Der Thüringer Friedenspfarrer Ernst Böhme (1862-1941)

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Dr. Karlheinz Lipp
Friedrich-Wilhelm-Straße 42, 12103 Berlin

Viele evangelische Pfarrer und Theologen unterstützten rückhaltlos die aggressive Macht- und Militärpolitik des Deutschen Kaiserreichs. Nur wenige übten Kritik an der weit verbreiteten Kriegstheologie – zu ihnen zählte Ernst Böhme. 

Von 1894 bis 1920 bezog Böhme konsequent Stellung gegen den Krieg und unterschied sich damit deutlich von vielen seiner Kollegen. Er organisierte den 1. Deutschen Friedenskongress in Jena 1908 und entwickelte wichtige friedenspädagogische Positionen. In den ersten Jahren nach 1918 zog Böhme eine kritische Bilanz einer militarisierten Kirche.

Werdegang

Ernst Böhme wurde am 5. März 1862 in Jena als Sohn eines Seifensieders geboren. Er entstammte also nicht, wie viele Geistliche, einer Pfarrer- oder Lehrerfamilie. Nach dem Schulbesuch in Gera studierte er in seiner Heimatstadt evangelische Theologie. Seine Verbundenheit zu der Fakultät zeigte sich in einer Publikation anlässlich der 350-Jahr-Feier im Jahre 1907.

Nach der Ordination in Weimar wirkte er 1888/89 als Diakonus in Lobeda, südlich von Jena. Von 1899 bis zum Ruhestand 1933 versah Böhme seine erste und einzige Pfarrstelle in Kunitz (mit der Zweigstelle Laasan), nördlich von Jena. Die Arbeit als Seelsorger in den beiden relativ kleinen Gemeinden ließ Böhme Zeit und Muße genug, um sich seinen Veröffentlichungen sowie der Musik zu widmen. Am 14. Dezember 1888 heiratete er in München Elsbeth Sohncke, Tochter eines Professors der Physik. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Der Friedenspfarrer starb am 1. März 1941 in Jena.

Der Friedenstheologe

Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried gründeten in Berlin 1892 die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG), die bis 1914 in ca. 100 Ortsgruppen ca. 10.000 Mitglieder umfasste. Den regionalen Schwerpunkt dieser Friedensorganisation bildete Württemberg. Dies lag besonders an dem sehr aktiven Stuttgarter Stadtpfarrer Otto Umfrid, der mehrere Jahre als Vizepräsident der DFG arbeitete und für den Friedensnobelpreis 1914 vorgeschlagen wurde.

Böhme äußerte sich schon sehr früh, nämlich 1894, wie auch Umfrid, zum Thema Christentum und Friede. Wie viele Friedensbewegte seiner Generation, so wurde auch Böhme durch Bertha von Suttners weltberühmten Roman Die Waffen nieder! (1889) entscheidend geprägt. Der Einfluss dieses Werkes für die Entwicklung des organisierten Pazifismus kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein Vergleich hinsichtlich der Auswirkungen von Belletristik auf gesellschaftliche Entwicklungen mit Harriet Beecher-Stowes berühmten Buch Onkel Toms Hütte, ein engagierter Roman zur Abschaffung der Sklaverei, ist mehr als angebracht.

Der Auftritt des Militärpfarrers und Konsistorialrats Mölser in Suttners Roman berührte Böhme besonders peinlich. Dieser Kirchenfunktionär, ein typischer Vertreter des weit verbreiteten militarisierten Christentums, vertritt die These, wonach der Krieg vom christlichen Standpunkt aus völlig gerechtfertigt sei.

Demgegenüber entwickelte Böhme seinen christlich-pazifistischen Ansatz, in dessen Zentrum Leben und Lehre Jesu steht. Das „Christentum Christi“, so Böhme, und der damit verbundene Weg des Friedens und der Gewaltfreiheit ist der entscheidende Ansatz des Friedenspfarrers. Friede sei „gottgewollt und menschenmöglich“.

Der Kunitzer Pfarrer argumentiert strikt christologisch und daher auf das Neue Testament bezogen. Ferner ist für ihn Adolf von Harnacks kirchenhistorisches Standardwerk Militia Christi. Die christliche Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten (1905) von großer Bedeutung. Von geringerer Relevanz in Böhmes Position ist die Hebräische Bibel, so bleibt die Friedensbotschaft der Propheten unberücksichtigt. Philosophisch bezog sich der Friedenspfarrer auf Immanuel Kants wegweisende Schrift Zum ewigen Frieden (1795).

Böhmes friedenspolitische Veröffentlichungen umspannten einen Zeitraum von insgesamt 26 Jahren, nämlich von 1894 bis 1920. Ein weiterer Ansatz, der sich in vielen seiner Publikationen durchgängig widerspiegelte, stellte die deutliche Kritik am Kriegskurs der Kirche dar. Für den Thüringer Friedenspfarrer müsste die Kirche in der Nachfolge Jesu eigentlich eine konsequente pazifistische Grundhaltung vertreten und entsprechend öffentlich propagieren.

Böhme vertrat einen liberalen Protestantismus. Er veröffentlichte in den Organen dieses evangelischen Spektrums sowie in pazifistischen Zeitschriften. Ferner konnte er mehrere eigenständige Schriften – auch jenseits der Friedensthematik – nachweisen. Als Mitglied der DFG und Vorsitzender der Ortsgruppe Jena vertrat Böhme typische Standpunkte der bürgerlich-liberalen Friedensbewegung. So befürwortete er ein internationales Schiedsgericht, forderte einen jährlichen Friedenssonntag und erhoffte sich eine Entmilitarisierung als Folge der beiden Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907. Einer konkreten Kritik dieser Konferenzen, die nur einen bedingten Erfolg bedeuteten, stellte er sich nicht. Es war ein großes Verdienst Böhmes und der Ortsgruppe Jena der DFG, dass der 1. Deutsche Friedenskongress, die jährliche Tagung der DFG, am 9./10. Mai 1908 in seiner Heimatstadt stattfinden konnte.

Im Jahre 1913 verfasste der Berliner Friedenspfarrer Walther Nithack-Stahn einen Friedensaufruf, Ernst Böhme zählte zu den  Erstunterzeichnern. Diese Friedensresolution An die Geistlichen und theologischen Hochschullehrer der evangelischen deutschen Landeskirchen kritisierte deutlich die wachsende Aufrüstung des Jahres 1913 sowie die daraus resultierende Kriegsgefahr in Europa. Die Rückmeldung dieses Friedensaufrufes wirft ein bezeichnendes Bild auf große Teile des deutschen Protestantismus. Bis Ende Juni 1913 schlossen sich insgesamt 395 Geistliche, darunter elf Professoren, dieser Resolution an. Allein aus dem Elsaß-Lothringen stammten 108 Unterzeichner, Preußen mit ca. 18.000 Pfarrern blieb absolut unterrepräsentiert. Böhme verteidigte in einem Artikel den Aufruf und Nithack-Stahn gegen Einwände militarisierter Pfarrer. 

Der Friedenspädagoge

Der Kunitzer Pfarrer beschäftigte sich nicht nur theologisch mit der Friedensfrage, sondern auch in pädagogischer Hinsicht. Gerade im Religionsunterricht soll, so Böhme, die Friedensbotschaft des Urchristentums vermittelt werden, bis hin zu der Erkenntnis, dass Christentum und Krieg sich einander ausschließen. Einer religiösen Legitimation des Patriotismus erteilte Böhme eine klare Absage.

Eng verknüpft mit dem Patriotismus wurde in der Kriegspädagogik des Kaiserreichs das männliche Heldentum im Krieg. Böhme plädierte dafür, dass Mut, Tapferkeit und Aufopferung Tugenden seien, die keineswegs auf das Militär und Krieg bezogen werden dürften, sondern beim Aufbau einer menschlichen Welt mit friedlichen Mitteln unbedingt notwendig seien: helfen statt schießen.

Sehr skeptisch beurteilte der Friedenspfarrer den Geschichtsunterricht, der einen festen Bestandteil einer militaristischen und monarchistischen Erziehung darstellte. Böhme forderte eine friedensethische Fundierung des Geschichtsunterrichts, um den Krieg zu ächten und bei Kindern und Jugendlichen keine Kriegsbegeisterung aufkommen zu lassen. Ferner sollten im Geschichtsunterricht die Geschichte der Friedensbewegung sowie die Friedensbemühungen früherer Jahrhunderte dargestellt werden.

Das Einüben und Singen von Kriegsliedern lehnte Böhme ab und empfahl Gedichte, Romane und Anthologien mit pazifistischen Inhalten. Davon erhoffte er sich, dass junge Menschen die vielfältige, internationale Dimension des Lebens erfahren. Analog zur Einführung eines Friedenssonntags im Kirchenjahr, befürwortete Böhme die jährliche Organisation eines Friedenstages an den Schulen.

Erster Weltkrieg

Anfang August 1914 organisierten der engagierte Berliner Friedenspfarrer und Herausgeber der Zeitschrift Die Eiche, Friedrich Siegmund-Schultze, und der englische Quäker und Abgeordnete des Unterhauses, Josef Allen Baker, in Konstanz eine internationale kirchliche Friedenskonferenz. Der beginnende Erste Weltkrieg überschattete diese Tagung, daher  nahmen nur drei deutsche Theologen teil – darunter Ernst Böhme. Die Abschlusserklärung der verkürzten Konstanzer Friedenstagung markierte den Beginn der Arbeit des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen.

Als Pfarrer von Kunitz führte Böhme die Ortschronik von 1899 bis 1933. Von 1916 bis 1919 redigierte Böhme das monatlich erschienene Gemeindeblatt Heimatglocken. Mit diesem vierseitigen Blatt wollte der Pfarrer den Kontakt zwischen seinen Gemeinden sowie den Soldaten dieser Gemeinden herstellen. Kriegspropaganda lag ihm fern, im Gegenteil, seine pazifistische Überzeugung schimmert durch.

Im September 1916 wurde die Zentralstelle Völkerrecht gegründet, die als  Nachfolgeorganisation des Bundes Neues Vaterland angesehen werden muss. Böhme unterschrieb den Gründungsaufruf sowie Flugblätter dieser pazifistischen Vereinigung.

Nach 1918

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges trat Böhme noch zweimal publizistisch hervor. In seiner Schrift Die Unterlassungssünde der Kirche vor dem Kriege übte er deutliche Kritik an den vielen Kriegstheologen, warf den Kirchen ein komplettes Versagen hinsichtlich des Friedensengagements vor und verwies auf die wenigen christlichen Friedensstimmen. So lobte er ausdrücklich die deutsch-britische Friedensarbeit der Kirchen seit 1908 und damit das Werk von Siegmund-Schultze.

Ernüchternd fiel sein Blick auf die theologischen Friedensappelle der Vorkriegszeit aus. So bedauerte Böhme u.a., dass die Idee eines Friedenssonntags – mit Ausnahme Elsaß-Lothringens 1913 – nicht umgesetzt werden konnte.

Im Jahre 1920 veröffentlichte Böhme, er war nun 58 Jahre alt, die Summe seiner friedenstheologischen Position unter dem Titel Die pazifistische Bewegung im Lichte des Evangeliums. Diese Abhandlung wurde vom Weimarer Landeskirchenrat preisgekrönt, jedoch distanzierte sich die Kirchenleitung im Vorwort bezeichnenderweise vom pazifistischen Standpunkt des Autors. 

In seiner letzten großen Publikation spannte Böhme einen großen Bogen vom Neuen Testament und dem Pazifismus der Kirchenväter über Erasmus von Rotterdam, die Wiedertäufer und Quäker, bis hin zu Kant und dem organisierten Pazifismus. Der Kunitzer Pfarrer wollte die ethischen Werte des Christentums – zu denen er die Gewaltfreiheit zählte – nicht auf die zwischenmenschliche Dimension beschränkt sehen, sondern forderte ihre Erweiterung auf das Verhältnis der Völker.

Seine Hoffnung, dass, angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, die Friedensbewegung eine Stärkung durch die Landeskirchen erfahren würde, blieb in der Weimarer Republik unerfüllt. Zwar wuchs die Zahl der christlichen Menschen, die sich pazifistisch engagierten an – dies gilt insbesondere für die religiös-sozialistische Bewegung – allerdings blieb die militaristische Grundhaltung bei großen Teilen des deutschen Protestantismus eine feste Konstante vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus und somit zum Zweiten Weltkrieg.

Ernst Böhme trat in der Zwischenkriegszeit kaum noch pazifistisch hervor und ging 1933 mit nun 71 Jahren in den Ruhestand. Nach Auskunft von Volkhard Böhme, einem Enkel des Friedenspfarrers, geschah diese Pensionierung jedoch nicht freiwillig. So habe sich Ernst Böhme geweigert, einem Wunsch der Jenaer Studentenschaft nachzukommen und eine Eiche nach Hitler zu weihen. Erst als Folge dieser Verweigerung sei der Kunitzer Pfarrer, so Volkhard Böhme, in den Ruhestand. Seit September 1933 war das Kollegium der Kirchenräte der Thüringer Landeskirche komplett mit Personen der nationalsozialistischen Deutschen Christen besetzt.

Wichtige pazifistische Veröffentlichungen Ernst Böhmes

– Der Krieg und die christliche Kirche. In: Die Waffen nieder, 1894, 282-285. 365-369

– Friedensbewegung und Lebenserziehung. Leipzig 1913

– Die Unterlassungssünde der Kirche vor dem Krieg. Ebingen o.J. (1920) 

– Die pazifistische Bewegung im Lichte des Evangeliums und der christlichen Ethik. In: Die Friedens-Warte, 1920, 112-119. 159-164 (als Sonderdruck erschienen unter dem gleichen Titel, Leipzig 1920).

Literatur

Lipp, Karlheinz: Der Thüringer Friedenspfarrer Ernst Böhme (1862-1941). Ein Lesebuch, Nordhausen 2010

Ders./Reinhold Lütgemeier-Davin/Holger Nehring (Hg.): Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892-1992. Ein Lesebuch, Essen 2010

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