Pilgern oder nicht pilgern?

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Dr. Paul Metzger
Weinstraße 35, 67278 Bockenheim

Zur konfessionellen Konfusion um die „Heilig-Rock-Wallfahrt“

„Da geht was“, ruft eine evangelische Theologiestudentin aus Bayern (!) ironisch aus, als sie erfährt, dass sich die evangelische Kirche im Rheinland an der „Heilig-Rock-Wallfahrt“ beteiligt. Zahlreiche Religionslehrer fragen an Universitäten, religionspädagogischen Zentren und am Konfessionskundlichen Institut nach, ob sie die Wallfahrt im evangelischen Religionsunterricht zum Thema machen müssen oder dürfen. In beiden Konfessionen sind Irritation und Zustimmung auszumachen.

Dass konfessionelle Grenzen verwischen, dass das Wissen um die eigene konfessionelle Identität bzw. Religion abnimmt und dass die Polarisierung zwischen Liberalen und Konservativen nicht mehr an Konfessionsgrenzen entlang geschieht, sondern sich innerhalb einer Konfession analog zur anderen vollzieht, sind keine neuen Beobachtungen mehr. Das Streben des modernen Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung stößt an die Grenzen einer Kirche, die für sich den Anspruch erhebt, dem Menschen dank ihrer Botschaft sagen zu können, „was gut ist“ (Mi 6,8). Konfessionelle Grenzen stehen manchmal nur noch unverstanden auf dem Papier und werden deshalb vergessen, nicht beachtet oder nur als Verbote erlebt.

Es lassen sich daher viele Phänomene beobachten, die quer durch alle Konfessionen und quer durch alle gesellschaftlichen wie kirchlichen Gruppen anzeigen, dass der moderne Mensch sich dazu aufgerufen und bevollmächtigt fühlt, seine eigene religiöse Identität zu konstruieren. Rituale werden dabei ihres Sinns entkleidet, deshalb abgeschafft oder feiern gerade dadurch Hochkonjunktur (z.B. die „Übergabe“ der Braut bei der Trauung). Erlaubt scheint, was schön ist (Welcher evangelische Pfarrer möchte bei einer evangelischen Trauung das „Ave Maria“ verbieten?), und geboten, was (anscheinend) gut tut (für manche Menschen: Salbung). Gerade die evangelische Kirche gerät so zunehmend in die vermeintliche Schwierigkeit, keine verbindlichen Kriterien ihres Redens und Handelns angeben zu können. Während in der einen Kirche Heilungs-, Salbungs- und Lobpreisgottesdienste aus dem charismatisch-neupfingstlerischen Milieu offensichtlich die Sehnsucht nach einem sinnlicheren Gottesdienst befriedigen, ist dies für eine andere Kirche kaum denkbar und wird streng abgelehnt. Man kann dies nun als die zu begrüßende Pluralität der evangelischen Kirche werten oder darin ein heilloses Durcheinander, ein „anything goes“ des guten oder schlechten Geschmacks erkennen.

Katholiken pilgern – oder doch nicht?

In der römisch-katholischen Kirche ist eine vielfache Polarisierung zu beobachten. Auf der Gemeindeebene beschweren sich progressive Katholiken in protestantischen Pfarrämtern, dass ihnen die Protestanten „jetzt in den Rücken fallen“ und bei etwas mitmachen, was sie als Relikt eines überwundenen Glaubens am liebsten vergessen würden. Während sich das Bistum Trier als Veranstalter daher sehr darum bemüht, den ökumenischen Akzent der Wallfahrt zu betonen, wird dies in konservativen Kreisen wiederum gerade negativ bewertet. Was diesem Pol entgegenkommen sollte, ist die Tatsache, dass die „Heilig-Rock-Wallfahrt“ zwar offiziell als eine „Christuswallfahrt“ verstanden werden soll, dass aber trotzdem der „Heilige Rock“ auf jedem Flyer und jeder Broschüre prangt, mit denen für die Wallfahrt geworben wird. Die „Christuswallfahrt“ dürfte deshalb vor allem ökumenischen Insidern ein Begriff sein.

Aber die intendierte Neuausrichtung der Wallfahrt zeigt doch den guten Willen der Veranstalter zur Ökumene an. Das Bistum behauptet immer wieder, dass die Echtheit des Rockes gar nicht mehr behauptet wird, ja nicht einmal mehr zu Debatte steht. Hier kann natürlich auch der Verdacht aufkeimen, dass man am besten die Echtheit deshalb nicht mehr diskutiert, damit die Gläubigen von der Unechtheit des Rockes möglichst wenig belastet werden und sich von daher keine „unnötigen“ Gedanken darüber machen, warum sie dann überhaupt eine Wallfahrt zu einem historisch mehr als wahrscheinlichen Irrtum machen sollen. Immerhin wird durch das Einräumen der fehlenden Echtheitsnachweise denjenigen der Wind aus den Segeln genommen, die immer noch an Luthers alter und in ihrer derben Schlagkraft unüberholter Polemik von der „großen Bescheißerei“ zu Trier hängen. Dass allerdings die historischen Ehrbezeugungen aus der Zeit, als man den Heiligen Rock für echt hielt, ihn heute zur eine „Ikone“ Christi machen, zu der man pilgern soll, bleibt fraglich. So lässt die „Pilgerhymne“ von Stephan Wahl trefflich offen, welche Seite der Wallfahrt man betonen will: „Bedenke Christenheit, dein Jesus, Gottes Sohn, ließ dir zurück sein letztes Hemd wie ein Gebet.“ Während der Historiker schwere Bedenken gegen diese Strophe anmeldet, blickt der Befürworter der Wallfahrt auf den Vergleich mit dem Gebet.

Doch trübt diese Frage die Bemühungen der Veranstalter nicht, in der Moderne, die ja durch geistliche Suchbewegungen gekennzeichnet ist, die sich wiederum gerade an der hohen Beliebtheit des Pilgerns, dem „Beten mit den Füßen“ ablesen lässt, dem Menschen ein Erlebnis des Glaubens anzubieten. Da sich die ganze kirchliche Landschaft immer mehr auf den „Eventcharakter“ der Religion einlässt (z.B. Massentaufen in der Elbe), ist dies in diesem Fall nicht speziell zu beanstanden. Und dass Glauben auch erleben und nicht nur hören, lesen und verstehen will, ist dabei einer bestimmten, sehr strengen Spielart des Protestantismus in Erinnerung zu rufen, ohne die Hochschätzung des kognitiv vermittelten Wortes zu schmälern.

Von daher ist es verständlich und ein Zeichen guten Willens, dass die evangelische Kirche sich dem Angebot, einer „ökumenischen Wallfahrt“ nicht verschlossen hat, sondern dazu beiträgt, allen Christen hier eine Möglichkeit zu eröffnen, ihre eigenen Glaubenserfahrungen zu machen. Dass dies gerade eine im Rahmen der evangelischen Theologie nicht oder nur unter sehr großen Mühen zu rechtfertigende Wallfahrt darstellt, liegt augenscheinlich in der Faktizität der Wallfahrt und der Einladung des Bistums Trier zur Teilnahme daran begründet. Die Grenzen ökumenischer Beteiligung sind deshalb sicherlich zu diskutieren. 

Diskutiert wird im Rahmen der römisch-katholischen Kirche die Beteiligung der anderen Konfessionen auch. Durchaus nachvollziehbar ist dem konservativen Pol nicht verständlich, warum Bischof Ackermann für diese Wallfahrt keinen besonderen Ablass in Rom erbeten hat. Laut eigener Aussage hat der Bischof dies getan, „um die ökumenischen Beziehungen nicht zu konterkarieren“. Als Zeichen des guten Willens ist diese Unterlassung sicherlich hoch zu schätzen, doch trifft der Einwand völlig zu, dass diese Geste im Grunde sinnlos ist. Da z.B. die evangelische Kirche so oder so keinen Ablass kennt, dürften sich die Gäste der Wallfahrt nicht an einem für sie nicht existenten Ablass stören. Auf der anderen Seite wird aber den römisch-katholischen Gläubigen von den Gastgebern der Wallfahrt dieser, ihnen in der Regel bei einer solchen Veranstaltung mögliche Ablass vorenthalten.

Deshalb wird zu Recht gefragt, ob hier nicht von römisch-katholischer Seite zu sehr Rücksicht auf die anderen Konfessionen genommen wird. Allerdings kann sich auch an dieser Stelle ein gewisser Verdacht erheben, nämlich die Vermutung, dass gerade in Deutschland, wo den deutschen Katholiken der Ablass durch die Nähe zur evangelische Kirche und deren Theologie generell suspekt bis unbekannt geworden ist, das Bistum darauf verzichtet, seinen Gläubigen „Dinge“ zuzumuten, die sie nicht mehr gewöhnt sind und eventuell kritisch betrachten. So dürfte dann eigentlich auf keiner Seite Kritik aufkommen: weder die anderen Konfessionen stören sich so am Ablass noch die „normalen“ deutschen Katholiken. Es ist deshalb bezeichnend, dass die Kritik daran vom rechten Pol der römisch-katholischen Kirche kommt, der dem Bischof vorwirft, vor den „Protestunten“ (sic!) einzuknicken.

Protestanten pilgern nicht – oder doch?

Im Rahmen der evangelischen Kirche versucht die Rheinische Landeskirche ihre Beteiligung an der Wallfahrt dadurch plausibel zu machen, dass sie den Rock lediglich als „Christussymbol“ begreift. Auch der Begriff der Wallfahrt an sich wird nicht eigens diskutiert, sondern man verweist darauf, dass das Symbol ein schönes Bild für die wünschenswerte Einheit der Christen darstellen kann. Dies scheint allerdings nicht alle evangelische Christen zu überzeugen, sodass sich spiegelbildlich zur katholischen Situation auch in der evangelischen Kirche eine Diskussion entwickelt. Während einige evangelische Christen strikt formulieren: „Protestanten pilgern nicht zum Heiligen Rock“ (Kommentar im „Evangelischen Kirchenboten“ von Helmut Frank, Chefredakteur des Sonntagblatts für Bayern), plädieren andere, wie Präses Nikolaus Schneider, für die Teilnahme an der Wallfahrt. In diesem Rahmen brechen Fragen nach der Identität der evangelischen Kirche auf, die weit über diesen Anlass hinausreichen.

Während liberale Kräfte sich über die Annäherung der Konfessionen und die sich immer stärker entwickelnde und in Erscheinung tretende Pluralität innerhalb des Protestantismus freuen, befürchten nicht nur konservative Kräfte den Ausverkauf der protestantischen Identität. Diese legitime und im Grunde permanent zu führende Diskussion einer Kirche, die sich in ganz besonderer Weise das Programm der „ecclesia semper reformanda“ auf die Fahnen geschrieben hat, wird dann sofort durch polarisierende Sachfragen (etwa nach dem Zusammenleben von gleichgeschlechtlichen Paaren im Pfarrhaus) überlagert, die teilweise wenig mit Theologie, sondern eher mit sozialen und kulturellen Einstellungen zu tun haben und deshalb manchmal wie Diskussionen um Adiaphora anmuten (etwa um Albe und Stola). Es scheint deshalb angebracht, die Diskussion darauf zu richten, wie die Kirche in der Moderne die Relevanz Gottes und ihrer selbst dem Menschen zu Gehör bringen kann.

Dass sie dabei nicht den einfachen, gefälligen Weg gehen darf, darauf hat Annette Kurschus, künftig Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, aufmerksam gemacht, und betont, dass die Kirche „klar sagen [soll], wer wir sind und was unsere Kirche im Kern ausmacht“. Das legitime Ringen um die Grenzen dessen, „was uns ausmacht“, richtet den Blick zu Recht auf die Mission der Kirche, die nicht im Streit der Kleinigkeiten untergehen darf. Unter dieser Prämisse scheint es zwar in der Tat fragwürdig, wenn die Kirche sich an einer Wallfahrt beteiligt, aber ist es nicht letztlich wichtiger, auch in diesem Umfeld Menschen zu erreichen und ihren die Botschaft des Evangeliums zu vermitteln – auch wenn diese letztlich beinhaltet: du musst nicht an Wallfahrten teilnehmen – als dass sie hinter ihren Mauern bleibt und sich mit Aufrufen älterer Theologen befasst, die sich gezwungen sehen, den Bekenntnisnotstand auszurufen, weil wenige (!) homophile Menschen in einem Pfarrhaus zusammenleben dürfen? Ist nicht im Hinblick auf das missionarische Ziel und Zeugnis etwas mehr Leichtigkeit und Finesse im Umgang mit religiösem Brauchtum anzuraten?

Pilgern oder nicht pilgern – Christus verkündigen!

Es bleibt letztlich bei dem Balanceakt, möglichst viele Menschen zu erreichen, ohne dabei die eigene Identität aufzugeben, sodass am Ende zumindest die Einsicht gewonnen werden kann, dass sich alle Kirchen durch ihre inneren Pluralität nicht verunsichern lassen sollten. Sie ist gemäß der paulinischen Vorgabe aus 1.Kor 9,19-23 in erster Linie ein Gewinn, der zur Mission der Kirche beiträgt. Allerdings muss auch gerade die evangelische Kirche in der Lage sein, Grenzen zu setzen – und zwar schon früher als dann, wenn Wunderessenzen verkauft werden oder Yoga für Hunde angeboten wird.

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