Kaufhandlung und Gebung

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Dr. Dirk Kutting

Hermann-Ehlers-Straße 10a, 55112 Mainz

Anmerkungen zu Luthers Schrift „Von Kaufhandlung“ (1524)[1]

Einleitung

Egal, ob man Luthers Sozialethik für Kaufleute für nicht zeitgemäß, an der Sache vorbei, romantisch, unpraktikabel oder für undifferenziert hält: eins ist gewiss, sie ist wahr. Jedem halbwegs vernünftigem Menschen, der an Gott glaubt, leuchtet ein: Geben ist seliger denn nehmen! Oder wie Luther sagt: Jeder gebe umsonst! (vgl. 126)

Und aus seinen Tischreden wird überliefert: „Ein Christ muss diese drei Eigenschaften haben:er muss geben, leihen und leiden (LW, Aland, Bd. 9, Tischreden, Nr. 710).

Das gilt universal, auch wenn nicht nur jedem Unternehmer die Haare zu Berge stehen, wenn man ihm dies gegenüber allen Ernstes behauptet, sondern auch wenn wir eines jeden menschliches Leben anschauen, für das nehmen, benutzen und verbrauchen vorrangig ist. Das ist halt so, eine conditio humana, wie man so sagt, oder Ausdruck der Sünde, wie man ungern so sagt. All unsere Existenzvollzüge nichten, sie geben nicht. Ist dann die Frage nach einer Gerechtigkeit in wirtschaftlichen Vollzügen nicht die dümmste, die man stellen kann? Fließt der Fluss etwa den Berg herauf? Was bleibt den Theologen anderes, als entweder das große Minus aller menschlichen Vollzüge – die Sünde – anzurufen und darum besser in ethischen Fragen den Mund zu halten, oder aber zuzugeben, keine Einsicht in die konkreten wirtschaftlichen Zusammenhänge zu haben und eben darum zu schweigen? Tertium non daretur?

All unsere Lebensvollzüge nichten! Wann geben sie? Wann sind wir in der Lage zu geben? Dass muss eben doch gefragt werden. Wenn wir mit Luther „Von Kaufhandlung und Wucher“ sprechen, müssen wir nicht nur von Gütern und deren Handel sprechen, sondern auch von Gaben und deren Geben.

Kaufleute

Was macht Luther? Wie geht er vor? Wie immer, wenn sich Luther zu ethischen Fragen äußert, versucht er anhand von Fällen möglichst konkrete Ratschläge zu geben. Das geschieht im Rahmen mehrerer Grundentscheidungen, die an anderer Stelle näher expliziert wurden und quasi zum Gemeingut lutherischen Denkens gehören. Das führt zu dem Problem, dass Luther-Interpreten dieses Gemeingut oft abstrakt fassen und nicht mehr die zeitgeschichtlichen präzisen Anfragen vor Augen haben, auf die Luther in seinen ethischen Schriften antwortet. Das wird mir wahrscheinlich in meinem Vortrag nicht anders gehen. Wollten wir heute lutherisch sprechen, müssten wir einerseits im Kategorialen genau so präzise, mutig und flexibel sein wie Luther und uns nicht um den Zeitgeist scheren, dabei aber zugleich genauest auf die zeitlichen Bedingungen und deren Fragen Bezug nehmen. Nur unter diesen Voraussetzungen hätten wir etwas zu sagen. Die Frage, ob Luthers Bedingungen noch unsere sind, oder ob er uns heute noch etwas zu sagen habe, wäre dann sekundär, wir müssten aufgrund unseres Evangeliumsverständnisses unsere Antworten für die Fragen unserer Öffentlichkeit finden und geben.

Also noch mal: Wie geht Luther in Fragen des Kaufhandels vor?

Da Kaufen und Verkaufen etwas Notwendiges ist (vgl. 116), kann von einer pauschalen negativen Bewertung des Berufsstandes des Kaufmanns nicht die Rede sein, dennoch können „Kaufleute kaum ohne Sünde“ sein (115). Dass liegt an deren weitverbreiteter „Habsucht“ (115), deren Grund darin liegt, zu meinen: „Ich kann meine Ware so teuer hergeben als ich mag“ (117).

Luther will solche habsüchtigen Kaufleute nicht bekehren, sondern schreibt für den einzelnenKaufmann, der Christ sein will und von seinem Gewissen Gebrauch machen möchte. Das Handeln des einzelnen Kaufmanns tritt dann in den Blick, wenn die öffentliche Ordnung versagt, weil sie einem Regelungsbedarf nicht oder unzureichend nachkommt. Wenn es eine gute öffentliche Ordnung gäbe, bliebe immer noch das Handeln des einzelnen Kaufmanns im Blick, denn auch wenn sein Handeln entsprechend rechtlicher Normen rechtens wäre, müsste es im Sinne eines christlichen Selbstverständnisses noch nicht billig sein.

Luthers Einsicht in die tatsächliche Bedingung lautet: „Christen (sind) seltene Leute auf Erden… Darum ist in der Welt ein strenges und hartes Regiment nötig, das die Bösen zwingt und nötigt, dass sie nicht nehmen und rauben und zurückgeben, was sie borgen (obgleich ein Christ es nicht zurückfordern und zurückhoffen soll).“ (128)

Zwischen die Kategorien eines allgemein alle bindenden öffentlichen Gesetzes und einer an der christlichen Liebe orientierten evangelischen Haltung tritt bei Luther noch eine mittlere Kategorie, die des vernünftigen üblichen Maßes. Es greift zu kurz, Luther auf die zwei Reiche festzulegen und ihm zu unterstellen, er betone die Eigengesetzlichkeit politischer und ökonomischer Ordnung.

Preise

Die Anwendung der drei Kategorien ethischer Entscheidungshilfe verdeutlicht er an der Findung eines gerechten Preises für Handelsgüter.

1. Das beste und sicherste wäre es, wenn die Preise öffentlich festgelegt würden. Hierzu sollte die Obrigkeit verständige, redliche Leute einsetzen, Maß und Grenze der Preise festzulegen, damit Kaufleute einen angemessenen Unterhalt haben (119 f).

2. Gibt es keine solche Ordnung, dann ist der zweitbeste Rat: „man lasse die Ware das gelten, wie sie auf dem allgemeinen Markt gegeben und genommen, bzw. wie es landesüblich ist, sie zu geben und zu nehmen“ (120).

3. Wenn es weder eine gesetzlich bindende Regelung, noch eine allgemein in Schwangebefindliche Norm für die Preisbildung gibt, muss der Kaufmann selbst einen Preis festsetzen. Er darf dabei seinen angemessenen Unterhalt suchen und Kosten, Mühe, Arbeit und Risiko berechnen (120). Als Ursprungsmaß soll der Verdienst eines gewöhnlichen Tagelöhners zugrunde gelegt werden. Dabei gilt, dass der Kaufmann seine Arbeit und seinen Zeitaufwand derart in die Preise einrechnen kann, dass er entsprechend seiner Mühe und Gefahr einen größeren und höheren Lohn erzielen darf (122). Evangelisch ist es, danach zu trachten, das rechte Maß zu treffen. Unwissentlich und ungewollt ein wenig zu viel nehmen, ist insofern tolerierbar, als dass das Leben nicht ohne Sünde ist. Wenn der Kaufmann nach bestem Wissen handelt, soll er sein Gewissen nicht beschweren. Dabei geht es natürlich nicht um eine grundsätzliche Freigabe und Willkür, sondern um eine Entlastung eines bewusst christlichen Kaufmanns und gleichzeitig auch um die Sicherstellung seiner Handlungsfähigkeit, die verloren ginge, wollte er absolut präzise seine Preise bestimmen.

Was ist an dieser Haltung christlich? Christlich ist es erstens, sich den gesetzlichen Normen zu unterstellen, ja, sie im Sinne einer Allgemeinwohlorientierung zu fordern und zu fördern. Christlich ist es zweitens, sich an das Übliche zu halten, d.h. die Gewissen anderer nicht durch allzu große Ferne von gegebenen Bedingungen zu beschweren. Nichts liegt Luther ferner als eine Diktatur des Evangeliums aufzurichten, daher zielen seine evangelischen Ratschläge auf den Einzelnen, der christlich sein und werden will. Christlich ist es also drittens, den Einzelnen bei seinem Gewissen zu packen und ihn in Freiheit darin zu unterrichten, was evangeliumsgemäß ist.

Luther formuliert also keine allgemeine Wirtschaftsethik o. ä., sondern beurteilt Fälle aufgrund seines Evangeliumsverständnisses für selbständig entscheidungsfähige Personen, die ihr Geschäft als Christen tätigen wollen.

„Jeder sehe auf sich“ (143). Das bedeutet gerade nicht dem Eigennutz das Wort zu reden, sondern der undelegierbaren Verantwortung des Einzelnen. Der Raum, den wir für eine unbeschwerte Annahme dieser Verantwortung brauchen, ist uns im Vaterunser gegeben, in dem wir unsere unvermeidlichen Sünden „vor Gott bringen und ihm anbefehlen“ (121).

Missstände

Luther kritisiert im Folgenden detailgenau Termingeschäfte (132), Kartell- (135f) und Monopolbildung (132f), Preisabsprachen (136), Finanzjonglierungen (136f), Leihkünste (137ff) und Verkaufstricks (139f) sowie die Gründung von Handelsgesellschaften (141ff). Die von Luther diagnostizierten nachteiligen Folgen für das Gemeinwohl bringt ihn zu dem Urteil, „dass die Raubritter geringere Räuber als die Kaufleute“ sind, „berauben doch die Kaufleute täglich die ganze Welt, während ein Raubritter ein- oder zweimal im Jahr einen oder zwei beraubt“ (141).

Kurz möchte ich Luthers Beurteilung von Bürgschaften und den Umgang mit Güternbetrachten, bevor ich eine phänomenologische Betrachtung von Gabe und Gebunganschließe. Die Intuition, die mich dabei leitet, ist die Vermutung, dass mit der evangeliumsgemäßen Ablehnung von all zu abstrakten Kaufhandlungen eine ursprüngliche Einsicht in ein nicht von persönlichen Beziehungen zu lösendes Verständnis des Gebens und Nehmens verbunden ist, das auch kulturgeschichtlich verankert ist.

Bürgen

Luther hält es für einen Fehler für andere zu bürgen. Das überrascht, weil das Bürgen als Werk der Liebe erscheint. Jedoch stürzt bürgen „allgemein viele Leute in Verderben und bringt sie in entsetzlichen Schaden“ (122). Das wäre aber an sich noch kein Grund, Bürgschaften negativ zu bewerten. Warum sollte ich nicht jemandem mit einer Bürgschaft helfen und dabei für mich Schaden in Kauf nehmen? Antwort Luthers: „Bürge werden ist ein Werk, das einem Menschen zu hoch ist und nicht gebührt: es greift mit Vermessenheit in Gottes Werk ein“ (123).

Gründe:

1. Man soll keinem anderen Menschen vertrauen, „sondern allein auf Gott“ (123).

2. Ein Bürge vertraut „auf sich selbst und macht sich zum Gott“ (123).

3. Ein Bürge versucht „Macht oder Recht in bezug auf das Kommende“ zu haben (123). Das bedeutet, dass er über die Zukunft verfügen will und sich nicht am Gegenwärtigen genügen lässt (124f).

Güter

Nach Luthers grundsätzlicher Verurteilung des Bürgens könnte man zum dem Schluss kommen, es gibt keine Chance evangeliumsgemäß Geschäfte abzuwickeln. Um dies nicht gänzlich auszuschließen, nennt Luther vier Arten christlich mit anderen zu handeln:

1. „Man lasse uns unser Gut nehmen und rauben“ (126). Dieser Ausdruck absoluten Vertrauens in Gott gilt weder unter Kaufleuten noch als allgemeingültige christliche Lehre, dennoch unterstellt Luther, dass unzählige Missbräuche in allen Handelsgeschäften aus Angst unterblieben, wenn es nach dieser Regel zuginge.

2. „Jedermann umsonst geben, der es bedarf“ (126). Auch wenn diese Regel in Schwangewäre, gäbe es weniger Kaufleute und Handelsgeschäfte, weil nicht auf eigenen Besitz oder Vorratshaltung zu sehen wäre, sondern wiederum allein aufs Gottvertrauen.

3. „Ihr sollt frei hinleihen und es darauf ankommen lassen, ob´s euch wieder zurückgeben wird oder nicht; wird´s wieder, so nehme man´s an, wird´s nicht wieder, so sei es verschenkt“ (127). Im Handel käme es also darauf an „es frei auf Verlust ankommen zu lassen“ (ebd.). Jedoch ist auch ein Christ nicht verpflichtet, mehr zu leihen, als was ihm übrig ist und er entbehren kann (vgl. 129).

4. „Kaufen und Verkaufen und es mit Bargeld oder Ware mit Ware bezahlen“ (129).

Insgesamt macht Luther erneut darauf aufmerksam, dass die Welt nicht mit dem Evangelium zu regieren sei, sondern mit dem Gesetz, ansonsten würde „der Verkehr und die Gemeinschaft unter den Leuten … zunichte werden“ (128). Die reale Utopie einer christlichen Gemeinschaft ist zwar mit Händen zu greifen, keiner würde von des anderen Habe zehren, keiner Müßiggang treiben, keiner verließe sich auf des anderen Gut und Arbeit, mit einem Wort, es ging brüderlich miteinander zu (128). Aber in einer Gesellschaft ohne Christen soll die Obrigkeit säumige Schuldner zwingen zu zahlen. Sorgt die Obrigkeit jedoch nicht für Recht und Ordnung, wäre der Verlust ohne Anzeige zu erleiden (vgl. 128f).

Am klarsten und deutlichsten ist Luther in seiner Orientierung am Hausstand, wie er ja bekanntermaßen auch das vierte Gebot besonders schätzte. Man hat das zu verschaffen, was das Haus nötig hat, man darf seiner Familie und dem ganzen Hausstand nichts entziehen. D.h. wenn Luthers evangelische Ratschläge utopisch und naiv erscheinen, ist hier doch ein hartes Kriterium genannt. Die Ökonomie ist vernünftigerweise am eigenen Haus und dessen Bedarf auszurichten. Das kann man natürlich als privatistisch, kleinbürgerlich und egoistisch geißeln, aber Luther will vielmehr Mut machen, es als christlicher Kaufmann fröhlich mit seinen unzuverlässigen Nächsten zu wagen, quasi ohne Netz und doppelten Boden.

Er sieht die schlimmsten Gefahren gebannt, wenn das freie evangelische Leihen üblich wäre und Kaufgeschäfte nur noch in bar und mit vorhandener Ware vonstatten gingen. Luthers Ökonomie des Hausstandes, die sich darum bemüht, das Lebensnotwendige für sein Haus zu erwerben, ohne die Not des Nächsten aus den Augen zu verlieren, ist durch und durch persönlich gedacht. Abstraktes Wirtschaften, bei dem der, der Ware feil hat, und der, der Ware braucht, anonym untergeht und vergessen wird, soll es für Luther nicht geben. Geben und Nehmen sind Ausdruck geschöpflicher Abhängigkeit und Ausdruck gemeinsamer Not. Kauf und Verkauf lassen sich nur schwer unpersönlich betrachten. Je abstrakter Kaufhandlungen vonstatten gehen, desto deutlicher verweisen sie auf den Sachverhalt von Schuld und Vergebung. Um das zu verdeutlichen, werden Kauf und Verkaufphänomenologisch reduziert als Geben und Nehmen betrachtet.

Geben als Tauschen (1. Epoché)

Ich möchte im folgenden versuchen, Luthers Sichtweise, die, wenn man so will, als „antiakkumulativ“ bezeichnet werden kann und aufgrund derer eine wirtschaftliche Dynamik und die Produktion unseres Reichtums unvorstellbar wäre, auf den Austausch in archaischen Gesellschaften zu beziehen. Dazu verweise ich auf eine Studie von Marcel Mauss aus dem Jahr 1950[2] „Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“.

Meine These ist, dass Luther, wenn er auf den Handel der privaten Häuser verweist, einen Austausch von Waren von Person zu Person vor Augen hat und der Nächste also immer im Blick bleibt. Abstrakte Verhältnisse, unter denen unsere heutige Zeit leidet, sollen vermieden werden.

Beginnen möchte ich mit einem kleinen Beispiel. Jasmin arbeitet als Fadenabschneiderin in einer chinesischen Jeansfabrik. Sie ist das zweite Kind, ihre Eltern können ihr kein Studium finanzieren, also muss sie mit siebzehn in die Fabrik, zwei Tagesreisen von zu Hause entfernt. Sie arbeitet 360 Tage im Jahr 14 Stunden am Tag und bekommt am Monatsende umgerechnet 50 Dollar bezahlt. Jasmin schreibt Zettel, die sie in die Hosentaschen mancher Jeans steckt. „Vor vier Monaten habe ich mein Zuhause verlassen, jetzt lebe ich in einer Fabrik. Meine Freunde und ich haben diese Jeans für dich hergestellt. Ich hoffe, du magst die Hose.“[3]

Was führt sie dazu? Will sie aus der Abstraktheit und Entfremdung, die ihr ihre Tätigkeit aufzwingt, heraustreten? Will sie zeigen, dass hinter dem fertigen Produkt, das wir für wenig Geld kaufen können, wirkliche Menschen stehen? Möchte sie, dass wir merken, dass in dem Produkt etwas von ihr persönlich vorhanden ist? Möchte sie aus einem leblosen Gegenstand eine Gabe machen? Ich glaube, ja, sie macht aus einem Industrieprodukt ein Gut und eine Gabe!

Marcel Maus fragt: „Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, dass in den rückständigen und archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk zwangsläufig erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?“ (18)

Seine These lautet: Diese Moral und diese Ökonomie wirken noch immer unterschwellig in unseren Gesellschaften. „In den Wirtschafts- und Rechtsordnungen, die den unseren vorausgegangen sind, begegnet man fast niemals dem einfachen Austausch von Gütern, Reichtümern und Produkten im Rahmen eines zwischen Individuen abgeschlossenen Handels. Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten (…) Zum anderen ist das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche oder unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte, bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist“ (ebd. 21f).

Es gibt nach Mauss drei Verpflichtungen: Geben, nehmen, erwidern (ebd. 91).

Wir erinnern uns an Luthers radikalere Bestimmung christlichen Handelns: Geben, leihen und leiden.

Eigentum ist eine magische Größe, Gaben haben einen Geist, der mit dem Gegenstand mitgegeben wird. „Das, was in dem empfangenen oder ausgetauschten Geschenk verpflichtet, kommt daher, dass die empfangene Sache nicht leblos ist. Selbst wenn der Geber sie abgegeben hat, ist sie noch ein Stück von ihm“ (ebd. 33). Die durch Sachen geschaffenen Bindungen sind immer zugleich Seelenbindungen. Geben heißt immer, etwas von sich geben.

Umgekehrt, „etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen annehmen, von seiner Seele (…)“ (ebd. 35). Es entstehen gegenseitige Verpflichtungen.

Neben der Pflicht des Gebens gibt es auch immer eine Pflicht des Nehmens und damit auch der Eintritt in eine persönliche Abhängigkeit; es gibt z.B. keine Freiheit, Gastfreundschaft nicht anzunehmen. Fremdes Eigentum zu nehmen, bedeutet ein geistiges Band knüpfen. Der archaische Güterverkehr betrifft aber nicht nur den Austausch im Diesseits, sondern war immer bezogen auf einen, wenn man so will ursprünglichen Schöpfungsglauben.

Marcel Mauss schreibt: „Eine der ersten Gruppen von Wesen, mit denen die Menschen Verträge schließen mussten und die der Definition nach dazu da waren, mit ihnen Verträge zu schließen, waren die Geister der Toten und die Götter. Diese sind in der Tat die wahren Eigentümer der Dinge und Güter der Welt. Mit ihnen war der Austausch am notwendigsten und der Nichtaustausch am gefährlichsten. Andererseits war mit ihnen auch am leichtesten und sichersten“ (43).

Mit Marcel Mauss kann man also sagen:

– Dinge versammeln in sich Eigenschaften des Gebers.

– Dinge geben vom Geist des Gebers.

– Dinge verbinden Geber und Nehmer.

– Dinge haben eine innewohnende Kraft, die zur Zirkulation zwingt (vgl. 103).

– Dinge kehren zurück zum Geber.

– Dinge besitzen Zeugungskraft, sie sind Zeichen und Pfand des Reichtums und des Segens Gottes (vgl. 110f).

Dementsprechend gilt für eine Gabe:

– Eine Gabe ist freiwillig.

– Eine Gabe ist großzügig.

– Eine Gabe muss angenommen werden.

– Eine Gabe muss erwidert werden.

– Die gegebene Sache ist von der Individualität des Gebers erfüllt.

Folgerungen

Mit Luthers an den Häusern orientierte Ökonomie lässt sich unser heutiges Wirtschaften nicht verstehen, aber unser heutiges Wirtschaften ist bei aller Abstraktheit immer noch im Kontext eines ursprünglichen Gebens und Nehmens – wie soeben beschrieben – zu verstehen. Mehr noch: Unser heutiges Wirtschaften ist nur möglich, weil es mit aller Macht persönliche Beziehungen entfernt. Nur weil ich z.B. nicht weiß, wie viele Jasmins an der Befriedigung meines täglichen Konsums beteiligt sind, kann ich gewissenlos konsumieren. Wir müssen uns entscheiden, ob wir in der Abstraktion unsere Schuld verschleiern wollen oder anerkennen, dass nur in der Vergebung der Blick auf unser schuldhaftes Handeln frei wird.

Marcel Mauss kommt zu dem Schluss: „Man kann sagen, dass heute ein großer Teil des industriellen und kommerziellen Rechts mit der Moral in Konflikt steht“ (ebd. 159).

Da wir durch Zahlung von Lohn nicht aller Schuld dem Arbeiter gegenüber enthoben sind, sind Sozialgesetzgebung und Altersversicherung für Mauss Hinweise einer Rückkehr zum Recht, nämlich einer Gruppenmoral (161).

Daneben sieht er eine Notwendigkeit der Rückkehr zu alten Bräuchen edler Verschwendung: „Es ist wichtig, dass (…) die Reichen (freiwillig oder durch Zwang) wieder dahin kommen, sich gleichsam als Schatzmeister ihrer Mitbürger zu betrachten.“ (ebd. 162)

Archaische Handlungsmotive seien demnach: (ebd. 163)

– Freude am öffentlichen Geben

– Gefallen am ästhetischen Luxus

– Vergnügen an der Gastfreundschaft

– Feiern privater oder öffentlicher Feste

– Gegenseitige Fürsorge

– Sozialversicherung

– Ehre, Selbstlosigkeit, korporative Solidarität

Auch wenn diese Handlungsmotive gänzlich unlutherisch klingen, so kommen sie dennoch mit Luthers freiem Umgang mit den Dingen überein. Folgendes Zitat von Mauss macht eine große Nähe zu Luthers Vorstellung vom Handel deutlich: „So gibt es in der menschlichen Entwicklung nur eine Weisheit, und wir täten gut daran, als Prinzip unseres Lebens das anzunehmen, was schon immer ein Handlungsprinzip war und immer sein wird: wir sollten aus uns herausgehen, Gaben geben, freiwillig und obligatorisch, denn darin liegt kein Risiko“ (ebd. 165).

Ein Maori-Sprichwort unterstreicht das abschließend: „Gib, soviel du empfängst, und alles wird zum besten stehen“ (ebd.)

Gabe als Gebung (2. Epoché)

Wir sahen, dass es nach Mauss in archaischen Gesellschaften drei Verpflichtungen bestehen: Geben, nehmen, erwidern (ebd. 91). Luthers radikalere Bestimmung christlichen Handelns sah: Geben, leihen und leiden vor. Um von Mauss zu Luther zu kommen, muss eine zweite phänomenologische Reduktion vorgenommen werden, weil Luther ein einseitiges Verhältnis anspricht. Nämlich ein Geben als reine Gabe, ein Geben, das nichts zurückfordert.

Ich hole mir wiederum bei zwei phänomenologischen Autoren Hilfe, um das zu verdeutlichen, bei Jacques Derrida und Jean-Luc Marion.

Derrida sagt: „Damit es Gabe gibt ist es nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt.“[4] „Damit es Gabe gibt, darf sie dem Gabenempfänger oder dem Geber nicht bewusst sein…“ (ebd. 171f)

Die Gabe als Gabe muss jeweils notwendig in Vergessen geraten. Gabe kann es nur geben, wenn Gabenempfänger und Geber gleichermaßen verschwinden. „Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber“ (ebd.). Dies wird besonders deutlich am Verhältnis von Eltern und Kindern. Ist es nicht gerade die Aufgabe der Eltern in ihrer gebenden Funktion aufzugehen? Der einzige Dank, den sie erwarten dürften, wäre der, dass ihre Kinder wiederum zu Gebern des Lebens werden.

Jean-Luc Marion sagt, dass „die Gabe in dem Maße sich gibt, in dem sie darauf verzichtet, zu sein…“ (ebd.). Er möchte eine Reduktion der Gabe auf die Gebung in den Blick nehmen, den Gabenvorgang und nicht das Gabenobjekt betrachten.

Eine dreifache Epoché muss demnach vollzogen werden, nämlich eine Einklammerung von (a) Gabenempfänger, (b) Geber und (c) Gabe selbst.

Das lässt sich an der Tätigkeit des Lehrers verdeutlichen:

(a) Die Gabenempfänger (die Schüler) sind zumeist undankbar und nehmen nicht wahr, was sie empfangen.

(b) Der Geber (der Lehrer) weiß nie, ob er wirklich Gaben zu geben hat.

(c) Und die Gaben (die Unterrichtsinhalte) sind letztlich nie genau verifizierbar, weil sie immer individuelle Aneignung und persönliche Umformung benötigen. Inhalte können nie eingetrichtert werden.

Welchen Sinn hat es also, in ein Geben zu kommen, das nichts zurückfordert? Welchen Sinn hat es, frei zu geben, zu leihen und zu leiden?

Nach Marion geht es darum, ob das Selbst dazu gelangt, eine Ausnahme von dem Grundsatz zu machen, dem zufolge „ich niemand etwas schulde“ (173). Das heißt doch letztlich immer von Gebungen meiner Nächsten leben und aus der großen Gebung Gottes. Wir sind heilsam gefangen in Schuld aus der einzig Vergebung befreien kann. „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Schlechthin abhängig, sind und bleiben wir immer Empfangende und werden so Gott will frei, Gebende zu werden.

[1] Vortrag bei der Fortbildungstagung „Gerechtigkeit, Wirtschaft, Solidarität“ für Pfarrerinnen und Pfarrer am Institut für Ethik, Universität Tübingen, 26.-29.09.2010, Leitung: Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt. Als Quellenschrift wird im Folgenden aus „Von Kaufhandlung und Wucher; 1520/1524“ in: Calwer Luther-Ausgabe (Hg. W. Metzger), Band 4, Von weltlicher Obrigkeit, Stuttgart 1996, 115-150, zitiert. Die Seitenangaben finden sich im Text.

[2] Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1990. Ich zitiere wieder die Seitenzahlen fortlaufend im Text.

[3] China Blue, Dokumentarfilm von Micha X. Peled, USA 2005.

[4] Zitiert nach: H.-D. Gondek und L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2011, hier: 171. Auch hier sind die folgenden Seitenzahlen im Text jeweils aus „Gondek/Tengelyi“.

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