Zeitzeugenbericht über die Judenverfolgung in meinem Heimatort

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Hannelore Risch
Danziger Straße 5a, 67454 Haßloch

Vielerorts wurde jahrzehntelang über die Nazigräuel schamhaft geschwiegen. Auch wusste man oft nicht, wie sie zu verarbeiten seien. Doch das hat sich geändert. Mehrmals wurde ich gebeten, in den hiesigen Schulen interessierten Schülern zu erzählen, was ich als Zeitzeugin erlebt habe. Ich berichte:

Es war am frühen Nachmittag des 10. November 1938. Da reichte mir meine Mutter die Einkaufstasche und bat: „Hanne, mache bitte die aufgeschriebenen Besorgungen!“ Ich schwang mich aufs Fahrrad, fuhr vom Pfarrhaus in der Bahnhofstraße Richtung Christuskirche und bog dann links in die Langgasse ein, damals Adolf-Hitler-Straße. Doch vor dem jüdischen Geschäft Loeb war eine große Menschenmenge um einen dort parkenden offenen Pritschenwagen versammelt. Ich konnte deshalb nicht mehr weiterfahren, blieb aber auf dem Sattel sitzen, stützte mich an der Hauswand ab und konnte nun über die Köpfe hinweg sehen, was da vor sich ging: Das Schaufenster war zertrümmert und geplündert. Oben warf jemand etwas aus dem Fenster herunter. Die vielen Zuschauer waren aufgeregt. Einige mir fremde Männer ohne Uniform machten eine Gasse frei. Da ging die Haustür auf und das Ehepaar Loeb wurde herausgeführt. Er trug einen schwarzen Hut und eine Aktentasche, sie einen einfachen, braunen Wollmantel und zwei volle Taschen. Dann mussten die beiden mühsam hinten auf den Wagen hochsteigen, wo schon mehrere Mitfahrer standen. Herr Loeb drehte sich herum und sah auf die vielen Zuschauer herunter. Er sagte kein Wort. Auch die Menschenmenge wurde still. Frau Loeb hielt sich mit gesenktem Kopf an den Planken fest. Bis heute habe ich ihren gebeugten Rücken im Gedächtnis. Niemand protestierte. Ruhig schaute Leo Loeb auf die versammelten Haßlocher, und diese blickten wortlos auf ihren früheren dritten und beliebten Bürgermeister.

Ich weiß heute noch, wie ich damals überlegte: Wer sind hier die Guten und wer sind die Bösen? Ich verstand nicht im Geringsten, was da vor sich ging. Judenverfolgung konnte ich mir absolut nicht vorstellen; denn die Haßlocher jüdischen Mitbürger waren bei uns geschätzt, besonders Leo Loeb und Dr. Hirsch, welcher sogar arme Patienten umsonst behandelte, was bekannt war. Dann sah ich damals noch, wie zwei Männer schnell auf den Wagen hochsprangen, welcher dann langsam Richtung Christuskirche abfuhr. Wohin? Bald löste sich ziemlich betroffen die Menschenmenge wieder auf, und ich konnte endlich weiterradeln und meine Besorgungen erledigen. Obwohl ich damals erst neun Jahre alt war, hat sich dieses Geschehen unvergesslich in mir eingeprägt; denn ich habe es intensiv miterlebt und mir anschließend Gedanken darüber gemacht.

Etwas später wurde mir klar, dass dieses Erlebnis gleich nach der sog. Reichskristallnacht war, als in Deutschland sämtliche Synagogen zerstört oder abgebrannt wurden. Doch die Haßlocher Synagoge, Gillergasse 2, wurde damals nicht angesteckt, sondern nur geplündert und geschändet. Schüler, die an diesem Morgen, dem 10. November 1938, in die Schillerschule gingen, stolperten über Gegenstände, die man aus der Synagoge und der Lehrerwohnung auf die Straße in den Dreck geworfen hatte: ein großer Leuchter – war er siebenarmig? –, Sitzkissen mit Quasten, viele Bücher, Hefte und Akten. Ob da auch die von den Juden so hochverehrte Thorarolle dabei war oder andere ihnen heilige Gegenstände?

Auch Schwester Frieda, dorfbekannte Diakonisse und Leiterin des Kindergartens in der Ohliggasse, war Augenzeugin dieser Schändung. Da rief ein Haßlocher den Plünderern laut zu: „Nehmt die Schwester auch gleich mit!“ Ein anderer brüllte: „Nein! Die kommt das nächste Mal dran! Erst die Juden, dann diese Christen!“ – wurde mir wahrheitsgetreu von mehreren Zeugen berichtet.

Endlich, endlich war 1945 der lang ersehnte Waffenstillstand und der entsetzliche Krieg, der Millionen Menschen das Leben gekostet hatte und Deutschland in Trümmern legte, war nun zu Ende. Wir hofften und beteten, dass unser Papa und mein älterer Bruder Gerhart in amerikanischer Gefangenschaft seien. Doch wir wussten nicht, ob sie noch am Leben waren. Da kehrten auch entlassene, junge Soldaten bei uns ein und baten um Unterkunft; denn wir waren bekannt als „Pfarrhaus der offenen Tür“. Sie wagten nicht in ihren Heimatort in der französischen Zone zu gehen, weil sie fürchteten, dort wieder in Gefangenschaft zu geraten. Auch fanden sie in unserer Mutter eine mütterliche Zuhörerin und schütteten bei ihr das Herz aus. 

So erzählten sie, wie sie das Sterben ihrer Kameraden zutiefst erschüttert hatte, auch dass unzählige Juden in sog. Arbeitslagern zu Tode gequält und ihre Leichen verbrannt wurden. Darüber war meine Mutter sehr entsetzt und rief: „Hanne, kannst du das glauben?“ Ich antwortete: „Nein! Das würde unser Führer nie zulassen!“ Gleichzeitig bin ich erschrocken, weil ich merkte, dass Adolf Hitler immer noch ein Halbgott in meinem Denken war, trotz all dem Leid und unsagbaren Grauen, das er in seinem „germanischen Rassenwahn“ verursacht hatte. Schließlich wurde uns jahrelang eingeimpft, mit erhobenem rechten Arm vertrauensvoll zu schmettern: „Führer, befiehl! Wir folgen dir!“, und zu singen: „Ja, die Fahne ist mehr als der Tod!“ Was für ein verirrter Glaube! Welche Verblendung! Auch hochrangige Christen und Kirchenleiter hatten diese Ideologie nicht an den Pranger gestellt; bis auf wenige Ausnahmen, die dafür umgebracht wurden.

Nach dem Zusammenbruch gingen Berichte und Bilder in alle Welt über die sadistischen Grausamkeiten in den Konzentrationslagern und die Qual der Juden. Das war wohl auch einer der Gründe, dass unser Deutschland im Ausland so verachtet war. Als Abiturientin war ich damals zum 1. Mai in Frankreich und arbeitete in einem internationalen Aufbaulager. Dort traf ich junge Franzosen, Belgier, Amerikaner, Engländer u.a., die im Krieg unsere Feinde waren und schämte mich, eine Deutsche zu sein, obwohl ich zu den Gräueltaten absolut nichts beigetragen habe. Doch wir schlossen Freundschaft und schworen gemeinsam: „Nie mehr Krieg!“

Als ich dann nach Jahrzehnten in den Ruhestand ging, wählte ich mir zum Alterssitz das Heimatdorf meiner Jugend aus. Viele Kindheitserlebnisse stiegen nun wieder in mir hoch. Darum ging ich auch an die Stelle, wo früher die Haßlocher Synagoge stand. Sie war wohl baufällig und deshalb respektlos abgerissen worden. Auch das Mikwebad wurde zugeschüttet. Nur eine dunkle Tafel erinnert bis heute an ihren früheren Standort. Ich entzifferte die fast unleserliche Schrift: „Hier befand sich bis zur Schändung durch die Nationalsozialisten in der Nacht vom 09. und 10. November 1938 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Haßloch. Mit ihrer Zerstörung und der darauf folgenden Deportierung unserer jüdischen Mitbürger endete jegliches jüdische Leben in unserem Ort. Diese Gedenktafel soll zur Erinnerung der lebenden und zur Mahnung der kommenden Generation sein.“

Dann ging ich noch um die Ecke in die Pfarrgasse und betrachtete dort das große Foto dieser recht unscheinbaren Synagoge. Wir nannten sie früher „Juddeschul“. Darauf habe ich auch den Judenfriedhof besichtigt und war zufrieden, dass er einigermaßen gepflegt war. Doch lang weilte ich an der Gedenkstätte in unserem Alten Friedhof ganz hinten und las dort auf einer kleinen Marmortafel am Boden: VERFOLGT und ERMORDET. Darunter der Judenstern und 13. Namen. Unter ihnen Sigmund und Anna Hirsch, ebenso Leo und Lilly Loeb, aber auch die kleine Sonja Hene, die nur sechs Jahre alt wurde. 

Danach erzählte man mir, dass Leo Loeb damals rechtzeitig von guten Freunden gewarnt worden sei, schnell ins Ausland zu gehen, weil er als Jude hier gefährdet wäre. Er habe aber geantwortet: „Ich bin Deutscher! Ich habe im Krieg 14/18 für unser Vaterland gekämpft und sogar eine Auszeichnung erhalten! Leider wurde ich dabei an einem Bein schwer verletzt und trage deshalb eine Prothese. Sowieso kann mir in Haßloch nichts passieren. Ich fühle mich hier geschätzt und geborgen!“ Wir können heute nicht ahnen, was ihn damals bewegte, als er im Beisein vieler Haßlocher abtransportiert wurde und keiner es gewagt hatte, zu protestieren oder wenigstens ihn zu trösten und zu verabschieden. Allerdings wusste auch niemand, dass es ein Nimmerwiedersehen ist.

Oft überlegte ich: Lastet nun eine schwere Blutschuld auf meinem Heimatdorf? Hat diese vielleicht irgendwelche negativen Auswirkungen? Steht sie zwischen uns und dem gerechten Gott? Bei ihm verjährt ja keine Schuld, außer sie wird ans Kreuz gebracht. Wie kann ich dieses Problem verarbeiten? Einfach unter den Teppich kehren, wie es allgemein so üblich ist? Dann wäre es ja trotzdem immer noch vorhanden!

Da zeigte mir Gott den Weg: Ich erfuhr, dass die Evangelischen Marienschwestern zu einer internationalen Bußkonferenz vom 17. – 22. April 2001 nach Jerusalem einladen. Meine Freundin Ingrid Walz, die sich ebenfalls Gedanken zu diesem Thema machte, und ich entschlossen uns als Abgeordnete von Haßloch auf eigene Kosten teilzunehmen. Darum gingen wir zum damaligen Bürgermeister Hanns-Uwe Gebhardt und berichteten ihm von unserem Vorhaben. Er unterstützte uns von ganzem Herzen und gab uns im Einvernehmen mit dem Gemeinderat ein offizielles Schreiben mit, welches wir dort abgeben sollten. So erlebten wir beide im Jerusalemer Kibbuz Ramat Rachel zusammen mit 1100 Christen aus aller Welt einen erschütternden Bußgottesdienst und bekannten vor dem jüdischen Volk und vor Gott die Schuld von 2000 Jahren christlichem Antisemitismus. Dabei flossen Tränen bei Christen und Juden. Wir verpflichteten uns, in Zukunft jeglichem Antisemitismus und Rassenwahn entschieden entgegen zu treten. Rabiner Paul Ladermann nahm tief bewegt unsere Bußerklärung und die gesammelten Unterschriften entgegen und segnete uns auf hebräisch mit dem Aaronitischen Segen.

Am folgenden Tag erlebten wir einen weiteren Bußakt, diesmal in Yad Vashem, der nationalen Gedenkstätte für über sechs Millionen Juden, die in der Hitlerzeit menschenverachtend umgebracht wurden, darunter eineinhalb Millionen unschuldiger Kinder. Die deutsche Gruppe versammelte sich im „Tal der zerstörten Gemeinden“. Da stehen rechts und links riesige, hohe Steinblöcke, in welche über 580 deutsche Ortsnamen eingraviert sind – zum ewigen Gedenken an die damals ausgelöschten jüdischen Gemeinden. Ingrid Walz und ich überlegten, ob auch der Name Haßloch hier verewigt ist? Unter den etwa 400 Teilnehmern waren offizielle Vertreter von fast 40 Städten, welche Albrecht Fürst zu Castell-Castell besonders eingeladen hatte. In tiefer Betroffenheit äußerten nun viele eine persönliche Bußerklärung für ihren Heimatort – Würzburg, Berlin, Magdeburg…um nur einige zu nennen. Auch ich las mit tränenerstickter Stimme unsere  Haßlocher Botschaft vor und übergab sie dem Versammlungsleiter Ehud Olmert, damals Bürgermeister von Jerusalem. Bewegt danke er allen und sprach „von einem neuen Geist aus Deutschland“. Doch er erklärte, er könne uns nicht stellvertretend für Tote Vergebung zusprechen. Zu vergeben stehe nur den Opfern und Gott selbst zu. „Aber wir Israeli ergreifen gern die ausgestreckte Hand der Deutschen!“ Und er streckte seine Rechte zu uns hin. Danach herzliches Händeschütteln!

Nach der Feier gingen Ingrid und ich durch die Steinschluchten und lasen unzählige deutsche Ortsnamen, die in hebräischen und in deutschen Buchstaben hier eingemeißelt sind. Wir suchten und fanden dann auch die Blöcke für unsere Pfalz und waren erschrocken, dass hier auffallend viele Pfälzer Städte und Dörfer eingraviert sind. An dem Block, wo auch Haßloch in hebräisch und deutsch steht, entzündeten wir am Boden zwei Gedenklichter, legten unsere Hände an den Stein und sprachen stellvertretend ein Bußgebet. Dann rätselten wir, wieso erschreckend viele Pfälzer Ortschaften hier aufgezeichnet sind: z.B. Ludwigshafen, Bad Dürkheim, Neustadt, Kaiserslautern, Speyer und viele Dörfer.

Später erfuhren wir, dass damals Gauleiter Josef Bürckel den bösen Ehrgeiz hatte, bei Adolf Hitler besonders zu glänzen, indem er die Pfalz brutal „judenrein“ machte. Zum Abschied von Yad Vashem gingen wir beide noch nachdenklich durch die sog. „Allee der Gerechten“. Dort hat jeder Baum unten ein Namensschild. Darauf stehen die Namen derer, die in der Hitlerzeit ihr Leben riskiert hatten, indem sie in irgendeiner Form Juden beigestanden sind. Die Liebe Jesu, die das eigene Leben verlieren kann, hat sie dazu getrieben. Wir lasen einige bekannte Namen wie Cory ten Boom, aber viele uns unbekannte. Da verneigten wir uns innerlich vor ihnen. Gottes himmlische Belohnung ist ihnen gewiss.

Ingrid Walz und ich sehen es längst als unsere Pflicht, solches Erlebte an die junge Generation weiterzugeben und bitten andere, ebenso Zeitzeugen zu sein. Ich halte es für außerordentlich wichtig, aus der deutschen Geschichte zu lernen, dass neonazistischer Rassismus sich nie mehr ausbreiten darf und dadurch Unschuldige leiden müssen, Ausländer und Migranten verunglimpft werden.

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