandte Seite der Existenz.

Es gibt also zwei Aspekte, die Grimmelshausens Traumverständnis zu dem biblischen Stoff hinzufügt: Die Allegorese und die Astronomie.

Offenbarte Gott in den Vätererzählungen seine geheimen Absichten in Träumen, die dann wie ein Orakel gedeutet wurden, so geht Grimmelshausen über diese Deutung hinaus, indem er sie durch die wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit, die Astronomie und die Allegorese zu vertiefen sucht. An die Stelle des Orakelglaubens tritt der Glaube der Astrologie, dass es eine Entsprechung zwischen Mensch und Kosmos gibt.

Die Allegorese ist eine Form des vierfachen Schriftsinns, der die lutherische Orthodoxie des 16. und des 17. Jahrhunderts bestimmte. Dieser kannte neben dem sensus literalis den sensus allegoricus vel typologicus, den sensus spiritualis und den sensus grammaticus.

 

Grimmelshausen verwendet hier die allegorische Schriftauslegung, um nachzuweisen, dass die Brüder den Willen Gottes durch ihre Vernunft hätten erkennen können, aber nicht erkannt haben und somit unentschuldbar sind.

Dahinter steckt die paulinische Rechtfertigungslehre Röm 1, 18-22: „Denn Gottes Zorn vom Himmel wird offenbart über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit gefangen halten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen seit der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Werken, sodass sie keine Entschuldigung haben. Sie wussten, dass ein Gott ist, und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott noch ihm gedankt, sondern haben ihre Gedanken dem Nichtigen zugewandt, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden.“

Grimmelshausen liefert in seinem Josefsroman eine narrative Darlegung der paulinischen Rechtfertigungslehre, wobei die Brüder Josefs dem Zorn Gottes anheimgestellt werden, während Josef, der Sohn in der Einheit mit dem Vater, eine Allegorie auf Christus darstellt, der in die Grube hinabfährt und wieder aufersteht von den Toten, das Lamm, das geschlachtet wird und wiederkommt mit dem goldenen Vlies, wie es Ruben in seinem Traumgesicht gesehen hat.

Grimmelshausen kann und will uns keine Anleitung zur Deutung von Träumen geben. Aber seine allegorische Schriftauslegung, die er an Hand von Träumen exemplifiziert, nimmt vorweg, was in der analytischen Psychologie der Unterschied zwischen der Realitätsebene und der latenten Bedeutung von Träumen genannt wird, wobei er diesen Unterschied im Sinne der paulinischen Rechtfertigungslehre allegorisiert und am Schicksal Josefs und seiner Brüder narrativ entfaltet. So gesehen ist der Josefsroman Grimmelshausens einerseits ein Beispiel allegorischer Schriftauslegung, und andererseits ein Stück narrativer Theologie. Beides kann am Traumverständnis sichtbar gemacht werden und ich hoffe, dass es mir gelungen ist, dies zu tun.

Wobei er diesen Unterschied am Kanon der Rechtfertigungslehre theologisierend behandelt.

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